Verfahren gegen Neonazi eingestellt: „Judenpack“ gilt nicht als Hetze
Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft findet auch bei wiederholter Prüfung nichts Volksverhetzendes an den Ausfällen von Martin Kiese.
„Judenpresse, Judenpack, Feuer und Benzin für euch“, rief Martin Kiese auf einer von rechten Gruppen organisierten Veranstaltung am Volkstrauertag im November 2020 in Braunschweig. Er ist Mitglied von „Die Rechte“, einer neonazistischen Partei. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig sieht darin auch nach wiederholter Prüfung keine Volksverhetzung.
Kiese hatte seine antisemitischen Ausfälligkeiten gegenüber Journalisten ausgesprochen, die den Auftritt der Rechtsextremen beobachteten. Ein kurzes Video des Journalisten Moritz Siman dokumentiert die Szene. Die Staatsanwaltschaft ermittelte „wegen Verdachts auf Volksverhetzung und Beleidigung“, stellte das Verfahren aber ein.
Aufgrund mehrerer Beschwerden hob die Generalstaatsanwaltschaft diese Entscheidung auf. Die Staatsanwaltschaft ermittelte erneut, kam aber zum gleichen Ergebnis.
Eine dieser Beschwerden kam von dem Ehepaar Gottschalk, das in dem Ausruf eine „öffentliche, antisemitische hetzerische Vernichtungsproklamation gegen das Judentum, gegen jede einzelne jüdische Person unserer Gesellschaft“ sieht.
Auch die Antisemitismusbeauftragte des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen, Rebecca Seidler, sagte damals: Es sei „nicht hinnehmbar, dass Rechtsextreme antisemitische Äußerungen tätigen können ohne Konsequenz“. Der Volkstrauertag ist ein Gedenktag in Deutschland. Er erinnert an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen.
Jacob Schwieger, Strafverteidiger
Anfang Februar teilte die Staatsanwaltschaft Braunschweig dem Ehepaar Gottschalk mit, das Verfahren werde zum zweiten Mal eingestellt. Der Tatbestand der Volksverhetzung nach Paragraf 130 des Strafgesetzbuches sei nicht erfüllt; es bestehe kein Tatverdacht. Die Äußerungen des Beschuldigten seien klar gegen die vor Ort anwesenden Medienvertreter gerichtet gewesen und nicht gegen die in Deutschland lebenden Juden. Zwar habe er die Journalisten als „Judenpack“ bezeichnen wollen, nicht aber die in Deutschland lebenden Juden als „Pack“.
Das sieht der Rechtsanwalt und Strafverteidiger Jacob Schwieger aus Hamburg anders: Die Begründung, warum kein Tatverdacht vorliege, sei falsch. Es stimme, dass Journalisten nicht als Volksgruppe nach dem Strafgesetzbuch erfasst seien, Juden hingegen sehr wohl. „Diese Argumentation geht am Punkt vorbei und verkennt das Angriffsobjekt“, sagt Schwieger. „Es sind nicht die Journalisten, sondern die Juden.“
Außerdem schreibt die Staatsanwaltschaft Braunschweig, dass Kiese sich spontan geäußert habe. Auch dies ist für Schwieger kein Argument dafür, dass es sich nicht um Volksverhetzung gehandelt haben sollte. „Spontaneität schließt eine Strafbarkeit nicht aus, sondern betrifft höchstens die Strafzumessung“, sagt der Anwalt.
Damit der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist, muss die Tätigkeit geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Dies liegt laut der Staatsanwaltschaft schon nicht vor, weil die Aussage nur gegenüber Medienvertretern getroffen wurde: „Die Äußerungen des Beschuldigten waren in der konkreten Situation nicht geeignet jemanden aufzuhetzen, da keine Personen anwesend waren, die hätten aufgehetzt werden können“, argumentieren die Staatsanwälte. Schwieger hat auch dazu eine klare Meinung: „Der betroffene Teil muss davon nichts erfahren“, sagt er. In Betracht kämen auch Äußerungen gegenüber Einzelpersonen.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft konnte Kiese auch nicht damit rechnen, dass seine Aussagen öffentlich würden, wie es durch das ins Internet gestellte Handy-Video geschah. Schwieger hält das für abwegig. Schließlich habe Kiese ja Journalisten beschimpft.
Das Ehepaar Gottschalk möchte in diesem Fall erstmal keine weiteren rechtlichen Schritte einleiten. Allerdings hofft es, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Die „antisemtische Verseuchung“ der Gesellschaft müsse gestoppt werden, sagt Joachim Gottschalk.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin