Zensur einer Antisemitismus-Doku: Wehrhafte Juden sieht man nicht gern
Eine WDR-Doku über Antisemitismus in Europa sollte auf Arte erstausgestrahlt werden. Weil sie nicht „ausgewogen“ sei, weigert sich der Sender.
Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hält „die Ausstrahlung der Dokumentation für außerordentlich wichtig“. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, sagt, Arte befinde sich „auf einem gefährlichen Irrweg“. Auch die SPD-Bundestagsabgeordnete Michaela Engelmeier protestiert bei Verantwortlichen des Senders.
Es geht um „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“, einen Dokumentarfilm von Sophie Hafner und Joachim Schröder, den der WDR in Auftrag gegeben und redaktionell abgenommen hat und der für eine Erstausstrahlung bei Arte geplant war. Arte-Programmdirektor Alain Le Diberder weigert sich aber, den Film zu zeigen, unter anderem mit dem Verweis auf dessen mangelnde „Ausgewogenheit“ – als ob das beim Thema Antisemitismus ein sinnhaftiges Argument sein könnte.
Der WDR äußert sich ähnlich bizarr. In einer Pressemitteilung schreibt er: „Wir bedauern, dass die redaktionelle Abnahme im WDR offenbar nicht den üblichen in unserem Haus geltenden Standards genügte.“ Zum Hintergrund: Abgenommen hat den Film die Arte-Beauftragte des WDR, Sabine Rollberg, sie ist eine mehrfach preisgekrönte Redakteurin, drei von ihr betreute Filme wurden mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Es gibt in Deutschland im Bereich Dokumentarfilm nur wenige Redakteure, die ähnlich kompetent sind wie sie. Bleibt die Frage: Was haben die Kölner Hierarchen wirklich gegen den Film?
Die taz hatte mittlerweile die Möglichkeit, den zurückgehaltenen Film zu sehen. Das inhaltliche Spektrum reicht von einer Analyse der Sprache der Antisemiten, die es verstehen, ihrer Ideologie freien Lauf zu lassen, ohne konkret von Juden zu reden, bis zur detaillierten Beschreibung massiver europäischer Finanzhilfen für israelfeindliche NGOs. Diese wiederum fachen mit Falschdarstellungen über israelische Politik den europäischen Antisemitismus an, der bis weit in die Mitte der Gesellschaft – und auch in den Qualitätsjournalismus – hineinreicht.
Einer der Schwerpunkte des Films ist die Lage in Frankreich: In Sarcelles, einem Vorort von Paris mit einer großen jüdischen Community, zeigt sich der sozialistische Bürgermeister besorgt, weil junge französische Juden nach Israel gehen wollen. Wenn sie das Land verließen, weil ihre Religionsfreiheit massiv eingeschränkt werde, sei „Frankreich tot“, sagt er.
Der Film hat eine deutlich künstlerische Handschrift
Was man dem Film vielleicht vorwerfen kann: Die Macher wollen ein bisschen zu viel. In der ersten Hälfte wirkt „Auserwählt und ausgegrenzt“ etwas zu textlastig, man fühlt sich manchmal erschlagen von all den Zahlen und historischen Exkursen. Andererseits: Der Inhalt sucht sich immer seine Form, und Hafner und Schröder ging es darum, dem von Phantasmen und Verdrehungen in Sachen Israel geprägten Bild der Bevölkerung möglichst viel entgegenzusetzen. Da ist es durchaus zielführend, etwa ein paar Zahlen zu liefern zu den Lebensverhältnissen in Gaza: 5.000 Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer – in Paris seien es 21.000.
Ungewöhnlich ist der teilweise sarkastische Tonfall, der an den ARD-Moderator Dieter Moor erinnert. „Schade um das schöne Mittelmeer, wir haben es so sehr gemacht“, heißt es an einer Stelle, nachdem die Bundestagsabgeordnete Annette Groth der Linken tatsächlich Israel vorgeworfen hat, das Mittelmeer zu vergiften. „Dieser Holocaust-Vergleich wurde ihnen von ‚Brot für die Welt‘ präsentiert“, lautet wiederum der Kommentar zu einer entsprechenden Äußerung einer großmütterlichen Frau aus dem kirchlichen Milieu.
Diese Mittel sind aber angemessen. Man kann auf die wahnhaften Äußerungen, die der Film aufgreift, kaum nüchtern reagieren. Selbst, wenn man die sarkastischen Einsprengsel für unangebracht hielte, wäre das nur ein geschmäcklerischer Einwand, der es nicht rechtfertigt, den Film in den Giftschrank zu packen. „Vielleicht sollte man den Zuschauern zutrauen, sich selber eine Meinung zu bilden“, sagt Schröder.
„Auserwählt und ausgegrenzt“ hat eine deutliche künstlerische Handschrift und vor allem eine deutliche Haltung, es ist ein, so altmodisch das klingen mag, gesellschaftskritischer Film. Wer ihn gesehen hat, fühlt sich bestätigt in der Vermutung, dass die formalen Argumente der Sender vorgeschoben sind. Den Hierarchen scheint die gesamte inhaltliche Ausrichtung nicht zu passen.
Die Autoren erwähnen, dass, als sich 2014 bei Angriffen auf eine Synagoge in Sarcelles Juden zur Wehr setzten, französische Medien ihnen vorwarfen, sie hätten die Angreifer provoziert. „Wehrhafte Juden sieht man nicht gern“, heißt es im Film dazu. Ein Ergebnis der Debatte um „Auserwählt und ausgegrenzt“ lautet: Wehrhafte Filmemacher auch nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer