Illustration: Eléonore Roedel

Wie wir in der Krise denken:Entscheiden tut weh

Wie rational fällen wir unsere Entscheidungen, vor allem unter Stress? Unsere Autorin hinterfragt ihre Denkmuster während der Pandemie.

Ein Artikel von

11.5.2021, 10:48  Uhr

Meine erste gute Entscheidung in der Coronapandemie war ein Zufall: Am Morgen des 11. März 2020 gehe ich noch vor neun Uhr einkaufen. Normalerweise erledige ich das nach der Arbeit, aber daraus wäre an diesem Tag nichts geworden. Um 11.30 Uhr erfahre ich, dass ein Freund, den ich am Vortag getroffen habe, womöglich über Ecken an seinem Arbeitsplatz Kontakt zu einem Corona-Infizierten hatte. Ich begebe mich also ins Homeoffice und vorerst in die Isolation – mitsamt einer gut gefüllten Tasche mit Lebensmitteln.

Wir treffen jeden Tag unzählige Entscheidungen, die meisten von ihnen unbewusst. Doch während das vor Corona eher beiläufig passierte, fühlt es sich seit der Pandemie plötzlich an, als gehe es bei jeder einzelnen um Menschenleben. Fahre ich mit der Tram oder doch lieber mit dem Fahrrad? Treffe ich die Freundin im Park oder in der Wohnung? Und kann ich es riskieren, zum Frisör zu gehen oder trage ich die nächsten Monate eben Mütze?

Am 26. März 2020 schreibe ich in mein Tagebuch: „Ich habe das Gefühl, ich müsste meine Zeit viel solidarischer nutzen: (Meine alleinerziehende Freundin) U. unterstützen, für Schwächere wie Se­nio­r*in­nen oder Kranke einkaufen. Harten Journalismus betreiben, von der Front berichten. Ich habe aber gerade alle Hände voll damit zu tun, mich selbst über Wasser zu halten. […] Noch nie ist mir meine Arbeit auf diese Art schwergefallen. Ich halte die Nachrichten gerade kaum aus. Ich halte es kaum aus, immer von diesem Thema umgeben zu sein, immer zuhause davon umgeben zu sein. In meinem Safe Space. Eine Pandemie mitten in meiner Komfortzone.“

49 neu gemeldete Todesfälle und 4.954 Neuinfektionen

In dieser Zeit schaffe ich es nur bedingt, für andere Menschen da zu sein. Ich bin mit den einfachsten Entscheidungen völlig überfordert, fühle mich wie gelähmt. Also ziehe ich mich zurück, als Reaktion auf den Stress. Aus heutiger Sicht kein Wunder: Wer gestresst ist, hat eingeschränkte Kapazitäten. Und das kann es schwerer machen, gute und überlegte Entscheidungen zu treffen.

Zu glauben, dass Entscheidungen ansonsten eher sinnvoll und vernünftig gefällt werden, ist allerdings ein Trugschluss. Denn wir Menschen machen es uns gerne leicht – und greifen auf Denkabkürzungen zurück: Wir benutzen für die Urteils- und Entscheidungsfindung das, was uns spontan in den Kopf kommt. Das ist aber eben nicht immer die vernünftigste Lösung.

Und diese Denkabkürzungen kommen uns ständig automatisch in den Sinn. Sind wir nicht gestresst, kann es bloß etwas leichter sein, dies zu erkennen und mit ausgeruhterem Denken zu unterdrücken. „Sobald Sie mir ein Problem präsentieren, habe ich eine vorgefertigte Antwort parat. Diese vorgefertigten Antworten stehen dem klaren Denken im Wege. Und wir können nicht anders, als sie zu haben.“ Das sagt der israelische Psychologe Daniel Kahneman in einem 2019 veröffentlichten Podcast.

Lange vorher, im Jahr 2002, hatte Kahneman für seine Forschung zum sogenannten Judgment and Decision Making (deutsch: Urteils- und Entscheidungsfindung) den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Gemeinsam mit seinem 1996 verstorbenen Freund und Kollegen Amos Tversky hatte Kahneman eine Theorie entwickelt, wie Menschen wirtschaftliche Entscheidungen treffen und damit als Psychologe auch die Wirtschaftswissenschaft geprägt. Diese war an vielen Stellen davon ausgegangen, dass Menschen sich rational verhalten.

Illustration: Eléonore Roedel

Kahneman gehört seither zu einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, die maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie menschliches Verhalten auch über die Psychologie hinaus betrachtet wird: nämlich nicht perfekt rational und vernünftig, sondern fehlerbehaftet und durch äußere Umstände beeinflusst – eben menschlich. Sein 2011 erschienenes Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ wurde zu einem Bestseller.

Kahneman beschreibt darin den sogenannten Ankereffekt: Tversky und Kahneman ließen Studierende an einem manipulierten Glücksrad drehen. Bei einer Gruppe stoppte das Glücksrad bei 10, bei einer anderen bei 65. Mitglieder beider Gruppen mussten die jeweilige Zahl aufschreiben. Später sollten die Studierenden zwei Fragen beantworten: 1. Ist der Prozentsatz afrikanischer Nationen unter UN-Mitgliedern größer oder kleiner als die Zahl, die Sie gerade aufgeschrieben haben? 2. Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz afrikanischer Nationen bei den UN ein?

Eine Zahl aus einem Glücksrad ist der Inbegriff des Zufalls. Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen der Zahl in einem Glücksrad und dem Anteil afrikanischer Nationen bei den UN. Und dennoch: Bei der Gruppe, bei der das Glücksrad bei 10 gehalten hatte, war der Durchschnitt der Antworten auf die zweite Frage 25 Prozent. Bei der Gruppe, die die Zahl 65 beim Glücksrad gesehen hatte, lag die durchschnittliche Antwort bei 45 Prozent. Die Studierenden hatten sich offenbar an den zufälligen Zahlen orientiert. Dieser sogenannte Ankereffekt trat in verschiedenen Experimenten auf: Wenn eine Zahl bei einer Frage vorgegeben ist, orientieren wir uns daran, auch wenn sie nichts mit der Antwort zu tun hat.

Die Forschung von Kahneman zeigt: Ich bin fehlbar. Alle sind fehlbar

Mir kann niemand erzählen, dass das logisch ist. Deswegen fasziniert mich die Forschung von Kahneman und anderen Verhaltenspsycholog*innen. Sie flößt Bescheidenheit ein; sie propagiert Zweifel und genaues Hinterfragen der eigenen Urteile. Sie zeigt: Ich bin fehlbar. Alle sind fehlbar. Ein Bewusstsein über diese sogenannten kognitiven Verzerrungen kann helfen, bessere Entscheidungen zu treffen – oder zumindest das Werkzeug an die Hand geben, eigene Denkprozesse besser zu reflektieren.

Das Experiment mit dem Glücksrad hat mich zum Nachdenken gebracht: Wie oft habe ich in der Pandemie Entscheidungen getroffen, die von für mich nicht oder nur wenig relevanten Fakten beeinflusst waren? Zum Beispiel, wenn ich Todeszahlen aus New York gesehen habe oder Infiziertenzahlen aus einem weit entfernten Dorf in Deutschland?

3. April 2020: „Harter Tag mal wieder. Die werden gerade häufiger. Es fällt mir immer schwerer, mich aufzuraffen.“

145 neu gemeldete Todesfälle und 6.174 Neuinfektionen

Illustration: Eléonore Roedel

Zu einem späteren Zeitpunkt in der Pandemie schreibe ich außerdem in mein Tagebuch, dass ich bereits so banale Tätigkeiten wie einkaufen gehen sehr anstrengend finde. Weil es sich auf einmal gefährlich anfühlt. Weil ich Dinge bedenken muss, die vor zwei Jahren noch apokalyptisch geklungen hätten: anderen Menschen nicht zu nahekommen. Darauf achten, dass meine Maske richtig sitzt. Mich beeilen und bloß nicht bummeln.

Es ist mir mehrfach passiert: Ich war einkaufen und danach erst mal total platt. Konzentrieren konnte ich mich nicht mehr gut. Wie müssen sich erst Kas­sie­re­r*in­nen oder medizinisches Personal fühlen, die den ganzen Tag vielen anderen Menschen ausgesetzt sind?

Auch rund um dieses Gefühl gibt es spannende Forschung – schön zusammengefasst in dem Buch „Knappheit“ von Eldar Shafir und Sendhil Mullainathan. Die grundlegende Hypothese des Verhaltenspsychologen Shafir und des Ökonomen Mullainathan ist, dass jegliche Knappheit das Denken vereinnahmt. Wenn eine Sache mein Denken bestimmt, ist weniger Kapazität für andere Dinge da.

Shafir und Mullainathan erläutern, dass sich dies auf zahlreiche Lebensbereiche erstrecken kann: Wer wenig Geld hat, muss sich viel mit Geld beschäftigen – und hat dadurch weniger Kapazitäten für anderes. Das Gleiche gilt für Menschen, die sich wegen einer Diät viel mit Essen beschäftigen.

Meine These: Wer dauernd über eine Pandemie nachdenkt und jegliche Entscheidungen daran ausrichten muss, ist in anderen Lebensbereichen angestrengter und weniger leistungsfähig. Einfachste Entscheidungen wie die rund ums Einkaufen werden anstrengender.

„Wir können mit unserer Aufmerksamkeit nur hin und her wechseln zwischen verschiedenen Themen, die uns beschäftigen.“ So fasst es die Psychologin Maria Douneva zusammen, als wir uns zu einem Vdeogespräch zusammenschalten. Die 31-Jährige hat im Gebiet der Urteils- und Entscheidungsfindung ihre Doktorarbeit geschrieben, seit Mai arbeitet sie in Berlin bei einem Unternehmen, das Organisationen Entscheidungsprozesse erklären und erleichtern will. „Wenn jetzt etwas so Großes und so Einnehmendes wie die Coronapandemie passiert ist, sind einfach weniger Ressourcen da, um über andere Dinge nachzudenken“, sagt Douneva.

Im letzten Jahr so viel über Corona nachzudenken, hat ausgelaugt und die Weise geändert, wie ich auf Alltagsentscheidungen blicke. Zum Beispiel auf die Entscheidung, wie oft pro Woche mein Freund und ich in den Supermarkt gehen, ob wir überhaupt gemeinsam gehen wollen oder ob dies das Risiko einer Infektion zu sehr erhöht, ob wir dafür noch FFP2-Masken haben oder ob die OP-Maske oder gar die Stoffmaske ausreicht.

27. März 2020: „Wunderschön und herzerwärmend, U. und (ihre Tochter) R. mal wieder zu sehen – wenn auch nur über Skype. Es hat gleichzeitig mein Herz gebrochen zu sehen, wie sehr R. sich über mich gefreut hat und mit mir ein Buch lesen wollte. Aber das ging nicht.“

55 neu gemeldete Todesfälle und 5.780 Neuinfektionen

Das schreibe ich über das digitale Wiedersehen mit meiner besten Freundin und ihrer damals anderthalbjährigen Tochter. Weil Vorlesen bei Anderthalbjährigen stark mit dem gemeinsamen Anschauen eines Buches verknüpft ist, geht es leider nicht gut über Skype.

Zu der Zeit legte ich mir vor allem im Privaten als Entscheidungsregel fest: Ich will immer auf so wenige Menschen wie möglich treffen. Beim Einkaufen hat das zu der privilegierten Entscheidung geführt, dass wir inzwischen auf Onlinebestellungen umgestiegen sind. Das hat mehrere Einzelentscheidungen überflüssig gemacht – mehr Kapazität für anderes.

Fahrradfahren statt in die Bahn steigen. Treffen auf unbestimmte Zeit verschieben anstatt sich drinnen zu sehen. Das war zwar nicht immer angenehm, hat mir aber wieder mehr Raum für andere Themen gegeben. Mit der Zeit ist es mir leichter gefallen, für Freun­d*in­nen da zu sein. Seit einigen Monaten ist auch Zeit und Kapazität dafür da, einem Ehrenamt beim Roten Kreuz nachzugehen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Meine selbst auferlegte Regel hat geholfen, mir im Privatleben Entscheidungen abzunehmen und nicht jedes Mal individuell das Risiko abzuwägen. Auch wenn es mich genervt hat, musste ich so nicht jedes Mal, wenn ich irgendeinen Termin hatte, darüber nachdenken, ob ich jetzt wirklich aufs Fahrrad steige. Und mal eben schnell aus reiner Lust auf etwas Süßes zum Bäcker gehen, war eben einfach nicht drin.

Irritierenderweise war ich auch immer wieder sehr erleichtert, wenn mir Entscheidungen von politischer Seite abgenommen wurden. Ich war froh, dass ich mich nicht mehr gegen etwas größere Treffen in Kneipen entscheiden musste, weil diese verboten waren. Ich war froh, dass ich nicht mehr entscheiden musste, ob ich Geburtstagsgeschenke digital oder doch im Laden kaufen soll, weil die Läden zu waren. „Diese Anstrengung ist auch ein Faktor, warum viele Leute sagen: Ja, ich möchte jetzt mal klare Regeln und nicht so einen Ermessensspielraum“, bestätigt die Psychologin Maria Douneva.

Ich weiß, dass das eine kontroverse Position ist. Das heißt auch nicht, dass ich die Maßnahmen nicht kritisch begleite und hinterfrage: Ich verstehe nicht, warum für Kinder eine Testpflicht herrscht, während in Büros höchstens ein „Angebot“ gemacht wird. Ich sehe, dass viele Menschen unter den Maßnahmen leiden; dass gesellschaftliche Gruppen wie beispielsweise Familien viel zu wenig bedacht wurden.

Ich möchte die Coronapolitik der Bundesregierung gar nicht verteidigen. Entscheidungsfindung in derart komplexen Apparaten steht auf einem ganz anderen Blatt als individuelle Alltagsentscheidungen. Und trotzdem: Wenn es um so gewichtige Entscheidungen wie die in einer Pandemie geht, bin ich tatsächlich froh, wenn Ex­per­t*in­nen und Politik mir bei der Entscheidungsfindung aushelfen.

Besonders zu Beginn der Pandemie war die Datenlage dazu, was wie gefährlich ist, noch sehr dünn. Die Psychologen Kahneman und Tversky schließen aus ihrer Forschung, dass wir Menschen nicht immer gute intuitive Sta­tis­ti­ke­r*in­nen sind – das liegt unter anderem am sogenannten Availability Bias, auf Deutsch in etwa Verfügbarkeitsfehler. Das englische Wort Bias beschreibt jegliche systematische Denkfehler.

Der Psychologe Paul Slovic hat mit Kol­le­g*in­nen bereits in den 1970er Jahren eine Studie durchgeführt, die das Konzept eindrücklich illustriert: Sie baten Studienteilnehmende, das Risiko bestimmter Todesursachen in den USA einzuschätzen. 80 Prozent gaben an, Unfälle seien häufigere Todesursachen als Schlaganfälle; dabei waren Schlaganfälle zu der Zeit doppelt so oft vertreten wie sämtliche Unfälle zusammengenommen. Auch schätzten die Teilnehmenden Tornados als häufigere Todesursache ein als Asthma, obwohl Asthma mehr als 20 mal so häufig Menschen tötet.

Als Grund nehmen die Au­to­r*in­nen unter anderem Berichterstattung an – wie oft wird schon über Asthmatote berichtet? Spektakuläre Unfälle landen dagegen immer wieder in den Medien, eben weil sie so selten sind. Der Availability Bias ist das dazu passende Phänomen, dass Menschen Dinge für häufiger auftauchend oder wahrscheinlicher halten, wenn sie präsenter sind.

Maria Douneva, Psychologin

„Viele Leute sagen: Ja, ich möchte jetzt mal klare Regeln und nicht so einen Ermessens­spielraum“

„Menschen sind beeinflusst von dem, was ihre Aufmerksamkeit einnimmt“, erläutert Maria Douneva. „Das Grundprinzip ist: Wir lassen uns von Dingen beeinflussen, die gerade sehr zugänglich sind. Wir können eben nicht unendlich viel parallel machen und reagieren daher auf das, was gerade am präsentesten ist.“

Ich glaube, dieser Denkfehler lässt sich auch in der Pandemie beobachten: Im vergangenen Jahr habe ich besonders in den ersten Monaten der Pandemie so schreckliche Bilder aus New York und Bergamo gesehen, dass ich das Haus am liebsten gar nicht mehr verlassen hätte. Ich habe das Risiko unter anderem deswegen so wahnsinnig hoch eingeschätzt, mich mit dem Virus anzustecken, weil diese Bilder um die Welt gingen.

20. März 2020: „Spazieren! Das erste Mal seit neun Tagen draußen! Es war gespenstisch, Berlin-Mitte so leer zu sehen. Aber es tat auch sehr, sehr gut. Zu atmen, mich zu bewegen.“

11 neu gemeldete Todesfälle und 2.958 Neuinfektionen

Ich erinnere mich an die Stille vorm Brandenburger Tor, an eine völlig leere Friedrichstraße. Ganz offensichtlich hatten jede Menge anderer Leute das Risiko damals ebenfalls sehr hoch eingeschätzt. Am 20. März 2020 meldete das Robert Koch-Institut elf neue Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19. Zum Vergleich: Am 20. März 2021 waren es 207.

Meine Risikoeinschätzung hat sich im Laufe der Pandemie geändert. Zumindest haben sich meine Entscheidungen stark verändert, auch wenn die gemeldeten Neuinfektionen und Todesfälle zwischenzeitlich immer wieder stark variierten. Auch, wenn ich mich gerne als vernunftgesteuerte Person sehe, mache ich meine Entscheidungen offensichtlich nicht nur von der Schwere der Pandemie abhängig.

Meine Freundin U. und ihre Tochter R. treffe ich zum Beispiel inzwischen etwa einmal die Woche, auch in geschlossenen Räumen. „Das ist eine Situation, bei der Menschen eher nicht statistisch denken und auch nicht statistisch denken wollen. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, die eher mit eigenen Überzeugungen zu tun haben“, sagt die Psychologin Maria Douneva. „Da wird sich niemand hinsetzen und erst mal die Zahlen checken, sondern letztendlich hat man eine Tendenz und sucht sich die Informationen, die dazu passen und trifft die Entscheidung, die man sowieso getroffen hätte.“

Erwischt. Sie spricht eine der wohl bekanntesten kognitiven Verzerrungen an: Den Confirmation Bias oder auf Deutsch Bestätigungsfehler. Wenn ich eine Meinung oder Vorliebe habe, neige ich dazu, Informationen wahrzunehmen, die dazu passen. Ich suche mir zum Beispiel Inzidenzen für den Berliner Bezirk raus, in dem meine Freundin und ihre Tochter leben, und sehe: Ach, bei mir im Bezirk ist die Inzidenz noch höher, dann kann ich auch dorthin fahren. Oder ich sage mir: Am Anfang habe ich die beiden gar nicht unterstützt, und die gemeinsame Zeit tut uns ja allen gut. Und: Wenigstens sitze ich nicht im Büro mit vielen Kontakten, dann ist das Treffen mit den beiden ja nicht so schlimm.

Das mag alles stimmen. Genauso gut könnte ich aber auch dagegen argumentieren. Das Kind meiner Freundin wird abwechselnd von verschiedenen Menschen in ihrem Umfeld betreut, somit hat es deutlich mehr Kontakte als ich. Meine Freundin gehört außerdem aus gesundheitlichen Gründen zur Risikogruppe. Sowohl für die Entscheidung, die beiden regelmäßig zu treffen, als auch dagegen gibt es genug Gründe. Ich suche mir aber diejenigen raus, die zu meinem Wunsch passen.

14. November 2020: „Ich musste heute Pause machen. Ich bin durch. Grey’s Anatomy gerade war nochmal besonders intensiv. Ich hab sehr viel geweint. […] Es geht um Corona. Abermals mit den ganzen Opfern konfrontiert zu werden, hat so wehgetan. Es schmerzt mich so sehr, wie viele Menschen leiden und sterben. Täglich. Weltweit. In einer Pandemie leben tut weh.“

178 neu gemeldete Todesfälle und 22.461 Neuinfektionen

Grey’s Anatomy war die erste und für mich bislang einzige Konfrontation in der Popkultur mit der Pandemie: Die neueste Staffel der Serie steigt im April 2020 ein und behandelt sowohl den Druck des medizinischen Personals beim Kampf gegen die Pandemie als auch das Leid der Infizierten und Angehörigen.

Ich habe 2020 vor allem als Journalistin für eine Nachrichtenagentur gearbeitet: Dabei habe ich viele Pressekonferenzen zur Pandemie verfolgt, Pressemitteilungen gelesen, mit Pres­se­spre­che­r*in­nen geredet. Ich habe mich aber wenig mit Opfern unterhalten oder mit Menschen, die als Pflegekräfte oder Kas­sie­re­r*in­nen „an der Front“ dabei waren – sie waren in meinem Kopf daher wahrscheinlich nicht so „available“, also verfügbar. Natürlich habe ich viele Artikel gelesen und Berichte aus Krankenhäusern gesehen, aber einen persönlichen Bezug habe ich zu ihnen nicht gehabt. Anders als zu meiner Lieblingsserie, deren Charaktere mich schon etwa 15 Jahre begleiten.

Ähnlich, wenn auch nicht ganz so stark, habe ich jedes Mal reagiert, wenn die Krankheit auch nur ansatzweise näher gerückt ist: Ein Kollege. Entfernte Bekannte meiner Familie. Ein geschilderter Fall auf Twitter. „Wenn ich jemanden im Umfeld habe, dann werde ich sehr wahrscheinlich stärker reagieren, als wenn es ganz viele sind, die aber mit mir eher wenig zu tun haben“, erklärt Maria Douneva das Phänomen.

Dieser sogenannte „Identifiable Victim Bias“ (auf Deutsch etwa: Identifizierbares-Opfer-Denkfehler) ist auch aus der Spendenbranche bekannt: Hilfsorganisationen werben oft mit einzelnen, traurig dreinblickenden Kindern. Denn große Zahlen notleidender Menschen können lähmend wirken und sorgen nicht unbedingt für eine hohe Spendenbereitschaft.

Diesen Denkfehler nennt Douneva gleichzeitig sinnvoll und nachvollziehbar. „Sonst könnten wir ja gar nicht funktionieren, wenn wir immer die ganze Welt und ihre Einzelschicksale im Kopf hätten. Aber: In der jetzigen Situation kann das von Nachteil sein, weil man womöglich unvorsichtiger wird, solange man sich selbst als geschützt wahrnimmt.“

Schließlich sehen wir auch viel eher die negativen Auswirkungen der Maßnahmen als die positiven. Außer das medizinische Personal merken nicht viele unmittelbar im Alltag, dass weniger Menschen sterben. Alle spüren dagegen die Einschränkungen: Die Nachteile der Pandemiemaßnahmen sind viel leichter abrufbar als die Vorteile. Es bedarf einer aktiven Handlung, sie sich bewusst zu machen, während das Negative tagein, tagaus zu spüren ist.

Ich gehörte nie zu denen, die gesagt haben, das Virus könne mich und andere nicht treffen, weil ich ja niemanden kenne, der es hat. Und dennoch: In meiner Lieblingsserie mit so viel Leid konfrontiert zu werden, hat mich schockiert.

1. August 2020: „Vor meiner Haustür feiern Tausende Menschen ‚Das Ende der Pandemie‘. Ich verachte sie. Das will ich nicht. Aber ich könnte vor Wut weinen.“

7 neu gemeldete Todesfälle und 955 Neuinfektionen

Ich beschäftige mich nicht gerne mit Verschwörungsideologien. Das hat einen wahnsinnig egoistischen Grund: Es macht mich so sauer und traurig, dass ich irrational werde. Das liegt ironischerweise daran, dass mir rationales Denken so wichtig ist, dass ich es kaum aushalte, wenn Menschen so gefährliche Entscheidungen treffen wie in Massen zu demonstrieren oder sich Masken zu verweigern.

So viel zum Thema: eigene Denkfehler und Urteile hinterfragen. Denn mit meiner pauschalen Aussage bin ich hier natürlich unfair und höchst subjektiv. Viele der Denkfehler, denen Menschen unterliegen, die an Verschwörungen glauben, treten bei den allermeisten Menschen auf. Und das muss auch erst mal nichts Schlimmes sein: Je­de*r glaubt lieber Dinge, die der eigenen Weltansicht entsprechen.

Es ist grundsätzlich sehr schwierig, Mehrdeutigkeit und Komplexität auszuhalten. Denkfehler und kognitive Verzerrungen tauchen nicht nur bei den „anderen“ auf, sondern bei uns selbst. Die Kunst ist es, dies zu erkennen und, wie Kahneman vorschlägt, langsam zu denken. Denn bedachtes Denken führt im Idealfall zu besseren Entscheidungen. Das soll nicht die Gefahr von Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g*in­nen verharmlosen; aber doch aufzeigen, dass niemand vor schlechter Logik gefeit ist.

Nicht einmal ein Nobelpreisträger: Die Sozialpsychologie wurde vor einer ganzen Weile von der sogenannten „Replication Crisis“ aufgerüttelt, als klar wurde, dass viele Studien nicht mit dem gleichen Ergebnis wiederholt werden konnten und Ergebnisse daher angezweifelt werden müssen. Auch der gefeierte Daniel Kahneman war betroffen. In seinem Buch zitiert er etwa eine Studie, wonach Menschen langsamer laufen, wenn sie vorher Wörter gehört haben, die etwas mit dem Thema „Alter“ zu tun hatten; dieser und mehrere ähnliche Effekte hielten der Prüfung allerdings nicht stand.

Kahneman selbst nennt es „ironisch“, dass er derartige Fehler gemacht hat – ist er doch auf einen Effekt hereingefallen, dem er selbst ein ganzes Kapitel in „Schnelles Denken, langsames Denken“ gewidmet hat: das Gesetz der kleinen Zahlen. Das simple Konzept ist, dass Experimente mit vielen Pro­ban­d*in­nen durchgeführt werden sollten, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Weil Kahneman aber das Ergebnis von Studien wie der mit den Altersbegriffen und dem langsamen Laufen nach eigenen Worten so „sexy“ fand, fiel er selbst darauf herein, obwohl die Untersuchung eigentlich nicht genug Teilnehmende hatte.

Auch ein absoluter Experte in der Entscheidungsfindung ist eben fehlbar – wie wir alle. Das heißt nicht, dass die genannten Denkabkürzungen immer verkehrt sind. Oft ist es sinnvoll, schnelle Entscheidungen zu treffen und nicht ewig darüber zu philosophieren, ob ich nun den Orangensaft öffnen will oder lieber ein Glas Wasser trinke.

Gerade in der Pandemie können Alltagsentscheidungen anstrengen. Weil so viel an ihnen zu hängen scheint. Umso wichtiger ist es, diese Entscheidungen wie auch jegliche Urteile zu hinterfragen und sich selbst nicht unreflektiert über den Weg zu trauen. Kahneman-Kritiker*innen werfen ihm vor, er bewerte unser Denken und unsere Intuition als zu negativ. Das kann ich verstehen; klingt ja auch alles erst mal sehr pessimistisch. Gleichzeitig kann die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Bewertungen und Entscheidungen einen viel versöhnlicheren Blick auf andere Menschen zur Folge haben: Wenn ich verstehe, dass auch ich ständig Denkfehlern unterliege, ist es einfacher, anderen mit Verständnis zu begegnen.

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