Neun Jahre nach Beginn der Gezi-Proteste: Hunderte Festnahmen in der Türkei

„Die sind krank, das sind Flittchen“, sagt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan über die Gezi-Protestierenden. Erneut wird demonstriert.

Menschen bei einer Demonstration mit Fahnen.

31. Mai in Istanbul: Demonstration zum Jahrestag der Gezi-Proteste Foto: Dilara Senkaya/reuters

ISTANBUL dpa/afp | Neun Jahre nach Beginn der Gezi-Proteste in der Türkei hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Teilnehmer verunglimpft. „Die sind krank, das sind Flittchen“, sagte Erdoğan am Mittwoch im türkischen Parlament. Er bezog sich dabei auf einen angeblichen Vorfall, bei dem Demonstrierende Bierflaschen in eine Moschee gebracht hätten.

Bei Demonstrationen zum Jahrestag der Proteste wurden am Dienstagabend zahlreiche Menschen festgenommen. Allein in Istanbul seien 169 Menschen von der Polizei in Gewahrsam genommen worden, sagte die Anwältin Ezgi Önalan der Deutschen Presse-Agentur. Sie warf der Polizei vor, „unrechtmäßig“ gehandelt und Tränengas gegen die Protestierenden eingesetzt zu haben. Auf der Polizeistation würden vier der Demonstrierenden weiterhin festgehalten. Önalan zufolge seien diese dort geschlagen worden.

Bei den Protesten riefen kleinere Gruppierungen in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul den Slogan „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Die Polizei unterband die Proteste teilweise brutal, wie eine dpa-Reporterin berichtete. Auch in zahlreichen anderen Städten gingen Menschen auf die Straße.

Ende Mai 2013 hatten die Gezi-Proteste am Taksim-Platz ihren Ausgang genommen. Sie richteten sich ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Areal des Gezi-Parks am Taksim. Die Demonstrationen weiteten sich zu landesweiten Protesten gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die regierende islamisch-konservative AKP aus. Die Regierung ließ die Proteste brutal niederschlagen. Zahlreiche Menschen sitzen wegen der Teilnahme an den Protesten in türkischen Gefängnissen.

Türkische Oppositionspolitikerin frei

Die türkische Oppositionspolitikerin Canan Kaftancioglu ist nach kurzer Haft wieder freigekommen. Kaftancioglu war am Dienstag nach Angaben aus ihrer Partei CHP in das Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul gebracht worden. Dort wurde sie am Abend freigelassen. Die 50-Jährige war bereits 2019 wegen einer Reihe von Vorwürfen verurteilt worden. Sie soll unter anderem „Terror-Propaganda“ verbreitet und Präsident Recep Tayyip Erdoğan beleidigt haben.

Mitte Mai war die Verurteilung bestätigt und die Gefängnisstrafe auf vier Jahre und elf Monate festgelegt worden. Die Politikerin der linksnationalistischen CHP darf weder bei den Parlaments- noch bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten. Die CHP ist die zweitgrößte Partei im türkischen Parlament.

Die Vorwürfe gegen Kaftancioglu, CHP-Chefin in der Provinz Istanbul, bezogen sich in erster Linie auf Einträge im Online-Dienst Twitter in den Jahren 2012 bis 2017. Die heute 50-Jährige hatte unter anderem den Tod eines 14-Jährigen durch eine Tränengas-Granate bei den regierungskritischen Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 kritisiert.

Am 12. Mai hatte das Oberste Berufungsgericht der Türkei die Verurteilung von Kaftancioglu bestätigt. Am 21. Mai nahmen zehntausende Menschen in Istanbul an einer Solidaritätsdemonstration für die Politikerin teil.

Istanbuler Bürgermeister vor Gericht

Kaftancioglu hatte eine zentrale Rolle beim Sieg der Partei bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul im Jahr 2019 gespielt. Die überraschende Wahl des CHP-Politikers Ekrem Imamoglu war eine empfindliche Niederlage für Erdoğan und dessen islamisch-konservative AKP.

Imamoglu musste sich am Mittwoch vor Gericht verantworten. Ihm wird vorgeworfen, Staatsbedienstete beleidigt zu haben. Ihm drohen bis zu vier Jahre Haft.

Aktivisten und internationale Organisationen werfen Erdoğan regelmäßig vor, die Justiz als politisches Werkzeug zu gebrauchen, insbesondere seitdem nach dem gescheiterten Putsch 2016 tausende Richter abgesetzt wurden.

Ende April war bereits der Kulturförderer Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt worden, was international scharf kritisiert wurde. Der Geschäftsmann soll durch Finanzierung der Gezi-Park-Proteste und Beteiligung am Putschversuch den Sturz der Regierung geplant haben.

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