Lesbische Theologin zum Kirchentag: „Ich bin eine Grenzgängerin“

Kerstin Söderblom ist Unipfarrerin und in der evangelischen Kirche ein Star. Ein Kirchtags-Gespräch über Ausgrenzung, Courage und Margot Käßmann.

Kerstin Söderblom steht vor gestapelten Stühlen in der Kirche der Evangelischen Studierendengemeinde Mainz

Eine der innovativsten Theologinnen ihrer Generation: Kerstin Söderblom in der Unikirche Mainz Foto: Thomas Pirot

Eine Fülle von theologischen Expertisen hat Kerstin Söderblom verfasst, jüngst das Buch „Queersensible Seelsorge“. Das ist keine Sammlung von freundlichen Traktaten oder erbaulichen Lebens­tipps – vielmehr eine versierte Einführung in queere Fragestellungen auch für jene, denen diese Bewusstseins­perspektive nicht vertraut ist. Das Gespräch mit Kerstin Söderblom, die eben ihren 60. Geburtstag feierte, findet unmittelbar vor dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg statt – per Zoom, im Vertrauen darauf, einander auch in digitalen Zeiten als sprechnah zu empfinden.

wochentaz: Frau Söderblom, Sie sind eine der einflussreichsten Theologinnen in der evangelischen Kirche, nicht nur in Deutschland. Ihre Vorschläge zu queeren Lesarten des Christlichen waren schon bei Kirchentagen zu hören, mit großem Applaus quittiert.

Kerstin Söderblom: Das ist ein großes Kompliment, danke, aber ich bin mir nicht sicher, ob das viele so sagen würden.

Die Frau1963 in Darmstadt geboren, Eltern und Sprachklang stammen aus Hamburg. Vikariat in New York, Ordination in der Landeskirche Hessen und Nassau. Lebt mit ihrer Frau als Unipfarrerin in Mainz.

Das WerkDissertation über „Die Bedeutung von christlicher Religion in den Lebensgeschichten lesbischer Frauen“ (1996). Mitwirkung bei den Initiativen „Lesben und Kirche“, „Homosexuelle und Kirche“. Zahlreiche Bücher, zuletzt: „Queersensible Seelsorge“ (Vandenhoeck & Ruprecht).

Sei’s drum: Ich stelle ja nur Ihre Resonanzfähigkeit fest.

Ich glaube tatsächlich, dass ich mir im Hinblick auf Minderheiten mit sensibler Theologie einen Namen gemacht habe. Das war nicht immer so einfach.

Sie sagen es so zurückhaltend und vorsichtig, als wären es auch in den evangelischen Kirchen nicht einst schlimme Zeiten gewesen.

Es ist tatsächlich ja viel Gutes passiert, in unseren Kirchen. Gleichgeschlechtlichen Paaren kann Segen gespendet werden, sie können sich in den meisten Landeskirchen trauen lassen, trans- und nonbinäre Menschen können sichtbar sein, Regenbogenfamilien werden anerkannt.

Ließe sich sagen, dass sich inzwischen Homo- und Transphobe rechtfertigen müssen, nicht wie einst die als Minderheiten Ausgegrenzten?

Diese Einschätzung teile ich, ja. Inzwischen ist es eine Selbstverständlichkeit, im Leben wie auch theologisch, dass jeder Mensch die gleiche Menschenwürde hat. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild und Gottes geliebtes Kind, unabhängig von Hautfarbe, Geschlechts­identität und sexueller Orientierung. Wer das nicht teilt, muss sich erklären – und das ist auch gut so.

Sie sind ja nicht als Alien in den theologischen Beruf geworfen worden – Sie kennen noch die dunklen Seiten Ihrer Kirche, etwa beim Fall Klaus Brinker, ein Pfarrer der hannoverschen Landeskirche, der wegen seines Schwulseins Anfang der 1980er Jahre aus dem Dienst entlassen wurde.

Das war ziemlich krass. Und ich, die ich aufgrund meiner damaligen Partnerin mit der hannoverschen Landeskirche als junge Frau viel zu tun hatte, war über diese Ungerechtigkeit empört. Es war ein Akt des Machtmissbrauchs.

Und Sie – die als lesbische Frau Theologie studierte?

Tja, ich fragte mich natürlich: Wie würde es mal mir ergehen? Wieso soll ich überhaupt Theologie studieren, wenn ich als Person überhaupt nicht erwünscht bin? Lesben und Schwule galten als Menschen zweiter Klasse – und dem wollte ich mich nicht aussetzen.

Und?

Ich entschied mich, die Verhältnisse für mich offensiv zu klären, bat schon als Studentin bei meinem Personalchef in der Landeskirche um einen Termin. So sagte ich ihm: Ist für mich überhaupt Platz? Er war ein wenig überrumpelt und verdattert, hat, glaube ich mich zu erinnern, etwas schmunzeln müssen und sagte dann Schlaues: Er könne mir keine Garantie aussprechen, die Situation mit homosexuellen Pfarrerinnen* sei kontrovers. Aber, das war die Pointe, er meinte, ich möge zu Ende studieren, und er garantiere mir, dass in unserer, der hessen-nassauischen Kirche ausgebildete Theologinnen* nach ihrer Qualifikation eingestellt würden, nicht aufgrund ihrer Lebensform.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Sie waren sehr mutig, nicht wahr?

Couragiert ja, das glaube ich schon, aber es war auch eine Fügung, ein glücklicher Umstand. Ich fühlte mich nie allein. Ich hätte diesen Mut nie aufgebracht, wenn ich, in Hamburg Theologie studierend, nicht erstens eine Lesbengruppe vom AStA gefunden hätte und es auch am Fachbereich eine feministische Frauengruppe gegeben hätte. Das war wahnsinnig empowernd. Damals holten wir unsere Inspirationen ja nicht aus der deutschen Literatur, da gab es so gut wie nichts, sondern aus den USA, befreiungstheologische Bücher, queere Schriften. Es war mühselig ohne Internet, aber es lohnte sich.

Sie holten sich quasi Undergroundschriften …

… ja, so lässt es sich sagen: Mit Perspektiven, die hier in Deutschland nicht gedacht wurden. Ich las, wir lasen wie Verrückte – und es hat Spaß gemacht. Spaß muss es bereiten, denn sonst resigniert man irgendwann vor Erschöpfung. Aber wir arbeiteten, und es war ein Quell der Erfrischung. Wir lernten in reading groups nicht nur aus queeren Beiträgen, sondern aus allem, was Marginalisierte äußerten, ob sie nun Black waren oder aus den Favelas in Lateinamerika berichteten. So fühlte ich erstmals wirklich, worin die befreiende Botschaft der Bibel liegen kann. So zogen wir, Jüngerinnen des Volkes Israel …

Das klingt wie der Exodus, der Auszug des Volkes Israel aus ägyptischer Tyrannei!

Und ein solcher war es auch, ein befreiender Auszug aus der Unterdrückung, so konnten wir lesen, so lasen wir uns selbst.

Und Ihre Familie – fanden Sie in ihr Unterstützung für Ihren Weg?

Ja. Ich habe drei Geschwister, mit denen gab es keine Probleme. Ein Bruder sagte mir, als ich mich ihm gegenüber als Lesbe outete, na, das hätte ich dir gleich sagen können, das wundert mich jetzt nicht. Meine Mutter hat mich von Anfang an unterstützt, hat Bücher gelesen, wollte immer wissen, was ich gerade so mache. Sie hat sich auf alles eingelassen, wollte es wissen. Und ging auch mit in die legendäre „Frauenkneipe“ …

an der Hamburger Stresemannstraße …

… ja, da ging sie mal mit, das war jahrelang mein Zuhause. Und mein Vater? Tja, der brauchte länger. Meine Eltern zogen ins Hessische, weil mein Vater dort arbeitete, und eines Tages, als es in deren Gemeinde darum ging, ob lesbische und schwule Menschen gesegnet werden sollen, hat sich die Gemeinde dagegen entschieden. Mein Vater, mit dem ich viele Jahre nicht über mich sprechen konnte, ging in seine Gemeinde und erklärte: Meine Tochter ist Pfarrerin und lesbisch, und ich protestiere hiermit gegen diese Diskriminierung. Das war sein Coming-out und für Vater und Tochter unser Durchbruch.

Das heißt?

Ich habe aus meiner Familie ein Urvertrauen mitgenommen. Ich wusste, wenn es hart auf hart kommt, holen mich meine Eltern aus der Scheiße. So bin ich zu der Person geworden, die ich bin, nun 60 Jahre alt und immer noch am Werden. Also eine Frau, die sich was traut, im Wissen, dass es Menschen gibt und einen Glauben in mir, die mich tragen, der mich trägt.

Was wünschen Sie sich?

Es gibt tatsächlich noch etwas, das mir sehr am Herzen liegt. Ich finde es nötig, dass die evangelischen Landeskirchen, jeweils für sich, ein Schuldbekenntnis ablegen.

In welchem Sinne?

Dass sie öffentlich sagen, nicht nur per Pressemitteilung, dass sie Verantwortung übernehmen für das Leid, für die Diskriminierung und das Unrecht, was sie als Institutionen den Unterdrückten angetan haben. Queeren, also Lesben, Schwule, Trans*, Inter* Personen.

Und Ihre Landeskirche in Hessen-Nassau?

Ich habe es selbst erlebt, als die Synode …

das Kirchenparlament …

… ein solches Schuldbekenntnis im April dieses Jahr ablegte. Als der Beschluss zu einem unglaublich hohen Prozentsatz angenommen wurde, habe ich sofort angefangen zu weinen, ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich ahnte selbst vorher nicht, wie sehr mich das im Innersten berühren würde.

Als Betroffene wissen wir ja, wie robust wir zu sein haben, um Missachtungen auszuhalten, oder?

Das wissen wir, ja, und das macht man sich nicht klar, wie tief der jahrzehntelang weggeschluckte Kummer in einem steckt. In Momenten größter Berührung, wie bei mir auf dieser Landessynode, muss ich immer wieder an meine seelsorgerliche Arbeit in Mainz denken, und daran, dass es nach wie vor extrem viele junge Menschen gibt, die pure Angst haben, sich als queere Menschen anzunehmen, die Furcht vor so vielem haben, nur, weil sie schwul oder lesbisch oder trans sind oder glauben, irgendwie anders als die anderen zu sein.

Riten, wie sie in der Kirche seit eh und je etabliert und wirksam gemacht werden, sind wichtig, auch für ein Schuldbekenntnis, oder?

Deshalb plädiere ich mit den Schuldbekenntnissen auch dafür, dass sie in einem würdigen Rahmen formuliert werden, nicht so nebenbei, nicht informell. Und dass daraus Konsequenzen gezogen werden.

Ein Schuldbekenntnis gab Bundespräsent Frank-Walter Steinmeier vor ziemlich genau fünf Jahren am Homomahnmal in Berlin nicht ab – aber er entschuldigte sich für die Opfer des Paragrafen 175, die bis 1969 noch unter der nazientgrenzten Strafbestimmung verfolgt werden konnten. Mir war das zu wenig – dieser Paragraf verfolgte ja nicht allein homosexuelle Männer und drohte mit Gefängnis, vielmehr vergiftete er das gesamte gesellschaftliche Gefüge bis in die letzte Familie.

Das ist nur zu wahr: Der Paragraf, das weiß ich aus der systemischen Familientherapie, vergiftete Familien – er zerrüttete, bewusst oder unbewusst, alles an gesellschaftlichem Leben.

Auf dem diesjährigen Kirchentag in Nürnberg gibt es queere Interventionen, auch erstmals ein Hauptpodium zur Dekolonialisierung, zur Frage des Rassismus und des Völkermords in Namibia …

… ja, das ist ein Erfolg, dass sich der Kirchentag diesen Fragen auch so prominent stellt.

Aber Margot Käßmann, viele Jahre der Star, ein Idol auf Evangelischen Kirchentagen, wird fehlen.

Wir feiern in Nürnberg mit über 100.000 Menschen – der erste Kirchentag seit der Coronopandemie, zu dem wir zusammenkommen können. Es geht wesentlich um drei Themen: die neuen Koordinaten eines Pazifismus, den wir als evangelische Kirchen auch erst mal neu erkennen mussten. Wir sind in der überwältigenden Mehrheit für das Recht auf Selbstverteidigung. Das muss diskutiert werden. Wie auch Fragen zur Klimakatastrophe – und wie wir die Aktionen der Letzten Generation einschätzen. Und dann eben die Fragen des kolonialen Erbes, an dem auch wir als Kirchen mächtig zu tragen haben. Rassismus und Antisemitismus sind nicht minder wichtige Fragen, im Gegenteil.

Jetzt ist die Zeit“ heißt die Kirchentagsüberschrift. Zeit wofür?

So knapp wie möglich gesagt: Verantwortung zu übernehmen.

Zurück zu einer Frage, die Frau Käßmann betrifft – sie übernimmt Verantwortung auf ihre Weise und plädiert für einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine.

Was sie sagte, finde ich schon krass, ich finde es vor allem enttäuschend. Ich möchte kein Bashing gegen die ehemalige Landesbischöfin üben, sie hat noblerweise für Fehltritte Verantwortung übernommen, wo andere an ihren Sesseln kleben geblieben wären. Aber sie ist keine Heilige, sie ist nicht unfehlbar, und Nürnberg wird auch ohne Frau Käßmann ein besonderes Ereignis werden.

Ihre theologische und seelsorgerliche Expertise ist, so heißt es in evangelischen Leitungskreisen, so versiert, dass gefragt werden darf: Wollen Sie nicht einmal Bischöfin werden?

Eine spannende Frage, die mir in anderer Form auch schon gestellt wurde: Möchtest du nicht in höheren Funktio­nen Verantwortung übernehmen? Ich habe es mir immer wieder überlegt. Und dann die Frage verneint.

Warum?

Ich glaube einfach, dass solche Leitungsfunktionen, auch als Bischöfin, nicht der richtige Platz für mich wären. Ich brenne leidenschaftlich für Inhalte, ich habe die Gabe, Menschen zu erreichen, schriftlich, mündlich, in Workshops, aber ich verlöre mich, ginge ich auf Positionen, in denen mein Wirken mit diesen Inhalten nicht mehr gefragt sein würde. Ich wäre dann mit Leitung beschäftigt, nicht mehr mit inhaltlichen Interventionen.

Kneifen Sie?

Das fragten mich andere schon. Könnte sein. Denke ich mir manchmal auch: Du feige Socke! Aber ich vermute, dass meine Gedanken mich auf die für mich richtigen Bahnen geführt haben. Ich war und bin eine Grenzgängerin. So war mein Weg, von diesem bin ich nie abgewichen.

Immer ein wenig – typisch für lesbische oder schwule Biografien im Mainstream – auf Distanz geblieben?

Vielleicht. Davon abgesehen, dass es auch in der liberal-progressiven evangelischen Welt für Menschen wie mich, für Positionen wie meine – lesbisch, queer, offen – gläserne Decken gibt, würde ich sagen, dass mein Wirken bei dem, was ich in Mainz jetzt tue, größer ist.

Sollte es in der evangelischen Kirche mehr Grenzgängerinnen* geben?

Ja. Wir brauchen Menschen, die über den Tellerrand schauen, die Christliches aus queerer und antirassistischer Perspektive untersuchen und kritische Sichtweisen in theologische Debatten eintragen. Wir brauchen Menschen, die verschiedene inhaltliche Positionen und kulturelle Welten zusammenbringen und dort präsent sind, wo es Energie und Reibung gibt.

Und wo ist das?

Auf der Grenze.

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