Vorsitzende der Kultusminister zu Bildung: „Die Not in den Schulen ist groß“

Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) ist neu im Amt, da warten bereits mehrere Krisen. Sie verrät, wie sie den Lehrermangel bekämpfen will.

Eine Frau mit schwarzen haaren und dunklem Mantel steht auf einer Treppe

Katharina Günther-Wünsch ist seit April 2023 Bildungssenatorin in Berlin Foto: Amelie Losier

taz: Sie waren Ende April kaum als Berliner Bildungssenatorin vereidigt, da gab es auch schon zwei Krisenmomente: ein Messerangriff auf zwei Schülerinnen von einem offenbar psychisch kranken Mann an einer Neuköllner Schule und dann wenige Tage später der rassistische Angriff von Jugendlichen auf Berliner Schüler*innen, die auf Klassenfahrt in Brandenburg waren. Haben Sie sich schon erholt von diesem Amtsstart?

Katharina Günther-Wünsch: Wir haben in den letzten Tagen tatsächlich schon einiges erleben müssen, aber da hat sich auch gezeigt: Das Team steht, die Krisenstrukturen in Berlin greifen. Wir hatten die Schulpsychologie gleich vor Ort, sie sind auch jetzt noch in der Schule. Wir haben die Abschlussprüfungen entzerrt. Und in Brandenburg haben die Pädagoginnen und Pädagogen ebenfalls in der Situation gut reagiert. Das beruhigt mich.

40 Jahre, ist seit April 2023 Bildungssenatorin in Berlin und bis Ende des Jahres auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK). Die CDU-Politikerin studierte Chemie, Geschichte und Politik auf Lehramt und arbeitete an verschiedenen privaten und staatlichen Schulen.

Der Angriff auf das Jugendheim, in dem die Schü­le­r*in­nen untergebracht waren, hat eine Debatte über Rassismus und erfolglose Bildungsarbeit gegen rechts ausgelöst. Ex­per­t*in­nen sagen: Das sind die Kinder der Generation Baseballschlägerjahre aus den 90er Jahren. Können Sie da jetzt wirklich beruhigt sein?

Auf keinen Fall kann man da jetzt einfach einen Haken hinter machen. Das muss aufgearbeitet werden. Es ist teilweise Polizeiarbeit, die da nun stattfinden muss. Die betroffene Berliner Schule ist auch schon direkt im Austausch mit dem Bürgermeister und der Gemeinde in Brandenburg. Das ist die Botschaft, die wir jetzt brauchen: Es ist nicht abgetan. Und bei der nächsten Gelegenheit werde ich sicherlich auch mit meinem brandenburgischen Amtskollegen …

… Bildungsminister Steffen Freiberg (SPD), ebenfalls erst seit voriger Woche im Amt …

… ins Gespräch gehen. Wir müssen schauen, wie wir in Zukunft noch besser reagieren können in solchen Situationen und ob es vielleicht auch noch mal strukturelle Maßnahmen geben muss. Was nicht passieren sollte, ist, dass wir ein ganzes Bundesland pauschal verurteilen.

Sie sehen kein systemisches Rassismusproblem in Brandenburg?

Wir müssen jetzt erst einmal sehen, was die polizeilichen Ermittlungen ergeben und wie die allgemeine Lage auch von brandenburgischer Seite eingeschätzt wird. Da setze ich auch auf den intensiven Austausch mit meinem neuen Amtskollegen.

Sie positionieren sich klar gegen rechts, sind aber als Berliner CDU-Politikerin auch in einer Partei, die mit einer bundesweit berühmt gewordenen, rassistischen Vornamenabfrage der Täter in der Neuköllner Silvester-Krawallnacht Schlagzeilen machte. Wie sehr fremdeln Sie manchmal mit Ihrer eigenen Partei?

Es ging darum, mittels Wissens über die Hintergründe von Tätern Präventionsangebote zu schärfen. Dazu hat Kai Wegner [seit Ende April Regierender Bürgermeister in Berlin für die CDU, d. Red.] damals im Wahlkampf auch alles gesagt.

Sie haben selbst einige Jahre als Lehrerin an einer Neuköllner Schule in der Gropiusstadt gearbeitet. Wenn Sie an die Kinder denken, die Sie unterrichtet haben: Denken Sie persönlich, da wäre eine Entschuldigung richtig gewesen?

Der Regierende Bürgermeister hat dazu alles gesagt, was gesagt werden musste.

Zurück zur Bildungspolitik: 27 Jahre hat die SPD Bildungspolitik in Berlin gemacht, nun darf die CDU zeigen, dass sie es besser kann: Sie erben einen dramatischen Fachkräftemangel, marode Schulen und miserable Leistungsdaten der Schüler*innen. Was tun Sie?

Ich glaube, die Lösungen dieser Probleme sind nicht parteipolitisch eingefärbt. Es braucht pragmatische Antworten. Es stimmt, uns fehlen rechnerisch 20.000 Schulplätze, uns fehlen Lehrkräfte …

… im vergangenen Schuljahr waren es rund 1.000 Lehrkräfte, wird das auch in diesem Jahr die Größenordnung sein?

Das kann ich noch nicht sagen, weil wir verlässliche Daten erst zum Ende der Sommerferien haben werden. Neben den fehlenden Schulplätzen und Fachkräften müssen wir aber außerdem dringend über die Bildungsqualität sprechen, wenn wir auf nationale Bildungsrankings schauen – aber auch besonders auf die Berliner Ergebnisse. Fachkräftegewinnung, Schulplätze und Bildungsqualität, das sind die drei großen Baustellen.

Der Fachkräftemangel dürfte sich angesichts der Babyboomer-Jahrgänge, die erst jetzt nach und nach in Rente gehen, absehbar noch verschärfen. Wie definieren Sie angesichts dieser Umstände für sich „Erfolg“?

Im letzten rot-grün-roten Koalitionsvertrag stand, wir wollen 2.000 Lehramtsabsolventen pro Jahr ausbilden, am Ende haben die Unis 700 geliefert. Wir haben nun in den schwarz-roten Koalitionsvertrag ein Soll von 2.500 Absolventen geschrieben. Aber ich halte gar nichts davon, Ihnen jetzt zu sagen, wie viele Lehrkräfte ich am Ende der Legislatur ausgebildet haben will. Wir werden aufgrund der Demografie in den nächsten Jahren immer eine Lücke haben, egal, wie viel wir ausbilden. Die Stellschraube, an der wir nachhaltig drehen müssen, ist die Attraktivität des Lehramtsstudiums. Wir haben im Bereich des Grundschulstudiums bereits jetzt eine Abbrecherquote von rund 40 Prozent – das ist die Rückmeldung aus den Unis, auch weil der fachliche Teil zum Beispiel im Mathestudium sehr stark betont wird.

Sie wollen sich mit den Universitäten anlegen?

Nein, wir machen konstruktive Vorschläge. Wir wollen in Berlin den Bachelor of Education einführen, wo wir schauen: Wie viel Fachwissen braucht ein Grundschullehrer, der ja nicht Diplom-Mathematiker werden will, wirklich und wie viel Didaktik und Pädagogik ist hilfreich? Und wir wollen daran gehen, den Master und das Referendariat parallel laufen zu lassen, ähnlich einem Dualen Studium, um einerseits Studienzeiten zu verkürzen und andererseits Praxisnähe zu schaffen.

Berlin hat dieses Jahr den Vorsitz in der Kultusministerkonferenz. Ihr Schwerpunkt liegt auf der guten Ganztagsgrundschule, auf die jedes Kind ab 2026 bundesweit einen Rechtsanspruch hat. Auch dieses Thema ist eng mit dem Fachkräftemangel verknüpft – Momentan jagen sich die Länder die Uni-Absolvent*innen gegenseitig ab mit attraktiven Angeboten. Werden Sie das ändern können?

Zunächst einmal bedeutet mehr Qualität im Ganztag ja nicht nur: mehr Lehrkräfte. Wir prüfen zum Beispiel in Berlin auch Möglichkeiten für Kooperationen mit Sportvereinen und Musikschulen, um zu einem guten Nachmittagsangebot im Ganztag zu kommen und letztlich auch, um den Stundenausfall in diesen Fächern zu kompensieren. Wir nennen das Kiezschule – die Öffnung der Schule in den Kiez.

Ein Konzept, für das auch die Berliner Grünen schon länger werben. Aber das löst Ihnen nicht das Problem des bundesweiten Lehrkräftemangels.

Es gibt da durchaus Ressourcen, und zwar in allen Bundesländern, die man noch heben kann: Einfach-Lehrer [Lehrkräfte, die nur ein Schulfach studiert haben, d. Red.] oder die vereinfachte Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen. Die Frage ist, wie finden wir mit allen 16 Ländern eine gemeinsame Sprache? Wir werden uns da gemeinsam an einen Tisch setzen müssen, denn wir zerren an einer Tischdecke, die an allen Enden zu kurz ist. Und das Abjagen von Fachkräften ist endlich, weil die Arbeitsbedingungen in allen Ländern leiden aufgrund des Personalmangels.

Werden Sie den Einfluss der Berliner KMK-Präsidentschaft nutzen?

Ein Thema der nächsten Sitzung wird sein: Wie können wir Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland zur Unterstützung des Unterrichts in die Schulen bringen, auch schon bevor sie die nötigen deutschen Sprachkenntnisse haben?

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK hat Anfang des Jahres ein viel beachtetes Positionspapier zum Lehrkräftemangel veröffentlicht, das auf die hohe Teilzeitquote unter Leh­re­r*in­nen abzielt: Anträge auf Teilzeit würden dann nur noch begründet gewährt. Wie stehen Sie dazu?

In Berlin werden wir an der Teilzeitstruktur gar nichts ändern, das haben wir auch so im Koalitionsvertrag festgehalten. Ich halte nichts von solchen dogmatischen Ideen.

In Brandenburg sah sich kürzlich Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) zum Rücktritt gezwungen, weil sie in ihrer eigenen Fraktion keine Unterstützung dafür fand, Personal von gut ausgestatteten Schulen an weniger gut versorgte umzuverteilen. Eine politisch vielleicht gefährliche, aber in der Sache doch richtige Idee?

Es ist erst mal eine mögliche Idee, wie man steuern kann. In Berlin haben wir mit der Schultypisierung ein ähnliches System – von 1, wenig belastet, bis 7, sehr belastet. Aber nun haben wir überall eine Mangelsituation. Und solange das so ist, solange auch am Gymnasium in Steglitz Personal fehlt, sollte man den Schulen freie Hand bei den Einstellungen lassen.

Die aktuelle IGLU-Studie zur Lesekompetenz von Viertklässlern zeigt, dass die bildungspolitischen Maßnahmen der letzten 20 Jahre keinerlei Wirksamkeit zeigen, was die Entkopplung von Elternhaus und Lernerfolg betrifft. Nur Bulgarien hat da einen schlechteren Wert. Alarmiert Sie das?

Ja, die Ergebnisse sind alarmierend. Was aber nicht heißt, dass ich alle bisherigen Maßnahmen in Frage stelle. Allerdings müssen wir neue Wege und Alternativen suchen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

Das sogenannte Startchancenpaket soll Teil dieses Wegs sein. Der Bund will 4.000 Schulen in schwieriger Lage über zehn Jahre hinweg unterstützen. Die Länder beharren auf einer Verteilung nach Königsteiner Schlüssel, also nach Größenproporz. Ist das nicht wieder die berühmte Förderung mit der Gießkanne – die Sie ja auch schon oft deutlich kritisiert haben?

Es wird ja nicht alles nach Königsteiner Schlüssel verteilt, es gibt noch eine Position, bei der auf Sozialdaten geschaut wird.

Das ist ein sehr kleiner Teil, diese Quote macht gerade mal fünf Prozent aus.

Genau. Es sollen Sozialstrukturdaten herangezogen werden: Die sogenannte ndH-Quote [nicht-deutsche Herkunftssprache, d. Red.], die Armutsgefährdung. Da sind nun nicht alle Bundesländer glücklich, weil diese Faktoren nicht in allen Bundesländern die gleiche Bedeutung haben. Sozialer Brennpunkt definiert sich nicht überall über die ndH-Quote. Meiner Meinung nach müssen wir nachschärfen, damit das Geld tatsächlich all denen zugutekommt, die schlechte Startchancen haben. Aber noch ein größerer Knackpunkt ist die Finanzierung: Das vom Bund im Koalitionsvertrag angekündigte Geld kommt nicht. Und um die Co-Finanzierung wird ebenfalls noch hart gerungen. Eine hälftige Kostenübernahme kommt nicht in Frage, das ist Konsens unter allen 16 Ländern. Das Ziel ist, 2024 in die Umsetzung zu kommen. Wir sind bereits im Sommer 2023. Und wir sehen gerade, wie lange Haushaltsdebatten auf Bundesebene dauern.

Nochmal: Fünf Prozent Sozialquote – egal nach welchen Kriterien und durch wen finanziert im Gesamtpakt – ist nicht viel. Hätte die höher ausfallen müssen, wenn man es mit Chancengerechtigkeit ernst meint?

Die Quote mag für den einen oder anderen unbefriedigend sein.

Sprechen Sie da aus Berliner Sicht?

Als Bildungssenatorin hätte ich mir mehr als fünf Prozent Sozialquote gewünscht. Als KMK-Präsidentin bin ich froh, dass wir einen Konsens zwischen 16 verschiedenen Länderregierungen haben. Die Schulen erwarten von uns jetzt, dass sie in 2024 Mittel haben, die ihnen zusätzlich zum Landeshaushalt zur Verfügung stehen. Und wenn ich erst im Mai 2024 weiß, dass ich zusätzliche Mittel für Schulsozialarbeit habe, dann habe ich als Schulleitung im August garantiert keinen einzigen zusätzlichen Mitarbeiter eingestellt. Deshalb brauchen wir eine schnelle Einigung mit dem Bund.

Gerade verkämpft sich die Bundesregierung in der Haushaltsplanung, das FDP-geführte Finanzministerium mauert bei anderen sozialen Themen wie der Kindergrundsicherung oder der Geflüchtetenunterbringung …

Die Not in den Schulen ist groß. Alle 16 Länder haben ein Interesse am Startchancenprogramm. Und der Bund hat es im Koalitionsvertrag festgehalten, er steht also in Wort und Pflicht.

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