Freiheit in Zeiten von Covid-19: Halt auf freier Strecke
Wenn die Gesellschaft wieder hochfährt, darf sie nicht bloß zur Subjekt-Freiheit zurückkehren. Sie muss auch an freieren Grundbedingungen arbeiten.
E s muss schon eine ernsthafte Gefahr bestanden haben, wenn der Zug mitten im schönsten Betrieb auf freier Strecke angehalten wurde. Sollte hier jemand etwa die Notbremse betätigt haben? Den Anordnungen des Personals sei unbedingt Folge zu leisten, verkünden die Lautsprecher. Man soll sein Abteil nicht mehr verlassen, es sei denn um das Dringendste zu erledigen. Mund und Nase bedecken und Abstand zum nächsten Mitreisenden halten! Man hat derlei schon in Filmen gesehen.
Nach einiger Zeit wird einem klar, wie sehr – paradox genug – die Stabilität des Ganzen auf der Beweglichkeit beruhte. Wenn die Maschine zur Ruhe kommt, werden die Menschen unruhig. Und das Personal gibt seine Anweisungen ja auch eher widerwillig. Die Notwendigkeit ist nicht unbedingt in ihrem Interesse. Noch nicht. Und was ist mit der Freiheit? Man kommt jetzt ins Grübeln; man hat ja Zeit.
Freiheit, hat ein sehr preußischer Philosoph (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) einst gesagt, sei die Einsicht in die Notwendigkeit. Im Küstenland, genauer, in Amsterdam, behauptete ein anderer (Baruch de Spinoza), es könne von Natur aus so wenig wie von Staat und Gesellschaft aus so etwas wie „Willensfreiheit“ geben, dafür aber eine „Urteilsfreiheit“. Schließlich erkannte eine große Kommunistin (Rosa Luxemburg), dass Freiheit immer nur die Freiheit der anderen sei.
Mit diesen drei Bedingungen für Freiheit könnte man sich’s im Abteil so gut es eben geht bequem machen, schließlich sitzen wir hier alle gemeinsam fest, nicht wahr. Ich bleibe in meinem Abteil, bedecke Mund und Nase und halte Abstand zu den Mitreisenden, nun ja, den Mit-Nichtreisenden jetzt, nicht weil ich den Anordnungen des Personals folge, sondern weil es das Richtige ist. Und weil ich ja mit der Bewegungs- keineswegs die Urteilsfreiheit verloren habe, ist mir durchaus unbenommen, Unfähigkeit, Korruption und Missbrauch beim Personal zu sehen. Und weil ich meine Freiheit nur als gerecht geteilte und ebenso als gegebene wie genommene verstehen kann, so ist die Rücksicht auf die Mitreisenden ebenso Teil der Freiheit wie der Notwendigkeit.
Wir befinden uns gerade in einer Schnittmenge zwischen den Anordnungen des Personals und der persönlichen Freiheit (im Zusammenhang mit Einsicht in die Notwendigkeit, Urteilskraft und Gerechtigkeit verstanden). Das soll aber noch lange nicht heißen, dass sich das eine dem anderen unterordnen werde oder dass beides gar irgendwie identisch miteinander sei. Es muss dem einen genauso wie dem anderen widersprochen werden, wenn nötig energisch.
Als alle Züge noch in voller Fahrt und überhaupt in Bewegung waren, war Freiheit, genauer gesagt: die Freiheit des Subjekts, noch selbstverständlich – als beängstigender Teil der Arbeit und als lustvoller Teil des Konsums. Ich kann machen, was ich will, das ist ein freies Land. Diese Freiheit des Subjekts wurde zum Fetisch und führte zu einem weiteren Paradoxon: Die freiesten Menschen der Welt leben in der unfreiesten Gesellschaft der Welt. Jeder und jede kann machen, was er oder sie wollen kann, wenn auch das Wollen zugleich von ungeheuren Bild- und Traummaschinen bestimmt wird; aber niemand kann noch Teil an wirklichen Entscheidungen nehmen. Dies will der Markt, und das ist eben Psychologie, jenes eben menschlich, Wählerwille, Marketing und Gewohnheit, und der Rest, wir erleben es gerade: notwendig. Das Ich-kann-machen-was-ich-will ist ganz nah dran am Da-kann-man-nichts-machen. Am Ende der grandiosen Subjekt-Freiheit und der Markt-Diktatur stehen die Trumps, Johnsons, Salvinis und Meuthens.
So finden sich in den Gruppen derer, die sich derzeit die Einschränkungen der subjektiven Freiheiten nicht gefallen lassen und die den Anordnungen des Personals nur Lug und Trug unterstellen, die unterschiedlichsten Impulse.
Da sind die üblichen Soziopathen, denen alle Mitmenschen ohnehin am Arsch vorbeigehen, da sind die Verschwörungsparanoiker und die braunen Adabeis, die immer ihr Süppchen kochen, wenn es irgendwo ein Feuer gibt. Aber es gibt auch durchaus intelligente Zeitgenossinnen und -genossen, die sehr, sehr berechtigte Befürchtungen haben, das Personal könne die frisch erworbene Autorität dazu benutzen, die Verhältnisse von Macht und Freiheit neu zu sortieren. In ihrem Sinne ebenso wie in dem der Herren über die Bewegungsmaschinen.
Wenn man jetzt notwendigerweise innehalten muss, fällt einem vielleicht auf, dass die Freiheit der Subjekte, sofern sie nicht ohnehin pure Illusion war, nicht genutzt worden ist, um eine Freiheit des Systems zu fordern. Wenn die Bewegungsmaschinen erst wieder laufen, könnten sie, ohne die Ideen der subjektiven Freiheit normativ groß anzugreifen, noch mehr zur Transformation von einer Gesellschaft der Freien zu einer unfreien Gesellschaft beitragen.
Denn auch die Einsicht in die Notwendigkeit, die Urteilsfreiheit und die Freiheit, die man den anderen zubilligt, um sie selbst zu erfahren, sind keine naturgegebenen Eigenschaften des Menschen; sie müssen erarbeitet, erargumentiert und wenn nötig erkämpft werden.
Am Ende erstickt die unfreie Gesellschaft auch die Subjekt-Freiheit, ob man das nun merkt oder nicht. Es muss also, wenn der Halt auf freier Strecke beendet wird, nicht bloß die Rückkehr zur Subjekt-Freiheit folgen, sondern eine gemeinsame Arbeit an einer freieren Gesellschaft.
Ruckelnd fährt der Zug irgendwann wieder an. Langsam, so sagt das Personal, kehre man zur Normalität zurück. Wir Reisende wissen aber nicht zu sagen: Ist das ein Versprechen? Oder doch eher eine Drohung?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen