Umgang mit Langzeitfolgen von Covid-19: Blind für Genderfragen
Die Medizin hat zwar ihren genderspezifischen Blick geschärft. Doch in der Forschung hat sich zu wenig getan. Jüngstes Beispiel: Fatigue nach Corona.
E in Bericht der AOK hat die Fehlzeiten von gut 15,5 Millionen Mitgliedern im Zeitraum März bis Juli 2022 untersucht. Er differenziert die Krankmeldungen nach Berufsgruppen und kommt zu klaren Ergebnissen: Beschäftigte in der Kinderbetreuung waren mit 28.315 Erkrankten je 100.000 Versicherten am häufigsten betroffen, an zweiter Stelle folgen medizinische Fachangestellte mit 25.849 Gemeldeten.
Besonders stark gestiegen sind die Atemwegserkrankungen. Rund vier von fünf Fehlzeitenanzeigen sind der Coronapandemie geschuldet. Der AOK-Report interpretiert die Erkenntnisse nicht, doch der geschlechtsspezifische Befund ist offensichtlich: Die ganz überwiegend weiblichen Mitarbeiterinnen in Erziehung und Pflege hatten während der Pandemie im Vergleich zu Beschäftigten in klassischen Männerberufen ein erheblich höheres Infektionsrisiko. Und auch bei den Spätfolgen zeigt sich ein klares Gefälle.
Frauen leiden überdurchschnittlich an Long Covid (bis zu drei Monate nach der Infektion), Post-Covid (ab drei Monate nach der Infektion) und am Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS). Von dieser Erschöpfungserkrankung sind in Deutschland nach Schätzungen bis zu 250.000 und weltweit rund 17 Millionen Menschen betroffen.
CFS ist eine grundlegende körperliche Schwäche, die sich auf die geistige und psychische Leistungsfähigkeit auswirkt. Typische Anzeichen sind Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, manchmal auch Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen. Die Mehrheit ihrer Patientinnen sei weiblich, bestätigt auch Carmen Scheibenbogen, die an der Berliner Charité schon vor der Coronakrise ein bundesweit wegweisendes Behandlungszentrum aufgebaut hat.
Forschung in den Kinderschuhen
Es handele sich um eine Immunerkrankung, für die Frauen nach einer Infektion anfälliger seien. Es gebe Anzeichen dafür, dass ihr körperliches Schutzsystem überaktiv reagiere, dass Autoantikörper eine Rolle spielten und das autonome Nervensystem gestört sei. Die diffuse Vielfalt der Symptome mache es jedoch schwierig, eindeutige Diagnosen zu stellen.
Die Wissenschaftlerin äußert sich bewusst vorsichtig. Denn es gibt nur wenig verlässliche Daten, die Forschung zum Thema steckt in den Kinderschuhen. Nicht hinreichend geklärt ist vor allem, ob sich die Ursachen des Müdigkeitssyndroms überhaupt auf rein medizinischer Basis erklären lassen.
Die Zahlen aus dem AOK-Fehlzeitenbericht legen auch eine andere, soziologische Interpretation nahe: Vielleicht erkranken Frauen gar nicht oder nicht nur aus biologischen Gründen häufiger, sondern weil sie in Berufen mit vielen menschlichen Kontakten tätig sind und zudem während der Pandemie bei der Bewältigung der psychosozialen Folgen besonders belastet waren.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Erschöpfungssyndrom bereits 1969 als neurologische Krankheit anerkannt. Doch seither wurde in der Wissenschaft wenig Substanzielles zum Thema veröffentlicht – ein Beleg dafür, welch geringe Bedeutung die Kategorie Gender in der Medizinforschung lange Zeit hatte. Dabei gibt es gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sie betreffen Diagnose, Behandlung und Nachsorge.
Beschränkt auf die Geschlechtsmerkmale
Bei der Prävention kannten die Krankenkassen über Jahrzehnte nur einen einzigen genderspezifischen Zugang: Das Abtasten der Brüste und die Untersuchung der Gebärmutter galten als besonders wichtig und förderungswürdig. Die von kritischen Wissenschaftlerinnen wie der US-amerikanischen Herzspezialistin Nanette Wenger ironisch „Bikini-Blick“ getaufte Konzentration auf weibliche Geschlechtsmerkmale fand ihre Begründung darin, dass diese als entscheidend für das biologische Fortbestehen der Gesellschaft angesehen wurden. In der medizinischen Praxis wie auch in der Ausbildung des Nachwuchses aber erklärte man wie gewohnt den männlichen Patienten zur Norm.
Im Umfeld der Kontroversen über den Abtreibungsparagrafen 218 entstand ab den 1970er Jahren in (West-)Deutschland eine Frauengesundheitsbewegung. Die dort aktiven Feministinnen prangerten an, dass die pharmazeutische Industrie neue Medikamente fast nur an Männern testete – was für Frauen lebensbedrohliche Folgen haben konnte. Die damals noch fast ausschließlich männliche Ärzteschaft missachtete spezifisch weibliche Symptomatiken.
So unterscheiden sich beispielsweise die Anzeichen von Herz- und Kreislauferkrankungen nach Geschlecht: Männer spüren wie im klassischen Lehrbuch Engegefühle und plötzliches Stechen in der Brust; Frauen klagen eher über Kiefer- und Nackenschmerzen, Atemnot oder Übelkeit. Ein möglicher Infarkt wird daher bei ihnen oft zu spät erkannt.
Engagierte Fraueninitiativen haben dafür gesorgt, dass sich der gendersensible Blick auf die Medizin langsam schärfte. So entstanden regionale Selbsthilfezentren und eine spezifische Gesundheitsberichterstattung aus weiblicher Perspektive, die bald auch von öffentlichen Institutionen finanziell unterstützt wurde. Die Zeit der männlichen „Halbgötter in Weiß“ ging allmählich zu Ende; heute gibt es viel mehr Ärztinnen, das Hochschulfach Medizin studieren zu zwei Dritteln Frauen.
Der geschlechtersensible Umgang mit dem Thema aber ist immer noch nicht selbstverständlich. Krankheiten und psychische Störungen von Patientinnen werden teils nicht ernst genommen, als Hypochondertum abgetan oder ganz ignoriert. Das zeigt sich auch in der aktuellen Diskussion über die Langzeitfolgen von Corona-Infektionen. Nach den Erhebungen der WHO sind drei Viertel der Betroffenen weiblich. Zur Behandlung von CFS gab es bis zu Covid-19 kaum Therapiekonzepte und zugelassene Medikamente. Das vernachlässigte Forschungsgebiet hat es immerhin in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft: 10 Millionen Euro will die Ampel in den kommenden Jahren dafür bereitstellen.
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