Verurteilung Osman Kavalas in der Türkei: Justiz im Auftrag Erdoğans
Lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen: Ein türkisches Gericht verhängt gegen den Kulturmäzen Osman Kavala das härteste Urteil.
![Menschen halten Schilder in türkischer Sprache in die Höhe Menschen halten Schilder in türkischer Sprache in die Höhe](https://taz.de/picture/5525056/14/Kavala-Tuerkei-1.jpeg)
Wegen angeblicher Fluchtgefahr ließ das Gericht alle anwesenden Angeklagten noch im Gerichtsaal festnehmen und wie bereits Osman Kavala in Untersuchungshaft deportieren.
Das Verfahren gilt als wichtigster politischer Prozess der letzten Jahre. Es ist eine politische Abrechnung mit den landesweiten Protesten gegen den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die sich am Istanbuler Gezi-Park entzündet hatten.
Gegen die damals ursprünglich lokalen Demonstrationen gegen die Abholzung eines kleinen Parks im Zentrum von Istanbul – dem Gezi-Park – hatte sich wegen des völlig unverhältnismäßig harten Einschreitens der Polizei in wenigen Tagen eine landesweite Protestbewegung entwickelt, die sich gegen die immer repressivere Herrschaft Erdoğans insgesamt richtete. Während einige Minister damals mit den Protestierenden sprechen wollten, setzte Erdoğan eine harte Haltung durch und ließ die Proteste gewaltsam niederschlagen.
Verurteilung ohne jeden Beweis
Beweise für den angeblichen versuchten Staatsstreich, der den Angeklagten vorgeworfen wird, hatte die Staatsanwaltschaft nicht. Für die angebliche Finanzierung und Steuerung der Proteste durch die Angeklagten – Kavala soll auch noch im Auftrag ausländischer Mächte gewirkt haben – gab es keinerlei Beweise. Es ging allein darum, Rache für die Proteste von 2013 zu nehmen.
Insbesondere für den schon so lange inhaftierten Osman Kavala hatten sich auch international viele Menschen eingesetzt. Kavala, ein Unternehmer, der sein Geld unter anderem in die Kulturstiftung „Anadolu Kültür“ gesteckt hat, die sich für die Minderheiten des Landes einsetzt, ist zum Symbol eines gewaltlosen Widerstandes gegen Erdoğan geworden.
Schon 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Entlassung aus der U-Haft gefordert, im letzten Herbst hatten insgesamt zehn BotschafterInnen westlicher Nationen, darunter die USA, Frankreich und Deutschland sich für Kavalas Freilassung eingesetzt, ohne Erfolg.
Im völlig überfüllten Gerichtssaal hatte bis zuletzt die Hoffnung überwogen, Osman Kavala würde unter Anrechnung der viereinhalb Jahre U-Haft in einen Hausarrest entlassen. Als das Gericht vor der Urteilsverkündung jedoch den Saal räumen ließ, ahnten die meisten, dass jetzt eine harte Direktive aus dem Präsidentenpalast vollstreckt würde.
Jede Hoffnung auf den Rechtsstaat ist dahin
Das Gericht sei „kein legitimes Gericht“, hatte Osman Kavala, der aus der U-Haft per Video zugeschaltet war, in seiner letzten Stellungnahme gesagt. Sollte er zu lebenslanger erschwerter Haft verurteilt werden, „ist das ein politisches Attentat auf mich durch Präsident Erdoğan unter Benutzung der Justiz“. Tatsächlich hatte einer der drei Richter es gewagt, ein Sondervotum abzugeben und einen Freispruch wegen Mangels an Beweisen gefordert.
Nach der Urteilsverkündung gab es eine spontane Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Alle Beobachter des Prozesses kritisierten das Urteil als rein politisch motiviert. Von Amnesty International über Human Rights Watch bis zu den Regierungen der USA und Deutschlands und der EU-Kommission wurde das Urteil scharf kritisiert.
Kristian Brakel, Vertreter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, sagte, das Urteil sei „ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die noch eine Resthoffnung auf den türkischen Rechtsstaat hatten.“
Viele hoffen nun, dass sich Erdoğan nach den Wahlen im kommenden Jahr als Ex-Präsident für seine Taten selbst vor Gericht verantworten muss. „Wenn wir die Wahlen gewinnen, werden wir ihn zur Verantwortung ziehen “, sagten Vertreter der Oppositionsparteien.
International könnte Erdoğans Türkei bald ganz offiziell als Unrechtsstaat gebrandmarkt werden. Der Europarat hat wegen der Missachtung des Menschenrechtsgerichtshofes ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei eingeleitet. Das Urteil dürfte das Verfahren nun beschleunigen.
Noch in der Nacht zu Dienstag wurde an verschiedenen Orten der Türkei demonstriert. Für Dienstagabend ist in Istanbul eine große Kundgebung geplant.
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