Wachstum und Klimakrise: Grüner Kapitalismus, rote Paprika
Hat Ulrike Recht – oder stimmt doch, was Malte sagt? Unser Kolumnist fühlt sich manchmal wie ein Fähnchen im Wind.
M anchmal kommt es mir so vor, als sei ich ein Fähnchen im Wind. Bei großen Fragen, bei denen ich nicht weiß, was ich denken soll, lese ich einen Text oder höre einen Podcast und nicke und denke, ja richtig, so ist es. Und dann lese ich einen anderen Text mit entgegengesetzter Meinung und denke wiederum: Ja, stimmt, genau so.
Kann es grünes Wachstum geben?, ist so eine Frage. Darüber gibt es in der taz gerade eine Debatte. Und ich bin dankbar, in einer Redaktion zu arbeiten, in der viele kluge Menschen kluge Dinge schreiben oder im Bundestalk erzählen, dem Podcast der taz. Ich versuche hier eine sehr verkürzte Zusammenfassung der kontroversen Debatte:
Meine Kollegin Ulrike Herrmann, bekannt aus Funk und Fernsehen, argumentiert, dass grünes Wachstum nicht möglich ist: Die Weltwirtschaft benötige viel zu viel Energie, um diese günstig und erneuerbar produzieren zu können, außerdem fehlten Speicher.
Mein bereits arg vermisster ehemaliger Kollege Malte Kreutzfeldt hält dagegen, verweist auf das exponentielle Wachstum beim Ausbau der Erneuerbaren und darauf, dass diese effizienter genutzt würden.
Und dann sehe ich Markus Söder
Und zuletzt schrieb meine Chefin Barbara Junge in der ersten wochentaz, dass der Kapitalismus uns zwar die Klimakrise eingebrockt habe, aber nur er uns wieder retten könne, indem Institutionen wie die Weltbank die Investitionen in Erneuerbare global finanzierten.
Und ich lese das alles und nicke und nicke. Und dann wechsle ich zu einer anderen Seite im Browser, und ich sehe Markus Söder, wie er in einer Schürze der Münchner Tafel für die Kameras posiert. Söder verteilt schrumpliges Gemüse an Bedürftige und verkündet stolz, dass seine Regierung die Tafeln nun stärker unterstütze. Als sei das für eine Regierung ein Erfolg und kein wortwörtliches Armutszeugnis. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland zu einer Tafel gehen, ist seit dem vergangenen Jahr um 50 Prozent gestiegen.
Und dann schalte ich das Radio an und höre eine Reportage über die Tafeln in Großbritannien. Es geht um eine Frau, deren Tochter immer Lebensmittel mitbringt, wenn sie zu Besuch kommt. Weil ihre Mutter nichts für sie kochen könne. Sie ist eine derjenigen, die sich entscheiden müssen: „heat or eat“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und dann möchte ich nicht mehr darüber nachdenken, ob grünes Wachstum möglich ist. Dann möchte ich Markus Söder die schrumplige Paprika aus seiner Hand nehmen und damit sein selbstgefälliges Grinsen abreiben. Ich will keinen grünen Kapitalismus. Und auch keinen sozialdemokratischen, keinen fossilen.
Die Überzeugungskraft des Kapitalismus bestand darin, dass er es eine beeindruckend lange Zeit schaffte, eine Mehrheit am geschaffenen Reichtum zu beteiligen, zumindest im Westen. Diese Zeit scheint mit dem Ende der billigen Energie vorbei zu sein. Wenn in England und Deutschland immer mehr Menschen nach Lebensmitteln betteln müssen und in ihren Wohnungen frieren, obwohl die Erde immer wärmer wird, hat dieses Wirtschaftssystem seine Berechtigung verloren.
Nun gut, werden Sie sagen, Arme gab’s immer. Nur: jetzt ist auch die Mittelschicht dran. Die Natur kaputt machen zum eigenen Vorteil, das war für die Mehrheit lange Zeit okay. Aber wenn sich nicht mal mehr in Deutschland jede Familie mit mittlerem Einkommen ein Häuschen mit Heizung im Grünen leisten kann, ist der Spaß vorbei.
Wieso sollte man ein System retten, das nicht funktioniert? Das weiß ich nicht. Und was danach kommen soll, weiß ich auch nicht. Ich hoffe, dass dazu bald schlaue Texte in der taz erscheinen, nach denen ich mein Fähnchen richten kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“