Verkehrssicherheit: Better safe than sorry
Auf deutschen Straßen unterwegs zu sein ist verdammt gefährlich. Unsere Autorinnen zeigen Ideen auf, wie wir weniger unter die Räder kommen.
Achtung, Auto!, so schallt es aus den kleinen Ansteckern, die zwei Kinder in einem Comic des Bundesverkehrsministeriums tragen. Mit der Illustration bewirbt das Ministerium auf X den Gewinner eines Hochschulwettbewerbs um „innovative Lösungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz“. EduPin heißt das Produkt. Es ist ein Button für die Kleidung, der Kinder in Echtzeit vor potenziellen Gefahren im Straßenverkehr warnen soll.
Eine 41-jährige Frau und ihr 4-jähriges Kind sind seit zwei Wochen tot. Ein 83-jähriger Mann hat sie in Berlin-Mitte angefahren. Laut Polizei fuhr der Fahrer viel zu schnell und vor allem falsch, wollte auf einem Radweg neben der Straße einen Stau überholen. Er verletzte dabei auch noch weitere Personen, teilweise schwer.
Das wahnwitzige Missachten von Verkehrsregeln zum eigenen Vorteil macht den Fall außergewöhnlich. Menschen sind gestorben, weil ein Mann nicht im Stau stehen wollte. Todesfälle im Straßenverkehr sind aber auch sonst gar nicht so selten: Im vergangenen Jahr sind in Deutschland 2.830 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr ums Leben gekommen, hat das Statistische Bundesamt vor Kurzem bekannt gegeben. Zwar gab es 1970 noch etwa 21.000 Verkehrstote und 1998 knapp 8.000. Aber dieser langfristige Abwärtstrend hat vor allem mit Einführungen wie Gurtpflicht und Airbags zu tun, die verhindern, dass Autofahrende sich selbst und andere Autofahrer im Verkehr töten. Autos werden sicherer, aber Radfahrende und Fußgänger:innen verunglücken immer noch zu viele. Achtung, Auto.
Das Gerät, das Studierende der TU München entwickelt haben, ist sicher irgendwie nützlich. Es soll zum Beispiel Kindern auch Verkehrsregeln spielerisch beibringen. Warum nicht. Aber von dem Ministerium, das jegliche auch noch so sanfte Einschränkung für Autofahrer:innen verhindert, als „innovative Lösung“ angepriesen?
Es ist wie das Pfefferspray, das man Frauen in die Hand drückt, um sich gegen in der Regel männliche Angreifer zu wehren. Vielleicht im Ernstfall hilfreich. Aber der Missstand ist natürlich nicht behoben, wenn auch die letzte weiblich gelesene Person ein Selbstverteidigungs-Ass ist. Der Fehler liegt schon darin, dass die Vorsicht überhaupt nötig ist – und dass die Verantwortung bei den potenziellen Opfern einer Tat landet.
In eine ähnliche Richtung gehen auch Vorschläge, die Städte mit Pollern zu füllen, die Straßen physisch von Radwegen und Bürgersteigen trennen. Temporär hilft das vielleicht, hätte Mutter und Kind zum Beispiel im aktuellen Fall wahrscheinlich geschützt. Poller sind schnell zu bauen, eigentlich ganz praktisch. Bestimmt kann man auch Design-Wettbewerbe veranstalten, um die Pfosten interessant und hübsch zu gestalten und ihre eigentlich banale Botschaft zu übertönen: Wir schaffen es nicht, unsere Straßen von vornherein sicher zu machen.
Wo bleibt der EduPin, der an Volker Wissings Revers „Achtung, Auto!“ schreit, wenn der Verkehrsminister an seinem Schreibtisch sitzt? Die Künstliche Intelligenz könnte schnell ein Bild von neuen Straßen, darauf stattfindenden Staus und Auffahrunfällen generieren, wenn der FDP-Politiker die Modernisierung des Bundesverkehrswegeplans mal wieder ablehnt. Der Anstecker könnte auch gleich spielerisch die passende Verkehrsregel vermitteln: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.
Als nächstes könnte der EduPin für Verkehrsminister*innen Bilder von Menschen erschaffen, die vor Hitze vergehen. Oder von Leuten, die vor ihren von den Wassermassen einer Überschwemmung zerstörten Häusern stehen und um ihr Hab und Gut weinen. Von verdorrten und verbrannten Wäldern. Autos, nach wie vor in der Regel mit Benzin und Diesel betrieben, sind der treibende Faktor hinter der fatalen Klimabilanz des Verkehrswesens.
Das hat auch die Klimabilanz für das vergangene Jahr wieder gezeigt, die das Umweltbundesamt gerade vorgestellt hat. Der Pkw-Verkehr hat 2023 sogar weiter zugenommen. Und das Verkehrswesen hat die zulässigen CO2-Grenzwerte gesprengt. Während etwa die Stromgewinnung klimafreundlicher wird, geht es bei der Mobilität nicht voran.
Das Schöne ist: Oft passen Klimaschutz und Verkehrssicherheit gut zusammen. Was das eine verbessert, ist auch gut für das jeweils andere. Achtung, Auto. Aber eigentlich brauchen wir dafür nicht einmal neues KI-Spielzeug. Oder?
Hier sechs Ideen, wie unsere Straßen sicherer werden könnten:
1. Weniger Parkplätze
Die Idee
Stellflächen für Autos abschaffen oder zumindest nicht vergrößern
Das bringt’s
Autos müssen gar nicht fahren, um eine Gefahr für andere zu sein: Fast jeder fünfte Unfall, bei dem sich Fußgänger:innen und Radfahrer:innen verletzen, steht mit parkenden Fahrzeugen in Verbindung. Das hat die Unfallforschung der Versicherer, kurz UDV, ermittelt. Im Schnitt stehen Autos 23 Stunden am Tag, statt zu fahren, also 95 Prozent der Zeit.
Parkende Autos am Straßenrand können direkt und indirekt zu Unfallursachen werden. Teils kommt es zu Kollisionen, etwa beim Ausparken oder Öffnen der Autotür. Das Problem ist aber auch, dass die Fahrzeuge die Sicht auf den fließenden Verkehr verdecken. Alternativen sind neben privaten Grundstücken Parkhäuser und Tiefgaragen.
Denkbar ist außerdem, dass das Einschränken von Parkraum den Autoverkehr insgesamt reduzieren würde. Besonders in großen Städten stehen den meisten Menschen schließlich Alternativen bei der Fortbewegung offen – die attraktiver werden, wenn das Parken eines privaten Autos unbequemer oder teurer wird. Außerdem könnte der frei werdende Platz für gute Radwege und Bürgersteige genutzt werden. Das Parkplatzstreichen hätte dann auch auf diesem Weg noch einen positiven Effekt auf Sicherheit – und aufs Klima.
Daran hakt’s
Während die einen davon schwärmen, wie schön man Parkraum für Radwege, Sitzbänke, Blumenbeete oder Spielplätze nutzen könnte, sind die anderen am lautstarken Stöhnen, sobald es um die Reduktion von Autostellplätzen im öffentlichen Raum geht: Kommunen machen sich nicht nur Freunde, wenn sie solche Pläne hegen. Viele schrecken deshalb davor zurück.
Teilweise spielen auch rechtliche Fragen eine Rolle. Bevor Kommunen beispielsweise in einem Stadtquartier auch nur Parkgebühren erheben dürfen, müssen sie erst mal einen hohen Parkdruck nachweisen. Auch dass Autos immer größer werden, ist ein Problem. Vor allem, weil die Verkehrsplanung dazu neigt, sich diesem Trend anzupassen, statt aktiv gegenzusteuern. Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) empfiehlt zum Beispiel seit dem vergangenen Jahr breitere Parkplätze. Ihr Technisches Regelwerk gilt als Standard – obwohl die FGSV eigentlich nur ein eingetragener Verein und nicht demokratisch legitimiert ist.
2. Fahrtests einführen
Die Idee
Regelmäßige Führerscheintests für Autofahrer:innen
Das bringt’s
Die meisten Menschen machen ihren Pkw-Führerschein in jungen Jahren. Dann gilt er in Deutschland grundsätzlich für immer – auch wenn sie eine Weile nicht Auto fahren, ihnen ihre Gesundheit zu schaffen macht und sie deshalb weniger sicher unterwegs sind. Regelmäßige Fahrprüfungen und Gesundheitschecks könnten helfen.
Daran hakt’s
In 14 europäischen Ländern sind zumindest Gesundheitstests schon lange Standard, zum Beispiel in Belgien und Portugal. Trotzdem haben EU-Politiker:innen bisher eine europaweite Regel verhindert – vor allem deutsche Abgeordnete der SPD, CDU und FDP. Sie setzen auf die Eigenverantwortung der Fahrer:innen: Wer lange nicht gefahren ist, sich nicht mehr fit genug fühlt, wer merkt, dass die Sehkraft nachlässt oder dass Schulterblicke anstrengend werden, verzichte meist von sich aus aufs Autofahren. Oder lasse sich von sich aus medizinisch untersuchen.
Ein Problem ist auch, dass die Debatte sich oft auf ältere Fahrer:innen beschränkt. In Italien etwa müssen alle, die einen Führerschein haben, regelmäßig eine Fahrtauglichkeitsprüfung machen. Bei Tests für Ältere ist die Datenlage nicht ganz eindeutig. Einige Studien haben ergeben, dass Senior:innen aus Angst vor der Prüfung ihren Führerschein abgeben, auf andere Verkehrsmittel umsteigen und dort ihre Unfallquoten steigen. Sogenannte Rückmeldefahrten haben in Untersuchungen besser abgeschnitten: Autofahrer:innen lassen sich auf einer standardisierten Strecke freiwillig von Fahrlehrer:innen oder Verkehrspsycholog:innen begleiten und bekommen Feedback zur Fahrweise.
3. Fahrräder in die erste Reihe
Die Idee
Breite Streifen, auf denen sich Radfahrer:innen an Ampeln vor den Autos aufstellen dürfen
Das bringt’s
Die Autos stehen schon Schlange vor der roten Ampel. Die Gelegenheit für Radfahrer:innen, ein paar Meter gut zu machen, regelkonform rechts an ihnen vorbeizufahren und gleich vorne an der Ampel zu warten. Nur: Wer jetzt links abbiegen will, muss die Autofahrer:innen meistens doch wieder passieren lassen. Wer geradeaus fährt, muss rechtsabbiegende Pkw fürchten.
Die sogenannten aufgeweiteten Radaufstellstreifen, kurz Aras, sollen das ändern. Aras sind markierte Flächen, die sich vor der Autospur an der Ampel über die gesamte Fahrbahnbreite erstrecken. Es gibt sie schon in mehreren deutschen Städten, zum Beispiel in Potsdam und Hamburg. Wenn Radler:innen auf dem Aras vor den Autos warten können, ist Abbiegen einfacher. Vor allem aber sind sie für Autofahrende besser zu sehen und damit sicherer. Wichtig ist, dass es zusätzlich eine Radspur rechts der Autos auf dem Weg zur Ampel gibt, damit die Fahrradfahrer:innen überhaupt auf dem Aras ankommen. Und noch sicherer wird es mit bunten Markierungen: Rote Einfärbungen auf der Fläche vor den Autos halten Pkw-Fahrer:innen öfter davon ab, doch kurz drüber zu fahren.
Daran hakt’s
Wenn Kommunen dort Platz für Fahrräder schaffen wollen, wo sich bisher ein Fahrstreifen für Autos befindet, müssen sie das aufwendig begründen. Das liegt an der Straßenverkehrsordnung, der fließende Verkehr der Pkw hat Vorrang. Jeder neue Radweg gilt als Eingriff. Besondere Gefahrenstellen können einen Eingriff rechtfertigen – oft aber nur dann, wenn es schon mal Unfälle gab.
4. Die KI steuern lassen
Die Idee
Den Verkehr durch selbstfahrende Autos sicherer machen
Das bringt’s
90 Prozent der Unfälle im Straßenverkehr gehen laut der Prüfgesellschaft Dekra auf menschliches Fehlverhalten zurück. Wir sind abgelenkt, müde, betrunken, reagieren nicht rechtzeitig und bauen Unfälle. In Deutschland liegt alleine die jährliche Zahl der Unfälle unter Alkoholeinfluss, bei denen Menschen zu Schaden kommen, um die 15.000.
Daran hakt’s
Zum einen steckt das Problem zwischen unseren Ohren. Verantwortung an einen Computer abgeben? Zu gefährlich! Dabei sind sich Expert:innen einig, dass die Zahl der Unfälle durch selbstfahrende Autos deutlich sinken würde – und das trotz einzelner Unfälle, die in der Vergangenheit aus den USA gemeldet wurden. Dort sind selbstfahrende Flotten in deutlich größerem Umfang unterwegs als hierzulande. Die Skepsis ist auch Folge einer Nachrichtendiskrepanz: Von jedem Unfall, an dem ein selbstfahrendes Auto beteiligt ist, ob als Verursacher oder nicht, erfährt die Welt. Wie etwa, als im vergangen Jahr in San Francisco ein Hund überfahren wurde. Hätte ein Mensch am Steuer gesessen, niemand hätte davon in den Schlagzeilen gelesen.
Dazu kommt, dass die Technik derzeit noch nicht ausgereift ist: Tunnel, Glätte oder schon Baustellen und Regen können dazu führen, dass die Software nicht mehr zuverlässig funktioniert. Und fürs Erste doch wieder der Mensch übernehmen muss.
5. Anti-Sturz-Gummis
Die Idee
Straßenbahnschienen mit Gummis versiegeln
Das bringt’s
Straßenbahnschienen sind eine Gefahr für Radfahrer:innen. Nicht nur mit dünnen Rennradreifen gerät man beim Kreuzen der Schienen leicht in die Rille und stürzt. Eine Lösung ist das Velogleis, ein Gummiprofil, das die Spurrille ausfüllt und sie so verschließt. Radreifen, aber auch Rollstühle und Fußgänger:innen können sich so nicht mehr in der Schiene verhaken. Für die Straßenbahn ändert sich nichts, sie drückt das Elastomerprofil beim Drüberrollen runter. Danach dehnt sich das Material wieder aus und verschließt die Rille.
Daran hakt’s
Noch ist das Gummiprofil zu teuer. In Düsseldorf zum Beispiel testete die Rheinbahn das fahrradsichere Tramgleis. Ein Meter Gummischutz kostete 3.000 Euro, für die 20 Meter lange Testhaltestelle bedeutete das eine Investition von 60.000 Euro. Eine zu hohe Summe für die kurze Haltbarkeit der Gummidichtung. Denn die Tramräder schneiden das Gummi zu schnell auf oder wetzen es ab, woraufhin es aufwendig ausgewechselt werden muss.
Die Firma Sealable aus Thüringen stellt die Gummiprofile her und entwickelte mittlerweile eine dritte Version mit verbessertem Rezept. Die chemische Zusammensetzung wurde verändert und die Gummiprofile abgerundet. So sollen die Profile eine Million Mal von einer Straßenbahn überfahren werden können, bevor sie porös werden. In Basel existiert bereits so eine velosichere Strecke.
Laut Sealable hängt der Preis pro Meter von den Anforderungen ab. Queren nur Radfahrer:innen die Schienen oder auch Autos, schwere Busse oder womöglich Schwertransporte? Je nachdem liegen die Kosten zwischen 300 und 3.000 Euro pro Meter.
6. Langsamer Auto fahren
Die Idee
Tempo 30 statt 50 als Regelgeschwindigkeit im Ort
Das bringt’s
Wenn Autos langsamer fahren, führt das zu weniger Lärm, weniger Energieaufwand, weniger Luftschadstoffen und zumindest etwas weniger CO2-Emissionen. Und es führt nachgewiesenermaßen auch zu weniger Unfällen mit schwerwiegenden Folgen. Das Umweltbundesamt und auch die Weltgesundheitsorganisation empfehlen deshalb, innerorts Tempo 30 als Standard einzuführen. Welche Erfolge das in puncto Verkehrssicherheit bringen kann, zeigt das Beispiel Helsinki. Seit Anfang 2019 gilt im Zentrum und in Wohngebieten der finnischen Hauptstadt das Tempo 30 – das erste Jahr, in dem dort kein:e Fußgänger:in oder Radfahrer:in in einem Verkehrsunfall zu Tode kam.
Daran hakt’s
Die Regelgeschwindigkeit in Ortschaften – also derzeit Tempo 50 – ist in Deutschland auf Bundesebene geregelt. Das FDP-geführte Bundesverkehrsministerium ist aber „nicht überzeugt“ von flächendeckendem Tempo 30. Eine Reform des Straßenverkehrsgesetzes hatte zumindest den Kommunen mehr Spielraum beim Einrichten einzelner Zonen mit geringerer Geschwindigkeit geben sollen. Das scheiterte allerdings am Bundesrat, also am Widerstand der Bundesländer.
Kommunen müssen bisher aufwendig eine besondere Gefahrenlage nachweisen, um streckenweise Tempo 30 einzuführen. Viele Kommunen würden sich mehr Freiheiten wünschen. Die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“ setzt sich zum Beispiel dafür ein. Sie wurde 2021 von sieben Städten gegründet, mittlerweile sind mehr als 1.000 Gemeinden in ganz Deutschland Mitglied.
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