Wenn Lastenräder Autos ersetzen: Rollt doch
In vielen deutschen Städten setzen sich zunehmend Lastenräder durch: für die Müllabfuhr, den Pflegedienst und sogar für Beerdigungen.
A ls in Aachen kürzlich die ersten 600 Meter Bike Lane nach Radentscheid-Standard feierlich eingeweiht wurden, kaperten auch ein paar NörglerInnen das Mikrofon: Wohin jetzt mit unserem Automobil, Frau Oberbürgermeisterin? Wo soll ich meine Einkäufe ausladen? Wo soll die Pflegerin des alten Nachbarn hin? Der Vorschlag „Fahrrad“ wurde geradezu aggressiv weggelacht: „Hah, Pflegedienst mit dem Rad? Unzumutbar. Und bei Regen: Sollen die armen Frauen mit nassen Klamotten kommen? Albern ist das!“
Proteste um gemeuchelte Parkplätze gehören zur Verkehrswende wie die Speichen ins Rad. Oft behaupten die Schimpfer, dass es ihnen dabei nur um das Wohl anderer gehe: Was ist mit den Pizzaboten, der Müllabfuhr, den Paketzustellern, dem Taxi für die gehbehinderte Oma und eben den Pflegediensten? Wo sollen die alle parken?
Am besten gar nicht mehr. Viele DienstleisterInnen haben, Tendenz steigend, längst aufs Rad umgestellt, in Aachen und anderswo. Damit geht es in den zugestauten Citys schneller, stressfreier und allemal besser planbar. Nachhaltiger, leiser und anwohnerfreundlicher sowieso.
Ohne Suche nach einem Zwischenlagerplatz und ohne Parkgebühren, ohne Bußgelder und der Angst davor. Und sie sind mittlerweile überall, fallen nur nicht auf wie Automobile: Die Ärztin auf Hausbesuch per Bike, der Buchhändler mit dem Lesefutter im Rucksack, die Floristin mit ihren blühenden Gebinden im Lastenrad. EssenslieferantInnen cruisen ohnehin überall herum. Der Aachener Caterer „PetermachtPause“ liefert rund um den Unicampus Mittagessen per massivem vierrädrigen Cargobike.
Und auch Musik macht mobil: Ein Cellist des Sinfonieorchesters durchquert die Stadt immer per Lastenbike, ein Saxofonist radelt zu Konzerten und Kursen mit den Instrumenten im leuchtend blauen Lasten-Trumm. Woanders gibt es sogar Pianobikes.
Die gemeinnützige Freie Alten- und Nachbarschaftshilfe Aachen Fauna e. V. ist mit 15 MitarbeiterInnen in der Pflege unterwegs, „die meisten mit dem Fahrrad“, wie Mitarbeiterin Irene Krebs berichtet, „manche mit dem eigenen, andere mit einem Dienst-Pedelec“. In der Stadt, sagt sie, „spricht doch alles dafür.“ Obwohl, ein Problem gibt es:
Viele Azubis kämen aus Ländern, in denen Radfahren nicht üblich sei und müssten erst radeln lernen. Andererseits sind die Einstellungskriterien niedrigschwelliger als anderswo, weil man keinen Auto-Führerschein braucht. Altenpflege per Zweirad: ein Mosaiksteinchen gegen den Fachkräftemangel.
Auch die Caritas hat bundesweit viele Hundert PflegerInnen radelnd im Einsatz, allein in Berlin seien es 54, sagt Sprecherin Christina Kölpin: „Uns ist viel daran gelegen, klimafreundlich unterwegs zu sein und die Gesundheit unserer Mitarbeitenden zu fördern.“ Wirtschaftlicher ist es auch: „Wir können so die Wegzeiten minimieren, Pünktlichkeit gewährleisten und die Kosten senken.“ Regenfeste Bekleidung werde überall zur Verfügung gestellt.
Das Fahrradkurierunternehmen CLAC Citylogistik ist in Aachen mit 15 Radkurieren unterwegs. Kunden sind etwa Druckereien, Bildungsinstitute, Ausrüster für Arbeitskleidung und die Stadtverwaltung. Die Lieferung kommt binnen wenigen Stunden, bei der Option „express“ sogar sofort – bis 100 Kilogramm Gewicht, 200 Liter Volumen und in der ganzen Stadt. Das können selbst im mittelgroßen Aachen bis zu 25 Kilometer Strecke sein.
Auch der Gesundheitssektor hat ständig Aufträge: Gewebeproben fix vom Arzt ins Labor, tiefgekühlte Medikamente aus der Klinikum-Apotheke in die Arztpraxis im Vorort. Früher machte das ein Taxi. Das mehrheitlich grün-rote Aachen unterstützt solch nachhaltigen Transport – dachte man bis Oktober.
Wie viele gibt es?
Seit 2018 wurden in Deutschland 500.000 Lastenräder verkauft, meistens mit E-Antrieb. Der eignet sich für besonders schwere Lasten und lange Fahrten außerhalb der Stadt.
Wie viel passt da rein?
Es gibt unterschiedliche Modelle. Ein „Long Tail“, der meist eine offene Ladefläche hat, kann bis zu rund 100 kg fassen. Schwerlastenräder schaffen das Doppelte.
Wie oft werden sie genutzt?
Eine Studie des Instituts für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt (DLR) zeigt: In drei Monaten legten Lastenräder von Betrieben rund 300.000 Kilometer zurück. Bei rund zwei Dritteln der Fahrten ersetzte das Rad ein Auto oder einen Lieferwagen. (nen)
In diese Illusion platzte die Meldung, Lieferdienste wie CLAC müssten ab sofort für ein halbes Dutzend Einkaufsstraßen in der Innenstadt Sondernutzungsgebühren entrichten – anders als Autos, die dort zu bestimmten Zeiten einfach liefern dürfen. 240 Euro pro Jahr stand auf der Rechnung, pro Rad und pro Straße.
Auf Nachfrage sprach das Amt von einem „Irrtum“ – meinte aber nicht die neuen Gebühren, sondern die versehentlich jahrelang kostenlose Nutzung. Die Empörung war groß und das Gelächter auch: „Extra 3“ im NDR widmete der Posse einen Dreiminutenfilm. Zwei Wochen später bremste die Stadtbaurätin Frauke Burgdorff ihre übereifrigen Verwaltungsmenschen und stoppte die Groteske: Die Verwaltung werde „den gesperrten Bereich während der angeordneten Ladezeiten für Lastenfahrräder freigeben.“
Michael Olsen entwickelt Räder für Hochzeiten und Beerdigungen
Die Stadt designte eilend zudem ein eigenes Verkehrsschild und schraubte es unter die Rad-Verbotsschilder: Lastenbikes frei. Putzig, aber unklar: Was, wenn man per einfachem Elektrobike etwas liefert? Was, wenn der junge Mann vom städtischen Touristenservice mit seiner Pedelec-Sänfte gehbehinderte BesucherInnen hier herfährt? Ist das eine Liefertätigkeit? Sanktioniert sich die Stadt dann selbst mit einem Bußgeld? „Extra3“ kann wohl bald wiederkommen.
Seit 2014 sind die CLAC-Räder mit ihren leuchtend gelben Ladeboxen in Aachen unterwegs, das Auftragsvolumen steige stetig, so Geschäftsführer Jörg Albrecht. Der Kern seines Unternehmens sei „die komplexe Software, die wir über die Jahre gebastelt haben“. Eine Telefonhotline gibt es nur für angemeldete KundInnen, die einen Pin eingeben müssen, erklärt Albrecht.
Die Buchungen laufen digitalisiert und automatisiert: Die Software trackt die aktuellen Standorte der Kuriere, weist ihnen unterwegs neue Aufträge zu und bestätigt den KundInnen die Lieferzeit. Das Logistiksystem habe mittlerweile mehr als eine Million Euro gekostet und sei zu Teilen schon in andere Städte verkauft, sagt Albrecht. Das sei auch über den Radlogistikverband Deutschland passiert, den er mitgründete.
Autolose Dienste gibt es überall: In Hamburg liefert Kiez Bringer rund um Altona und St. Pauli in Kooperation mit Einzelhandelsgeschäften alles, was ins Bike passt: Lebensmittel, Bücher, Büro- und Hygienebedarf, Geschenke. Die Firma Vemo deckt Köln und Bonn ab, auch mit „First &Second Mile Delivery“: Lasten bei verschiedenen Kunden abholen und sie für den späteren überregionalen Versand zusammenstellen. Darüber hinaus berät Vemo lokale Unternehmen, eine eigene emissionsfreie Logistik aufzubauen.
Und besonders in Berlin und München dürfte mancher Radkurier schon hindernisfrei ans Ziel gekommen sein, während die dieselnde Konkurrenz von der Letzten Generation nachhaltig ausgebremst wurde. Oder Oldenburg. Da entwickelt Michael Olsen sehr besondere Gefährte, etwa sein fröhlich bunt verziertes E-Hochzeitsrad, mit dem er frisch Vermählte vom Standesamt ins Eheglück strampelt.
Noch aufsehenerregender ist Olsens 3,5 Meter langes Spezialrad für Särge. Ein halbes Dutzend Überführungen hat er schon gemacht. Statt Versteckspiel im blickdichten Leichenwagen will Olsen „die Themen Leben und Tod in die Öffentlichkeit zurückholen“. Und nebenbei „das Radfahren in Ballungsräumen als Selbstverständlichkeit wieder mehr ins Bewusstsein bringen“.
Olsen erzählt von einer Überführung nebenan in Leer. Mit gut 30 Trauergästen, die zu Fuß hinterher kamen, sei das „wie eine Prozession gewesen“. Gut sichtbar ging es über den Deich, sechs Kilometer Weg. „Als einige nicht mehr konnten, Kinder vor allem, haben die sich halt auf den Sarg gesetzt.“ Eine Passantin habe das mit offenem Mund verfolgt – und sei danach zur Trauerfeier gekommen: „So toll, wie Sie das machen, hat sie gesagt, wie früher, alles ganz offen.“
Olsen arbeitet mit der Bestatterin Ellen Matzdorf zusammen. Die sagt, eine Überführung per Rad sei „alles andere als pietätlos“. Pietätlos sei eher, „einen passionierten Radfahrer in der Fahrradstadt Oldenburg mit dem Auto auf den letzten Weg zu schicken“.
Nicht um den letzten Weg, sondern um die sogenannte „letzte Meile“ geht es bei großen Paketzustellern wie DHL, die exzessiv wachsende Amazon-Flotte oder UPS mit jährlich über 4 Milliarden Sendungen. Täglich gondeln sie mit Hunderten Paketen in Hunderten Lkws kreuz und quer durch Hunderte Städte.
Eine Alternative sind Mikrodepots: Alles wird bis in die Stadt per Großraumfahrzeug gebracht, dann umgeladen auf dezentrale Endlieferung. Die „letzte Meile“ wird dann per flexiblem Lastenrad erledigt, das innerstädtisch schneller unterwegs ist und den Zeitverlust der Umladung wieder ausgleicht. Immerhin jedes dritte Paket, schätzen ForscherInnen, ließe sich so per Bike ausliefern.
In Aachen ist UPS seit 2021 mit vier Cargobikes unterwegs. „Ich liebe das Ding“, sagt ein Zusteller, „das klappt prima.“ Das klobige dreirädrige Ding heißt Bring, hat 1,5 Kubikmeter Ladevolumen für bis zu 250 Kilogramm Gewicht und 50 Kilometer Reichweite. Es ist sogar überdacht.
UPS-Sprecher Holger Ostwald erzählt, seine Firma habe 2012, „also lange vor Dieselgate“, erstmals in Hamburg mit einem innerstädtischen Mikrodepot die autolose Zustellung getestet. Mit Erfolg: Heute sei man in über 30 Städten unterwegs, auch in Belgien, Frankreich oder Irland. „München hat allein 30 solcher Fahrzeuge, die zwei Drittel der Stadt abdecken.“ Man experimentiere ständig mit neuen, leistungsstärkeren Cargocruisern, um mehr Lkws zu ersetzen. Die leider oft auch auf Radwegen parken, oder, Herr Ostwald? „Das sollen die nicht, da wollen wir ja fahren.“
Karin Oberschelp, Tischlermeisterin
Aachen ist durch den Erfindergeist an der Hochschule ohnehin ein Dorado für fortschrittliche Mobilität: Ein Spin-off der RWTH ist das elektrische Kleinauto e.Go, ein anderes der Transporter Streetscooter. Die Post hat bundesweit 20.000 davon in ihrer Flotte, bis 2025 sollen es 35.000 sein. Freilich ist die Antriebsart eines Autos dem Verkehrskollaps egal. E-Autos stehen genauso im Weg.
Anders der Aachener Ducktrain, der kurz vor der Serienreife steht. Das Prinzip ist der Entenfamilie abgeguckt: Dem vorwegfahrenden Fahrrad oder Fußgänger folgen, elektronisch gesteuert, automatisch bis zu fünf rollende Paketcontainer, die Küken eben, rund 2 Meter hoch und lang, mit jeweils 300 Kilo Ladegewicht. Ducktrain-Mitgründer Dr. Kai Kreisköther, 37, will „die Lücke zwischen Lastenrad und Van füllen“. Der Entenvater ist überzeugt, dass „schon 2030 die meisten City-Bereiche in Deutschland für Pkws und Lkws gesperrt sein werden“. Enten, watschelt los.
Schon heute treten auch HandwerkerInnen die Pedale, etwa der Aachener Malermeister Holger Frambach. Seit 2018 macht er innerstädtische KundInnenbesuche mit seinem weißen Cargobike, „mein Dienstmobil“. In den großen, schick designten Transportkoffer zwischen Lenker und Vorderrad passen 150 Kilo Nutzlast, Farbeimer und Werkzeug, sogar Klappleitern. Anfahrtspauschalen werden nicht erhoben. Manche Kollegen „rümpfen immer noch die Nase“, erzählt Frambach, „aber Kunden finden das durchweg toll“. Einen Nachahmer vor Ort hat er auch schon: eine Trockenbaufirma.
Da ist auch die Aachener Tischlermeisterin Karin Oberschelp mit ihrer Firma upwood. „Warum sollte ich in der Stadt das unflexible Auto nehmen?“, fragt sie. „Für kleine Montagen, für Fensterwartungen oder auch Kundenbesuche mit Mustern“ ist die 64-Jährige auf drei Rädern unterwegs. Sie fährt ein Christiania Bike aus Kopenhagen mit geräumiger hellblauer Transportbox. „Da gehen Werkzeugkisten rein, Schienen, sogar eine Kreissäge. In Dänemark fährt überall die Post mit dem Modell.“ In Deutschland sei das seltene Stück „ein Eyecatcher“, sagt sie und weiß, dass sie mit ihrem Transporter vor allem Kinder sehr enttäuschen kann: „Viele denken erst, da kommt ein Eiswagen.“
Der Radlogistikverband Deutschland meldet für 2021 ein Plus von 33 Prozent bei den gewerblich verkauften Lastenrädern und 58 Prozent Umsatzwachstum für Lieferdienste per Rad. Allerdings: Wenn kreative Köpfe wie von CLAC oder Ducktrain auf die bewegungsarmen, städtisch Bediensteten trifft, prallen Welten aufeinander. Entenmann Kai Kreisköther sagt über den langsamen Umgang von Verwaltungen mit tatendurstigen Start-up-Menschen wie ihm: „Man muss schon eine mentale Sportlichkeit mitbringen, und eine emotionale auch, um mit dem Frust zwischendurch umgehen zu können.“
„Nachhaltiges Denken in der Verwaltung funktioniert nicht“, sagt Jörg Albrecht. „Meine Erfahrung: Vorgetäuschte Unterstützung ist das wirksamste Mittel zur Verhinderung. Das sieht man auch beim Radentscheid, der nicht vorankommt, weil für jeden Kantstein ein Gutachten und für jeden Meter Radweg eine Bürgerbefragung gemacht wird. Neue Initiativen werden immer eingekuschelt durch gutes Zureden“, schimpft er. CLAC musste der Stadt sogar Lärmemissionsgutachten für seine Lastenräder vorlegen; nervig, zeitaufwändig, kostenpflichtig. Gleichzeitig verpesten die Lkws Tag um Tag die Städte, parken rücksichtslos und kaum sanktioniert in der zweiten Reihe, auf Fuß- und Radwegen.
Jörg Albrecht weiß vom Selbsttest einer der großen Paketdienste: „Die sind den eigenen Lkws mal hinterher gefahren.“ Ergebnis: 80 Prozent der Zustellungen gingen etwa mit Nichteinhaltung von Verkehrsregeln ordnungswidrig vonstatten.
Natürlich, verglichen mit den Blechbüchsenarmeen machen Fahrrad-Zusteller bislang nur einen kleinen Teil aus. Aber jeder einzelne Radkurier spart ein Auto und nährt dadurch die Aussicht auf eine lebendige und sinnlichere Stadt. Und eigentlich müssten doch auch Autofahrende sich darüber freuen: So werden ihre Fahrspuren leerer und freie Parkplätze häufiger.
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