Unterwegs im Westjordanland: Ohnmacht, Wut und Militanz
Die Hamas wird im Westjordanland populärer und 90 Prozent fordern den Rücktritt von Palästinenserpräsident Abbas. Vor allem Junge radikalisieren sich.
K urz nach dem Freitagsgebet versammeln sich auf dem Manara-Platz in Ramallah etwa zweihundert Menschen. Auf den Fernsehbildschirmen der Cafés flackern Bilder hunderter gefesselter und bis auf die Unterhose ausgezogener Gazaner, bewacht von israelischen Soldaten. In den Gesichtern in Ramallah spiegeln sich Trauer und Wut, die Protestierenden fordern ein Ende der israelischen Angriffe – und der Besatzung: „Kein Kompromiss, wir wollen unser Land“, rufen sie. Und: „Danke, danke, oh Kassam“, an die Adresse der Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der islamistischen Hamas. Zwischen den palästinensischen Fahnen, die auf dem Platz geschwenkt werden, wehen auch deren grüne.
Vor dem Krieg wäre die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wahrscheinlich dagegen vorgegangen: Die im Westjordanland herrschende Fatah-Bewegung unterbindet seit Jahren brutal jede politische Konkurrenz. Heute bleibt es ruhig.
Ramallah mit seinen 40.000 Einwohnern ist das liberale Zentrum des A-Gebiets, jenes kleinen Teils des Westjordanlandes, in dem der PA nach Jahrzehnten gescheiterter Friedensverhandlungen, israelischer Besiedlung und der Aufteilung während des Oslo-Friedensprozesses in den 1990er Jahren die Verwaltung und die Sicherheit obliegen. Hier liegen die Büros und Ministerien der Selbstverwaltung, aus der einmal ein Palästinenserstaat hätte werden sollen.
Die meisten Demonstrierenden gehören zu einer einigermaßen privilegierten Mittelschicht. Weshalb und ob sie die Taten der Hamas am 7. Oktober gutheißen, darüber wollen viele der Teilnehmer nicht sprechen. Neben der Wut herrscht vor allem Angst. Mehr als 4.000 Menschen hat die israelische Armee im Westjordanland laut palästinensischen NGOs binnen zwei Monaten festgenommen. Hinzu kommen fast 500 Palästinenser, die seit Anfang des Jahres bei Razzien und Zusammenstößen vom Militär erschossen wurden. Israelische Politiker betonen regelmäßig, der Krieg in Gaza gelte der Hamas. Viele hier in Ramallah sind überzeugt, er gelte dem palästinensischen Volk.
Gespannte Stille über Ramallah
Abseits des Protests liegt über Ramallah wie vielerorts im Westjordanland dieser Tage eine gespannte Stille. Die Armee hat Verbindungsstraßen zwischen vielen Ortschaften mit Checkpoints geschlossen. Immer wieder gibt es Angriffe durch extremistische Siedler. Viele Menschen bleiben zu Hause.
In einem Café in der Stadtmitte scrollt Ehab Bessaiso auf seinem Smartphone durch Bilder aus Gaza. Der 45-jährige ehemalige Sprecher und Kulturminister der PA ist aufgewühlt. „Ich bin dort aufgewachsen, schau dir das an“, sagt er und zeigt ein Foto von verwesten Körpern auf einer Straße. Das Viertel seiner Eltern, eine Trümmerwüste. Seine Schule, sein Kulturzentrum: Schutthaufen.
Wie viele Palästinenser sieht Bessaiso den 7. Oktober nicht als historischen Einschnitt durch das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust, sondern als Resultat jahrelanger Unterdrückung.
Der Angriff sei „furchtbar“ gewesen, doch sei Israel letztlich schuld daran, dass nicht rechtzeitig eine Lösung gefunden worden sei. Die Regierungen der vergangenen Jahre, vor allem unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, hätten die palästinensische Selbstverwaltung verunmöglicht. „Sie wollten die PA nicht, sie wollten die Hamas nie. Sollen sie es doch offen sagen: Sie wollen keine Palästinenser in diesem Land.“
Die PA, die dieser Tage besonders von den USA als mögliche Regierung eines Nachkriegsgaza ins Spiel gebracht wird, beschreibt Bessaiso als „so schwach wie nie zuvor“. Das Schweigen von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in der aktuellen Situation ist bezeichnend.
Seit dem 7. Oktober hat der Politiker, der auch den Vorsitz der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO sowie die Führung der regierenden Fatah-Partei innehat, die Hamas nicht verurteilt. In Ramallah fürchte man, den letzten Rest Legitimität zu verlieren, heißt es aus Diplomatenkreisen: In den Straßen des Westjordanlands wehe der Wind für die Hamas.
Jüngste Umfragen des palästinensischen PSR-Instituts zusammen mit der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung stützen diese Annahme. Demnach hat sich die Unterstützung für die Hamas im Falle von Wahlen im Westjordanland seit dem 7. Oktober verdreifacht – auch wenn sie weiterhin bei weniger als 50 Prozent liegt.
Dafür fordern mittlerweile rund 90 Prozent der Befragten den Rücktritt von Abbas. Das bedroht ein politisches System, in dem der Machterhalt einer intransparenten Elite längst das oberste Ziel ist. Rund 70 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 und haben noch nie in ihrem Leben gewählt. Dagegen haben sich in der Vergangenheit immer wieder Menschen aufgelehnt.
Nach dem Tod des Abbas-Kritikers Nizar Banat 2021 in Polizeigewahrsam waren tausende Palästinenser gegen die PA auf die Straße gegangen. Bessaiso schrieb damals: „Meinungsunterschiede sind keine Krankheit, keine Gefahr im Verzug und keine Rechtfertigung für Blutvergießen.“ Kurz darauf wurde er von Abbas persönlich entlassen.
Vor diesem Hintergrund hat sich in den vergangenen Jahren vor allem die junge Generation radikalisiert. Anfang 2022 verübten junge Palästinenser eine Reihe von Terroranschlägen in israelischen Städten.
Die israelische Führung antwortete mit einer Strategie, die in Sicherheitskreisen als „Rasenmähen“ bezeichnet wird: Weitreichende Festnahmen sollen die Fähigkeiten der militanten Gruppen minimieren. Israelischen Behörden zufolge wurden dadurch in den vergangenen Jahren zahlreiche Anschläge verhindert. Doch auch hunderte Palästinenser wurden getötet. Zahlreiche junge Menschen schlossen sich bewaffneten Gruppen an.
Einer von ihnen ist Assem, der seinen echten Namen nicht nennen will. An diesem Freitag Anfang Dezember beobachtet der Anfang 20-Jährige aus dem Schutz einer Gasse des Flüchtlingslagers von Tulkarem die Zufahrtsstraße zum Camp. Er trägt eine olivgrüne Weste mit dem Abzeichen der fatah-nahen Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden. Um seine Schultern hängt ein M16-Sturmgewehr. „Wenn sie uns verhaften, erschießen und unsere Häuser abreißen, will ich mich verteidigen“, sagt er. Erst vor zwei Nächten habe die Armee das Camp gestürmt und sieben Menschen festgenommen.
Er sehe keine Alternative zu den Waffen, sagt Assem, der wie viele im Flüchtlingslager die Schule vorzeitig abgebrochen hat. Er wolle ein besseres Leben für seine künftige Familie, ohne all die Zerstörung und Gewalt. „Aber du kommst da rein wegen dem, was du erlebst“, sagt er. Auf das Magazin seiner Waffe hat er das Foto eines jungen Mannes geklebt. „Dschihad“ aus der Tulkarem-Brigade sei am 6. November von einem Soldaten erschossen worden.
„Der 7. Oktober war nur eine Frage der Zeit“, meint Assem. Trotzdem ist er selbst dem Ruf der Hamas nicht gefolgt, sich der „Operation Al-Aksa-Flut“ anzuschließen. „Ich kämpfe hier, nicht in Tel Aviv oder Haifa.“ Die Taten der Hamas heißt er gut: Deren Strategie sei „der richtige Weg zur Befreiung des palästinensischen Volkes“.
Ibrahim Dalalsha, der Direktor des palästinensischen Thinktanks Horizon Center, beobachtet die Radikalisierung mit Sorge und Verständnis zugleich. „Der Krieg hat zu schnell und zu heftig begonnen, um den Palästinensern die Chance zu geben, sich auf Israels Seite zu stellen“, sagt er. Der Strom an Bildern aus Gaza, von unter Trümmern begrabenen Familien, lasse vielen emotional keinen Raum, die Hamas-Massaker überhaupt noch zu sehen.
Von Dalalshas Büro im fünften Stock eines Hauses in Ramallah fällt der Blick auf Büros internationaler Organisationen und Fahrzeuge des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. „Nach dem Ende des Krieges wird die Rationalität zurückkehren und die Unterstützung für die extremistischen Gruppen zurückgehen“, sagt der Anwalt, der rund zwanzig Jahre lang die US-Regierung und die PA beraten hat. Doch Israel müsse akzeptieren, dass sich die Ideologie der Hamas nicht militärisch zerstören lässt.
Der Großteil der Palästinenser sei weder extrem religiös noch gegen eine Anerkennung Israels, sondern fordere ein Ende der Besatzung und die Unabhängigkeit. Die Fatah habe seit der Machtübernahme durch die Hamas in Gaza vor siebzehn Jahren auf Gewaltlosigkeit und Verhandlungen gesetzt, damit aber kaum etwas erreicht. „Netanjahu hat die PA jahrelang geschwächt“, sagt Dalalsha. „Der ehemalige US-Präsident Trump hat sie dann vollends außen vor gelassen, als er die Verhandlungen mit arabischen Staaten über eine Normalisierung mit Israel ganz ohne die Palästinenser führte.“
Die Hamas hingehen setze zur Erreichung der Unabhängigkeit auf Gewalt und sei damit in den Augen vieler Palästinenser schlicht erfolgreicher. „Sie haben 2006 die Wahlen in Gaza gewonnen, weil sie den israelischen Abzug und die Räumung der Siedlungen ein Jahr zuvor als eigenen Erfolg verkaufen konnten“, sagt Dalalsha.
Seine Hoffnung liegt in einer technokratischen Regierung, die einen Mittelweg findet. Die palästinensische Gesellschaft sei gut ausgebildet, es gebe eine große Zivilgesellschaft und Menschen, aus denen sich eine neue Führung bilden lasse. Voraussetzung sei eine Handreichung für gemäßigte Palästinenser durch die Aufhebung von Einschränkungen sowie ein glaubhafter Weg zur Unabhängigkeit. Dann sei es möglich, den Kreislauf der Gewalt zu beenden.
Wenige Minuten vom Horizon Center entfernt liegt die Muqataa, der Sitz von PA-Präsident Abbas. Anzeichen auf den Wandel, auf den Dalalsha hofft, gibt es bisher kaum. Seit Kriegsbeginn wurden die internationalen Staatsgäste hier empfangen, von US-Außenminister Antony Blinken bis zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Doch selbst wenn die PA in Gaza nach einer Übergangsphase eine Rolle übernehmen könnte: Abbas ist 88 Jahre alt, immer wieder machen Gerüchte über seinen Gesundheitszustand die Runde. Es droht ein politisches Vakuum. Mögliche Nachfolger wie Hussein Al-Sheikh, Mohammad Schtajjeh oder Mohammed Dahlan haben kaum mehr Rückhalt in der Bevölkerung als Abbas selbst. Oppositionelle Stimmen gibt es so gut wie keine. Marwan Barghuthi, der Einzige, der fraktionsübergreifend Unterstützung genießt, sitzt eine mehrfach lebenslängliche Haftstrafe wegen der Beteiligung an mehreren Terroranschlägen ab.
Israels Regierungschef Netanjahu hat vergangene Woche erneut klargemacht, dass er derzeit keine Rolle der PA in Gaza sieht: „Gaza wird weder Hamastan noch Fatahstan“, erklärte er entgegen den ausdrücklichen Wünschen der USA, Israels wichtigsten Verbündeten.
Israel wirft der Palästinensischen Autonomiebehörde unter anderem vor, Familien von Attentätern finanziell zu unterstützen. Israel werde die Kontrolle über die Sicherheit in Gaza behalten, „denn wir haben gesehen, was passiert, wenn wir es nicht tun“. Nach einer Lösung klingt das nicht.
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