Versprechen der Ampel-Koalition: Fortschritt! Welcher Fortschritt?

Weniger Regeln, weniger Tradition, mehr Freiheiten für die Einzelnen. Die Ampel verspricht Verbesserung – aber nicht unbedingt soziale Gerechtigkeit.

Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindnerkommen zu einer Pressekonferenz, um den gemeinsamen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die künftige Bundesregierung vorzustellenistian Lindner

Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner von der Ampel Foto: dpa

Am Mittwoch­mittag steht Olaf Scholz in ­einer ehemaligen Lagerhalle im Berliner Westhafen. „Die Ampel steht“, sagt er. Der Koalitionsvertrag ist fertig. Plan erfüllt. Scholz liest den Text meist vom Blatt ab. Jedes Wort soll stimmen. Er wendet den Blick zum Publikum und sagt: „Wir wollen mehr Fortschritt wagen.“

Das ist ein abgewandeltes Zitat aus der Regierungserklärung des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik, von Willy Brandts Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Er ist zur Chiffre der goldenen Ära der Sozialdemokratie geworden, der Zeit von Bildungsreform und Entspannungspolitik. Ein Schimmer von diesem Glanz soll nun auch auf den nüchternen Olaf Scholz und die Ampel fallen.

„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ lautet der Titel des Koalitionsvertrags. Fortschritt taucht darin ein dutzend Mal und etwas wahllos auf. Die politische Prosa bemüht gerne Signalworte wie Aufbruch und Dynamik, Freiheit und Zukunft. Aber Fortschritt? Der ­Duden schlägt sperrig „Aufwärtsbewegung“ und „Höherentwicklung“ als Synonyme vor. Fortschritt ist als Marketingwort out. Wer die Wortkombination Fortschritt und Werbung ­googelt, stößt als Erstes auf ­einen Videoclip von 1985, in dem der VEB Fortschritt in grünstichigen Bildern DDR-Mähmaschinen präsentiert: „Robust, zuverlässig, einsatzfähig bis 40 Prozent Strohfeuchte.“ Fortschritt ist ein Wort von gestern, als Buzzword mit sinnstiftender Wärme­abstrahlung eher untauglich.

Fortschrittsskepsis eingemottet

SPD, Grüne und FDP scheinen es mit dem Fortschritt aber ernst zu meinen. Für die Liberalen waren Freiheit und Fortschritt schon immer ein harmonischer Doppelklang. Fortschritt passt zu dem etwas anstrengenden, aufmunternden Daueroptimismus, der seit Guido Westerwelle die FDP-Rhetorik prägt. Die Sozialdemokratie wiederum hat sich in ihrer Post-Agenda-Krise an einen um Nachhaltigkeit erweiterten Fortschrittsbegriff geklammert, auch mangels anderer identitätsstiftender Formeln.

Die Grünen haben sich von der anderen Seite angenähert. Mit dem Nullwachstum und der ökologischen Verzichtsmoral haben sie auch die Fortschrittsskepsis eingemottet. Jetzt feiern sie, wie Robert Habeck am Mittwoch neben Scholz verkündete, „die Vereinbarkeit von Wohlstand und Klimaschutz“. Der Fortschrittsbegriff ist für die Ampel zudem als Grenzmarkierung zur Union vorteilhaft. Konservative fremdeln traditionell mit Zukunftsverheißungen.

Wirklichkeit eines Einwanderungslandes

Löst der Koalitionsvertrag ein, was die Ampel verspricht? Pragmatisch heruntergepegelt bedeutet Fortschritt schlicht Verbesserung. Die findet sich in der Tat dort, wo SPD, Grüne und FDP ähnlich ticken: bei der Gesellschaftspolitik. Der Reigen der Reformen reicht von der Legalisierung von Cannabis über die Abschaffung des Paragrafen 219a, des Werbeverbots für Abtreibungen. Lesbische Mütter werden mehr Rechte haben, und auch 16-Jährige sollen den Bundestag wählen dürfen. Die Botschaft ist: Weniger Regeln, weniger Tradition, mehr Freiheiten für die Einzelnen.

Die Ampelregierung will auch den GesetzesdDschungel für Migranten lichten. Der Zwang für Jüngere, sich zwischen dem deutschen und einem anderen Pass zu entscheiden, entfällt. Geflüchtete sollen früher arbeiten und eher die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen können. Beides ist eine Anpassung an die Wirklichkeit eines Einwanderungslandes – für die Betroffenen ein Fortschritt.

Die BürgerInnen dürfen mehr, der Staat reguliert weniger. Diese Fundamentalliberalisierung ist ein langwelliger Trend in der Bundesrepublik. Die Ampel malt in diesem Bild nun weiß gebliebene Flecken aus.

Echo der Entwertung

Wenn man Fortschritt aber nicht nur als pragmatische Verbesserung, sondern als Weltanschauung ernst nimmt, hat der Begriff etwas Abgründiges. Fortschritt ist kein unschuldiges Wort. Es war das Motto, mit dem sich der globale Kapitalismus (und später der Staatssozialismus) rabiat Bahn brach und weltweit Schneisen der Zerstörung schlug. Als positiver Zentralbegriff der Moderne ist er schon vor Tschernobyl und Fukushima fragwürdig geworden. Der Fortschritt hat immer Opfer fabriziert. Jeder technische Innovationsschub hinterlässt verzweifelte Verlierer und triumphierende Gewinner.

Im 21. Jahrhundert vergrößert die Digitalisierung in den OECD-Staaten dramatisch die soziale Ungleichheit. Eliten und globalisierungsaffine städtische Milieus gewinnen in diesem Prozess, die alten Mittelschichten in den Provinzen und die Arbeiterschaft verlieren. Der aggressive Rechtspopulismus ist auch ein Echo der Entwertung der Provinz.

Ein gigantisches Projekt

Der Soziologe Ulrich Beck hat die Idee der „reflexiven Modernisierung“ entwickelt, um den „folgenblinden, gefahrentauben“ Fortschritt einzu­hegen. Alle technischen und wissenschaftlichen Innovationen müssen demnach auf ihre Folgekosten gecheckt und auch verhindert werden können. Das gilt nicht nur für ökologische Verwüstungen, sondern auch für soziale Kollateralschäden des Fortschritts.

Folgt die Ampel diesem selbstreflexiven Verständnis von Fortschritt? Das ehrgeizigste Projekt der Ampel scheint diesen über sich selbst aufgeklärten Fortschrittsbegriff zu verkörpern: der klimaneutrale Umbau der Industrie. In nur acht Jahren soll 80 Prozent des Stroms aus Ökoquellen kommen. Das geht nur mit rasantem Ausbau von Wind- und Solarenergie und Stromtrassen mit schneller Genehmigung (die vor Ort für Verbitterung sorgen werden).

Die komplette Transformation der Energieerzeugung ist ein gigantisches Projekt. Und eine technologische Innovation, die auch Verlierer produzieren wird, etwa den Facharbeiter, der bei VW Motoren baut, oder den Kohlekumpel in der Lausitz.

Ungleichheitsschübe verdichten sich nicht

Dieser Umbau wird aber auch enorme neue Nachfrage erzeugen – nach Industriearbeit und Handwerk. Wer derzeit in einer Großstadt einen Heizungsbauer sucht, hat eine Ahnung davon, was in zehn Jahren los sein wird, wenn alle Ölkessel und Gasthermen durch Ökostrom ersetzt werden. Die Babyboomer gehen genau in dem Moment in Rente, in dem mehr FacharbeiterInnen und HandwerkerInnen für den Klimaumbau gebraucht werden.

Die Ungleichheitsschübe durch Digitalisierung, den Klimaumbau und die demografische Veränderung verdichten sich nicht zu einer Krise. Sie verstärken sich nicht, sie kreuzen sich und heben sich zum Teil womöglich auf. Der demografisch bedingte Mangel an Arbeitskräften wird Lohndumping bremsen. Auch die Effekte von Digitalisierung, die eher Jobs kostet, und der klimaneutrale Umbau der Ökonomie, der Jobs schafft, wirken gegenläufig. Einen Automatismus für mehr Gerechtigkeit gibt es jedoch nicht.

Verengter Fortschrittsbegriff

Das Bild ist zwiespältig. Der globale Finanzkapitalismus schafft eine extrem ungleiche Vermögensverteilung und eine Klasse, die sich per Erbschaft wie im Feudalismus als Elite reproduziert. Um diese von digitaler Umwälzung beschleunigte Ungleichheit auszugleichen, wäre eine entschlossene Umverteilung von oben nach unten nötig. Davon ist bei der Ampel keine Rede. SPD und Grüne haben ihre ohnehin vorsichtigen Steuererhöhungspläne mit Rücksicht auf die FDP schon vor den Koali­tionsverhandlungen in die Schublade geräumt. Das einzige Mittel, um die Ungleichheit zu mildern, ist der Mindestlohn von 12 Euro, der das Lohnniveau im unteren Drittel insgesamt liften wird. Das ist etwas, aber zu wenig.

Laut Koalitionsvertrag wird sich bei Leiharbeit, Tarifbindung und befristeten Jobs – eigentlich Herzensthemen der SPD – nicht viel ändern. Dass die SPD-Linke darüber noch nicht mal ein kritisches Wort verliert, ist bemerkenswert. Die Ampel scheint somit einen Fehler der Post-68er Linken zu wiederholen oder wenigstens nicht zu korrigieren. Die politische Linke nach 68 folgte einem individualistisch verengten Fortschrittsbegriff. Sie schrieb aus guten Gründen individuelle Freiheiten und Selbstverwirklichung groß – kollektive soziale Rechte interessierten sie eher wenig.

Leistung wird belohnt

Details des Koalitionsvertrages zeigen einen anderen roten Faden: Leistung wird belohnt, wer nichts leistet und sozial unten ist, bestraft. Geflüchtete, die arbeiten, sollen eher bleiben dürfen, Geflüchtete ohne Job schneller abgeschoben werden. ALG-II-Empfängern, die sich weiterbilden wollen, werden neue Brücken gebaut, Hartz-IV-Empfänger ohne Bildungsehrgeiz werden wohl keinen Euro mehr bekommen.

Da treffen sie sich: eine wirtschaftsliberale Politik, die den kommenden Arbeitskräftemangel im Blick hat, die sozialdemokratische Fördern-und-fordern-Moral und ein verkürzter Fortschrittsbegriff.

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