„Zeitenwende“ von Kanzler Scholz: Vor allem Rhetorik
Kanzler Scholz will sich von einer Welt lösen, die er selbst mitgeschaffen hat – und bleibt in ihr gefangen. Seiner Zeitenwende fehlt die Substanz.
J eder Kanzler und jede Kanzlerin, so scheint es, leistet sich eine Wende. Angela Merkel hatte ihre Energiewende, Olaf Scholz hat seine Zeitenwende, und für Helmut Kohl – den Gierigen – waren es gleich zwei: eine geistig-moralische und eine wiedervereinigende. Nur Altkanzler Gerhard Schröder war schnittig, mittig, wendefrei.
Die Wende, so könnte man sagen, ist ein deutsches Geistesphänomen, verbunden mit einem speziellen Blick auf die Welt und die Geschichte und wie sie sich entfaltet: nicht linear, als Fortschrittserzählung gedacht, oder kreisförmig – diese Vorstellung haben wir trotz Nietzsche hinter uns gelassen, der Fortschritt für eine kindliche Idee hielt und stattdessen die ewige Wiederkehr des Gleichen proklamierte, was durchaus als Drohung gemeint war.
Die Rede von der Wende sieht dagegen eine Ruptur im Band der Zeit, einen radikalen Wechsel der Perspektive, der entweder selbst produziert wird, wie es die geistig-moralische Wende impliziert, oder häufiger vollzogen wird, angeschoben von größeren und oft diffusen Kräften, die von außen regieren; eine Art Schicksal. Diese Leseweise, und das mag das speziell Deutsche daran sein, hat den Vorteil, dass sie dem Einzelnen die Bürde abnimmt, verantwortlich zu sein für das, was er oder sie getan hat oder eben nicht.
Bei Angela Merkel war das so, als sie 2011 die Energiewende ausrief, als Reaktion auf das Reaktorunglück von Fukushima. Jahre und Jahrzehnte von Kritik an der Atomindustrie und -energie – einfach weggewischt mit voluntaristischem Flair, ohne parlamentarischen Prozess, eine Entscheidung, die Realität schuf. Und die Merkel selbst, und das ist wichtig bei der größeren Psychologie des Wendediskurses, ins Recht setzte, die sie als Aktive zeigte, mit dem Signum der Macht versehen.
ist Chefredakteur von „The New Institute“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ im Frohmann Verlag.
Nur nicht zurückschauen
Es ist also eine fragile Konstruktion, die Sache mit der Wende – denn dort, wo man langsam und opportunistisch wirken könnte, will man ja als jemand erscheinen, der oder die den Gang der Geschichte steuert. Die Rede von der Wende ist damit verbunden mit einem politischen Topos, der dieser Tage auch wieder viel verwendet wird, um die Entscheidungsfindung und die Wirkweise der veränderten Demokratien der Spätmoderne zu benennen: der Ausnahmezustand, vom bösen Carl Schmitt effektiv theoretisiert.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, sagt Schmitt – was natürlich sehr vielversprechend ist für Herrschende, die sich durch ihre eigene Entscheidung im Gefüge der Macht ganz an die Spitze setzen können. Das Volk wiederum, oder die Bevölkerung, als eigentlicher Souverän, so wie es die Verfassung vorsieht, bleibt dabei eher in der Zuschauerposition.
Das ist das Anti- oder Undemokratische dieser Praxis, so wie sie etwa Emmanuel Macron in Frankreich über einen weiten Teil seiner Regierungszeit vollzogen hat – 46 von 78 Monaten regierte er mit einer Notstandsgesetzgebung, die er dann teilweise ins geltende Recht überführte.
Olaf Scholz fügt sich also sehr gut ein in diesen Zeitgeist mit seiner Rede von der Zeitenwende – die sehr technokratisch und weniger inhaltlich gedacht ist, extrem nach vorne orientiert. Auch da ist Scholz ganz Merkelianer: Denn wenn er zurückschauen würde, was ja eigentlich auch Teil der Wende sein könnte oder sogar müsste, dann würde er eigenes Versagen sehen und die Widersprüche eines Systems, das erst die Verstrickungen geschaffen hat, aus denen Scholz sich nun befreien will.
Handwerklich schlecht gearbeitet
Denn die Welt, in der diese Wende nun stattfindet, ist sehr wesentlich seine oder die seiner Generation. In den 1990ern wurde diese Welt geschaffen, mit dem Vorrang der Wirtschaft vor der Demokratie, so wie sie explizit Doktrin wurde in der „Schocktherapie“, die etwa die Sowjetunion in die schöne neue Welt des Kapitalismus katapultieren sollte – und doch vor allem einige sehr reiche Männer produzierte und sehr viel soziale Ungleichheit – ein Staat als wirtschaftlich ausgehöhlte Rumpfdemokratie.
Scholz löst sich noch immer nicht von diesem Denken, wenn er wieder und wieder „profit before people“ setzt, also wirtschaftliche Argumente in Bezug auf den Krieg in der Ukraine militärischen oder menschlichen Überlegungen vorzieht und gegen ein Öl- und Gasembargo entscheidet, weil es der deutschen Wirtschaft schaden würde. Die Abhängigkeit bleibt. Scholz schafft damit eine neue Miniaturausgabe von Wendediskurs, weil sich aus der Entscheidung keine Handlungsoption ergibt. Ein kleines Kunststück der taktischen Selbstverstrickung.
Seine Rede von der Zeitenwende – auch das zeigt sich damit mehr und mehr – ist vor allem Rhetorik gewesen, schnell formuliert und wenig durchdacht, mit einer Zahl versehen: 100 Milliarden, die langsam auch zerfällt, weil so unklar ist, wie und wofür das Geld genau zu verwenden ist. Scholz’ Zeitenwende ist ähnlich wenig durchdacht wie Merkels Energiewende, was erst einmal nichts mit der Notwendigkeit zu tun hat, die Prämissen des eigenen Handelns zu überdenken, im Gegenteil – es zeigt nur, dass hier handwerklich schlecht gearbeitet wird.
Wenn sich also Wirklichkeit in Worte verwandelt – oder, wie es Peter Pomerantsev mit Blick auf Putin ausdrückt, alles möglich ist und nichts wahr –, dann fehlt Scholz’ Zeitenwende die Substanz, der Antrieb, die Begründung in der Realität. Die Prämissen oder Prinzipien, auf denen sie beruht, bleiben offen, ohne Ambition, diese Leere zu füllen. Die Entscheidung allein soll reichen. Es ist ein trauriges Schauspiel von demokratischer Verkümmerung, letztlich ganz im Geiste der technokratischen Vollzugszwänge.
Von Schmitt zu Scholz: Der deutsche Wendediskurs dieser Tage ist die Sozialdemokratisierung der Rede vom Ausnahmezustand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe