Weltbild der Waldorfschule: Ein besserer Mensch sein?
Auf der Waldorfschule lernt man Stricken, aber ist mit Sozialem überfordert. Wie unserer Autorin eine Weltanschauung übergestülpt wurde.
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Hühner und Gänse in der Freien Waldorfschule Dinslaken Foto: Fabian Strauc/imago
Dankbar und stolz war ich, ein Waldorfkind zu sein. Ich war etwas Besonderes. Hatte die besseren Eltern, denen ich so wichtig war, dass sie mich auf die Waldorfschule schickten. Ich hatte das schönere Lernumfeld. Ich hatte die motivierteren Lehrkräfte, die für deutlich weniger Geld auch noch die Selbstverwaltung machten.
Ich lernte die vermeintlich richtigeren und wichtigeren Sachen. Sowohl inhaltlich als auch praktisch. Kein sinnloses Auswendiglernen für Noten wie an den „Staatsschulen“. Wir lernten die Welt „ganzheitlich“ zu betrachten – und sprachen völlig gleichgeschaltet hunderte Gedichte im Chor. Und ich war nur mit Kindern umgeben, für die dasselbe galt. Von meinem 6. bis zu meinem 19. Lebensjahr war ich Teil einer sich isolierenden „Schulgemeinschaft“, und Waldorfkind sein wurde zu meiner Identität.
Die Erwartung an uns war hoch, wenn auch nicht explizit ausgesprochen: Wir sollten die besseren Menschen werden. Letztens las ich im ersten Waldorflehrplan von etwa 1925: „Die Waldorfschulpädagogik beruht auf einer geistgemäßen Erkenntnis des Menschen, und sie wird Menschen in die Welt hinausschicken, die verstehen werden, was es heißt, wahrhaft ‚Mensch‘ zu sein und den heiligen Angelegenheiten der Menschheit zu dienen.“
Ich bin mit dieser Haltung in die Welt gegangen – und konnte eigentlich nur daran scheitern. Außerhalb der Waldorfwelt war ich lost. Mir fehlte eine solide Allgemeinbildung – trotz selektivem Bingelearning für die acht Abifächer. Mir fehlte popkulturelle Bildung und der gesellschaftliche Diskurs meiner Zeit. Und nichts Besonderes mehr zu sein war irgendwie auch kränkend. Ich hatte zwar gute Noten, aber im Sozialen war ich überfordert.
Die Waldorfwelt ist sehr kontrollierend: Vom Spielzeug über die Kleidung bis zum Gefühlsausdruck gab es „gut“ und „unerwünscht“. Mit hohen moralischen Werten und einer Weltwahrnehmung, in der es „uns“ und „die“ gab, der Staat kalt und beschränkend ist und die Wissenschaft engstirnig. Und nun wollte ich „da draußen“ mit all diesen „anderen“ Menschen weiterhin ein besonders „gutes“ Leben zustande bringen.
Fehlende Selbstkontrolle
Als ob ich es all denen schuldig wäre, die aufopferungsvoll so viel in mich investiert haben.
Und während ich von mir erwartete, besonders kompetent und menschlich gereift zu sein, schlitterte ich von einem Burn-out in den nächsten und war noch nicht mal fähig, einen gesunden Umgang mit dem Fernseher zu finden, der mir plötzlich frei zur Verfügung stand.
Zudem fehlte mir die hohe Intensität meiner Waldorfzeit. Damals war nichts profan. Alles, was wir taten, war mit Bedeutsamkeit aufgeladen. Verglichen damit war mein Studium stumpf, und Gedanken von Sinnlosigkeit machten sich breit. Ich fühlte mich falsch und ich sehnte mich zurück „nach Hause“. Ich überlegte ernsthaft Waldorflehrerin zu werden. Ich war körperlich raus aus der Waldorfwelt, aber mental und emotional war ich noch tief drin.
Ich kann Socken stricken, über hundert Kanons singen und Lemniskaten rückwärts laufen, aber ich habe als Jugendliche meine eigene Identität nicht ausreichend entwickeln können. Waldorf ist eine Weltanschauung, für die ich mich nie bewusst entschieden habe und die dennoch unbemerkt mein Sein und mein Leben über Jahrzehnte bestimmt hat.
Leser*innenkommentare
Patricia Jessen
Könnte vielleicht auch einmal jemand zu Wort kommen, die/der eine glückliche Zeit auf der Waldorfschule hatte? Oder einen differenzierten Blick auf moderne Waldorfpädagogik wirft? Die Texte von Fr. Lea scheinen sich ausschließlich um die Aufarbeitung eines individuellen Traumas zu drehen. Texte, die eine einseitige Perspektive mit viel persönlicher Misere auf das Thema Waldorf werfen sind ja okay, aber ich kann mich nicht entsinnen, jemals andere Texte zu Waldorf in der taz gelesen zu haben, als eben die benannten Artikel dieser ehemaligen Waldorfschülerin (was wenig repräsentativ ist). Falls ich andere, differenziertere Texte übersehen haben sollte -- mega culpa!
Vale64
@Patricia Jessen Danke. Vielen Dank
Stoffel
Ich, männlich, habe 1980 in der Grundschule auch das Stricken und Weben gelernt.
videostar
ich bin froh, dass es bei mir keine Waldorfschule in der Nähe gab - das Beschriebene kommt mir mit meiner gemäßigt esoterischen Sozialisation auch so schon viel zu bekannt vor
NurFürDieKommentareHier
Ich lese diese Kolumne gerne und bin immer wieder überrascht. Die Erfahrungen von Frau Lea sind die Erfahrungen von Frau Lea. Bei dem Beklagen von fehlender popkultureller Bildung und von Mangel an gesellschaftlichem Diskurs an der Waldorfschule, muss ich als ehem. Schüler an einer städtischen Gesamtschule Frau Lea allerdings enttäuschen. Auch beim "Regelschulbetrieb", vielleicht sogar besonders bei einer staatlichen Schule, ist im Lehrplan dafür meiner Erfahrung nach kein Raum. Vielleicht sollte Frau Lea ihr damaliges soziales Umfeld diesbezüglich kritisch hinterfragen. Nicht für alles, was man so versäumt, kann die Schule verantwortlich gemacht werden. Manchmal liegt ein Versäumnis vielleicht sogar in der eigenen Person begründet. Kann ich auch aus Erfahrung berichten.
Vale64
Also ich kann den Kommentar von Frau Lehmann nicht teilen. Ganz im Gegenteil. Ich habe eine sehr gute Allgemeinbildung und das wird mir auch bis heute immer wieder bestätigt. Diese Allgemeinbildung habe ich in der Waldorfschule mitbekommen. Allerdings habe ich natürlich wie jeder andere normale Schüler auch gelernt dafür. Vielleicht hätte Frau Lehmann das auch mal tun sollen. Und ja, ich finde es nicht schlimm als junge Menschen handwerkliches Arbeiten zu lernen. Auch das hat mir später geholfen. Was ist daran schlecht? Als junger Mensch ab ca. 16 Jahren, bin ich jedes Wochenende in meiner Heimatstadt ausgegangen und habe mich mit Freunden (auch nicht Waldorfschülern) getroffen und unseren Spaß gehabt. Was hat das mit einem anormalen Aufwachsen zu tun? Ich durfte auch jeden Tag eine begrenzte Zeit fernsehen.
Ich denke, man sollte seine persönlichen Erfahrungen (Frau Lehmann) in einer Waldorfschule nicht verallgemeinern. Das ist einfach nur Rache und ganz schlechter Stil. Traurig
Reiskartoffel
Ich (42) bin der Sohn einer Waldorfschülerin. Ich kann natürlich nur spekulieren wie groß der Anteil ihrer Waldorf-Erziehung ist, aber ich wurde mit hehren moralischen Ansprüchen erzogen, und das ab frühestem Kindesalter. Heute sehe ich das sehr kritisch, weil ich im Rückblick einfach nur dauerhaft überfordert war und mich ausnahmslos immer unzulänglich gefühlt habe. Außerdem bin ich mit der unterschwelligen Gewissheit aufgewachsen, dem größten Teil der Menschheit moralisch weit überlegen zu sein. Bevor ich das alles verstanden hatte (was nicht bedeutet, dass ich meine Macken überwunden hätte), habe ich wohl meinen Sohn ebenfalls mit dieser Haltung traktiert und ihn in die gleichen inneren Konflikte geworfen, unter denen ich selbst bis heute leide...
Trolliver
Vielversprechender Text - der leider abrupt aufhört. Es gibt schon viele Untersuchungen zur Waldorfpädagogik wie zu deren Schulen, nicht wenige fallen vernichtend aus, gerade aus den vergangenen Jahren. Da tut ein persönlicher Erfahrungsbericht gut, von denen es zu wenige gibt.
Dennoch schon in dem kurzen Bericht schockierend wie erschütternd, wie selbstverständlich der Autorin Worte wie "gleichgeschaltet" aus der Feder kommen. Auch die permanente Wertung (gut und unerwünscht), die Schwarz-Weiß-Sicht (wir und die da draußen).
Ich kenne auch andere, denen es sowohl während ihrer Waldorfzeit als auch anschließend gut ging und geht, zumindest dem Anschein nach und nach eigener Aussage. Dennoch halte ich diese indoktrinierende Schulform für sehr problematisch; für manche Charaktertypen gar für falsch bzw. schädlich.
Glückwunsch an die Autorin für ihre selbstkritische Sicht auf die Dinge. Ehrlichkeit zu sich selbst ist der beste Weg, da rauszukommen. Und natürlich ein liebevolles sich selbst Begleiten.
Lowandorder
@Trolliver …anschließe mich - retundande selbstreferenzielle monaden Systeme - bleiben eben solche •
Wer‘s aufgrund eigener Selbstheilungskräfte beim Gang in die Welt deren Anverwanlung “überlebt“ - hat Glück gehabt! Nothing else. Newahr
Normal Schonn
Cornelia Gliem
@Trolliver Ich kenne auch zwei Schüler, denen die Waldorfschule als Reformschule, als Schule mit freien Lernformen und ohne Notenzwang das Leben gerettet haben - und nicht nur metaphorisch.
Aber ja, die Ideologie dahinter und zumindest doch viele indoktrinierte und indoktrinisierende Lehrer machen aus der Waldorfschule eine gefährliche parallelgesellschaft, die wir uns als Gesellschaft in Deutschland nicht leisten sollten.
Die Vorteile der Waldorfschule könnte man schließlich auch an Regelschulen nutzen!