Verschwörungstheorien und Corona: Alternative Wahrheitssucher
Der Drang, die Mächte zu entlarven, die hinter allem stecken, hat alternative Bewegungen schon vor Corona begleitet.
I n diesen Tagen sind die Menschen verständlicherweise gereizt. Man tut gut daran, sich über jedes Lächeln zu freuen und nicht jeden Anraunzer auf die Goldwaage zu legen (in Berlin kam man anders ohnehin noch nie weiter).
Aber es ist nicht nur deswegen, weil jeder von uns gerade seinem ganz persönlichen Stresstest unterzogen wird, dass wir mit denen nachsichtig sein und freundlich bleiben sollten, die für eine unerhörte Lage bei überkommenen, ja abgeschmackten Welterklärungen Rettung suchen. Die – gar nicht so vielen – LeserInnenbriefe etwa, in denen eine „mainstreamige Berichterstattung zum Coronavirus“ moniert wird, die uns und anderen Medien den Kotau vor den Interessen dunkler Mächte im Hintergrund vorwerfen: Sie sind ein Aufschrei der Verlorenen, die toten Äste am Baum der Entwicklung kritischen Denkens. Wenn Thomas Mann in seinem berühmten Essay von „Bruder Hitler“ sprechen konnte, dann müssten wir – wenn wir es denn gerade nur dürften! – die „Geschwister Verschwörungstheoretiker“ liebevoll in den Arm nehmen und ihnen wie gerade unseren Kindern zärtlich ins Ohr flüstern: „Habt keine Angst: Wir schaffen das.“
Und das, obwohl wir dessen selbst keineswegs sicher sein können; obwohl wir selbst manchmal eine Scheißangst haben: Aber Erwachsensein macht nun mal aus, in der Krise von sich selbst absehen zu können; die eigenen Marotten, Wünsche und Neurosen in den Griff zu bekommen und seine Kräfte für andere, für Schwächere zu mobilisieren.
Zu diesem Erwachsensein gehört zweifellos, für Grundrechte auch in Zeiten der Pandemie einzutreten oder politischen Druck auszuüben, damit die EU endlich Solidarität und Vernunft zeigt, ob mit der Einführung von Eurobonds oder der Evakuierung der Flüchtlingsstraflager in Griechenland. Und dazu gehört auch, jedem übereifrigen Polizisten oder Blockwart in der Nachbarschaft mit Hinweis auf Vernunft und gutes Benehmen zu begegnen.
Es ehrt den Menschen, dass er nach Erkenntnis strebt. Wer aber, anstatt in den Spiegel zu gucken, immer nur sucht, was dahinter sich vermeintlich verbirgt, verliert sich selbst. Das Virus ist real, und die Maßnahmen zum Schutz von uns allen liegen an der unteren Schwelle des epidemiologisch angezeigten. Bleiben Sie also bitte gesund – auch seelisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo