Vor der Scholz-Wahl zum Kanzler: Ohne Visionen und Gefühle

Olaf Scholz wird der vierte SPD-Kanzler sein – nach Brandt, Schmidt und Schröder. Doch den sozialdemokratischen Zauber von einst sucht man vergebens.

Ein Mann jubelt

Lange her: Als Gerhard Schröder im Herbst 1998 die Wahl gewann, gab es Freibier vom Fass Foto: Sven Simon/imago images

Am 27. September 1998 zwängten sich fünf junge Leute in ein kleines Auto, um quer durch die Republik nach Bonn zu fahren. Das Ziel: Die SPD-Zentrale, wo der erwartete Wahlsieg Gerhard Schröders aus nächster Nähe erlebt werden sollte. Problemlos konnte sich die unangemeldete Gruppe von StudentInnen – die einen SPD-Anhänger, die anderen Erlebnishungrige – durch die Kontrollen schmuggeln, Security war damals noch nicht so ein Thema.

Das Erich-Ollenhauer-Haus sah nicht nur von außen, sondern auch von drinnen enttäuschenderweise wie eine Gesamtschule in Bielefeld aus, dafür war es zum Bersten voll. Irgendwann nach 18 Uhr stellte sich Schröder mit seinem Parteichef Oskar Lafontaine auf die Bühne und ließ sich feiern. Unter die Aufgedrehtheit der kleinen Reisegruppe mischten sich schnell Irritationen: Warum standen Schröder und Lafontaine vor einer blauen Leinwand statt einer roten? Was sollte der rätselhafte Spruch „Die neue Mitte“ an der Wand?

Und Schröders Grinsen hatte etwas Selbstgefälliges, so als wollte er sagen: Danke für die Macht, die ihr mir naiverweise gegeben habt. Den Abend sollten diese Beobachtungen aber nicht trüben. Im Presseraum standen auf Tischen klobige Telefone aus den achtziger Jahren. Stolzer Anruf bei den Eltern: Ich bin mitten im Geschehen! Es gab Freibier vom Fass.

SPD-Kanzler sind in der bundesdeutschen Geschichte eher selten. Nur in 20 von 72 Jahren haben sie bislang den Kanzler gestellt. Bis in die sechziger Jahre existierten in der SPD noch Reste einer Arbeiterbewegungskultur, einer Gegenkultur zur Mehrheitsgesellschaft. Man fühlte sich als Außenseiter, denen die Macht vorenthalten wurde. Die Alten kannten noch die Geschichten ihrer Eltern, wie sie sich im Kaiserreich vor der Polizei versteckten. In diesem Milieu hat man seine Kinder natürlich beim Arbeitersportverein angemeldet und nicht bei der bürgerlichen Konkurrenz. Und wenn Herbert Wehner im Bundestag sprach, wurde der Fernseher lauter gestellt.

Es flossen Freudentränen

Als Willy Brandt 1969 zum Kanzler gewählt wurde – der erste SPD-Kanzler seit 1930 –, flossen in diesem Milieu Freudentränen. Die flossen erst recht, als CDU-Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel 1971 eine Bundestagssitzung mit der Nachricht unterbrach, „dass die Nobelpreiskommission des norwegischen Parlaments dem Herrn Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland den Friedensnobelpreis verliehen hat“. Mit seiner Wahl habe Hitler endgültig den Krieg verloren, schrieb Brandt etwas Ich-bezogen in seinen Memoiren. Aber er hatte nicht Unrecht.

Brandt war in diesem Milieu mit seiner Biografie ein Gigant: Linkssozialist in der späten Weimarer Republik, Flucht aus Deutschland 1933 mit einem Fischerboot nach Dänemark und weiter nach Norwegen, illegale Parteiarbeit unter Decknamen und unter Lebensgefahr in Berlin 1936, Rückkehr nach Deutschland nach dem Krieg als norwegischer Staatsbürger, verachtet von Konservativen als Vaterlandsverräter.

Die sogenannten kleinen Leute profitierten enorm von der Brandt-Regierung, aber am Ende wuchsen die Staatsschulden, die Wirtschaft kriselte. Auch deswegen folgte Helmut Schmidt, der als ehemaliger Wehrmachtsoberleutnant aller­dings von anderem Schlag war. Schmidt gehörte zu der Kohorte orientierungsloser junger Leute nach 1945, die sich aus eher pragmatischen Gründen der SPD anschlossen – die CDU war ihnen zu kirchennah, die FDP zu dünkelhaft.

1982 war die SPD eine zerrissene Partei

Viel später sollte Schmidt in seiner Rolle als gutmütiger Uropa-Typus von Sandra Maischberger und anderen in Talkshows hofiert werden, aber damals litten viele Sozialdemokraten unter seinem autoritären Ton – der Sozifunktionären freilich nie ganz fremd war. Der bayerische SPD-Kulturpolitiker Dieter Lattmann notierte über eine Kabinettssitzung unter Schmidt, bei der er Gast war: „‚Nicht verstanden‘, sagte er schneidend und zündete sich eine seiner Mentholzigaretten aus der Packung neben dem Coca-Cola-Glas an. Umständliche Leute wollte er nicht an diesem Tisch haben. … ‚Erklären Sie das noch mal‘, forderte er, ‚aber so, dass es ein normaler Mensch begreifen kann.‘“

Die SPD hat mit dafür gesorgt, dass die siebziger Jahre ein kaltes Jahrzehnt waren, obwohl sie es doch nur gut meinte. Intakte Arbeiterwohnquartiere mit Klo auf halber Treppe wurden abgerissen, damit die Arbeiter in Wohnsilos am Stadtrand ein vermeintlich besseres Leben führen konnten.

Der Fortschrittsbegriff der SPD ist nicht makellos. Schmidt nahm die Ökologie nicht ernst, mit dem kulturellen Wandel nach 68 konnte er nichts anfangen. Am Ende, 1982, war die SPD eine zerrissene, ausgelaugte Partei. Auf Hoffnung folgte Enttäuschung.

Das Drama wiederholte sich mit Schröder, bekanntlich wegen Hartz IV. Am Anfang konnte Schröder noch den Sozistolz wiederbeleben, dass es nach langer Zeit einer von ihnen ins Kanzleramt schaffte. Aber die spätere Agenda 2010 signalisierte den Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten: Du bist schuld an deiner Lage. Es war eine komplette Umkehrung des alten sozialdemokratischen Ziels, die Unterprivilegierten zu ermächtigen, aber nicht zu gegängelten Opfern zu machen, denen man „Aktivierungen“ aufdrückt und mit Geldkürzung unter das Existenzminimum droht. Über Hunderttausend Mitglieder traten aus der SPD aus.

Jetzt, wo Olaf Scholz zum vierten SPD-Kanzler der Bundesrepublik gewählt wird, ist nichts mehr übrig vom alten Zauber. Große Visionen oder Gefühle bietet er nicht. Deshalb ist Kevin Kühnert in der SPD so beliebt, weil er mit seiner kämpferischen Rhetorik an frühere Zeiten erinnert. Scholz dagegen wird eher als Manager einer komplizierten Dreierkoalition auftreten und ein Programm abarbeiten. Das hat den Vorteil, dass er Hoffnungen auch nicht enttäuschen kann. Aber Tränen werden in SPD-Kreisen sicherlich nicht vergossen werden, wenn Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am Mittwoch das Wahlergebnis verkündet.

Doch wenn Scholz dann die Wahl annimmt und die Hand zum Amtseid hebt, wird für einen Moment die Erinnerung an 1998 aufflackern und daran, dass ein SPD-Kanzler immer noch ungewöhnlich ist in der Bundesrepublik.

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