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US-Historiker über Putins AtomdrohungenWie man Perversion liest

Die Atompropaganda des Kreml verfolgt ein bestimmtes Ziel. Gleichzeitig erteilt sie über die Ukraine hinaus eine Lektion – Atomwaffen betreffend.

TV-Ansprache am 24.02, das Foto wurde von der russischen Staatsagentur Tass verbreitet Foto: picture alliance/dpa/TASS

Die Ukrainer kämpfen für die Verteidigung ihres Landes. Jeder Tag, an dem sie sich der russischen Invasion widersetzen, gibt dem Rest von uns Zeit: etwas zu tun, um zu helfen, unsere eigenen Werte neu zu bewerten oder zu bekräftigen, über die Zukunft nachzudenken und zu überlegen, wie es dazu kommen konnte.

Am 24. Februar hielt Wladimir Putin eine Rede, die eine von ihm bereits befohlene Invasion rechtfertigen sollte. Neben vielem anderen Unsinn behauptete er, die Ukraine sei im Begriff, sich Atomwaffen zu beschaffen. Dieses Argument wiederholte Russlands Außenminister in Genf.

Nicht nur, dass es für diese Behauptung keine Grundlage gibt. Sie ist widersprüchlich und abwegig.

Der Autor

Timothy Snyder ist einer der international wichtigsten Historiker, er lehrt an der Yale University, USA. Einem größeren Publikum wurde er bekannt durch sein Buch „Bloodlands“ (im Original 2010, deutsch: C.H. Beck 2011), in dem er die Massenverbrechen an Ukrainern, Polen und Weißrussen unter Hitler und Stalin darlegt. Im Jahr 2013 wurde ihm der Hannah-Arendt-Preis zugesprochen.

Die Ukraine hat keine Atomwaffen und auch kein Atomwaffenprogramm. Die Ukraine hat mehr für die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen getan als jedes andere Land. Anfang der 1990er Jahre verfügte die Ukraine über das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt, ein Erbe der Sowjetunion. Im Gegenzug für Sicherheitsgarantien des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation erklärte sich das Land 1994 bereit, vollständig abzurüsten. Als die nukleare Abrüstung 1996 abgeschlossen war, wurden als Zeichen des Friedens Sonnenblumen um die leeren ukrainischen Silos gepflanzt.

Die Lektion Russlands

Man muss innehalten und tief Luft holen, bevor man die Widersprüche und Perver­sio­nen der Argumentation des Kreml über Atomwaffen zum Ausdruck bringt, denn sie sind so tief und so zahlreich. Mit dem Einmarsch in die Ukrai­ne im Jahr 2014 und auch jetzt wieder hat Russland mehr für die Verbreitung von Kernwaffen getan als jedes andere Land der Welt. Es hat die Lektion erteilt, dass Länder ein Atomwaffenarsenal behalten oder aufbauen sollten, um große aggressive Nachbarn davon abzuhalten, in sie einzufallen.

Es ist nicht nur so, dass Russland sein Versprechen gebrochen hat, die Ukraine zu verteidigen, das 1994 im sogenannten Budapester Memorandum festgeschrieben wurde. Es wirft dem Land, das die Atomwaffen aufgegeben hat, vor, sie zu erwerben, während es selbst über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt. Und während Russland dies tut, schwingt Putin seine eigenen Atomwaffen in einer höchst unverantwortlichen Weise, indem er andeutet, dass ihr Einsatz in einem sinnlosen Krieg, den Russland ohne Provokation begonnen hat, akzeptabel wäre.

Wie die russische Propaganda im Allgemeinen soll auch das Thema Atomwaffen schockieren und verwirren, um eine psychologische Öffnung zu schaffen. Wir sollen dem Thema innewohnenden Druck nachgeben, uns einbilden, dass an den Aussagen des Kremls irgendetwas vertretbar sein muss, und ein Zugeständnis machen, das der russischen Führung passt. Wir werden eingeladen, uns am Generieren von Unsinn zu beteiligen. Wenn wir widersprüchliche und abwegige Argumente wiederholen, binden wir einen Teil unseres Verstands an sie und beginnen, selbst weniger vernünftig zu werden.

Es ist Unsinn

Nichts von dem, was der Kreml über die russischen Kriegsziele gesagt hat, macht wirklich Sinn. Es ist Unsinn. Doch der Krieg in der Ukraine ist nur allzu real. Aber der russische Krieg wird auch in der Unwirklichkeit und für die Unwirklichkeit geführt, um seinen Einfluss auf unsere Köpfe so weit wie möglich auszudehnen. Wenn sich die Unwirklichkeit ausbreitet, wird die Wirklichkeit mörderischer.

Das unsinnige Gerede über Atomwaffen ist ein Beispiel dafür. Und das Erzeugen von Unsinn ist ein wesentliches Element der russischen Kriegsführung. Als solches erfordert es Analyse und Widerstand.

Aus dem Englischen von Tania Martini, im englischen Original veröffentlicht auf snyder.substack.com

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17 Kommentare

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  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „die Ukraine sei im Begriff, sich Atomwaffen zu beschaffen.“



    Erinnert an Irak 2003. Es sieht aus, als parodiere Putin auf zynische Weise das System USA.

    • @95820 (Profil gelöscht):

      Eigentlich parodiert er gar nichts. Er zeigt uns wie Atommächte Politik machen. Von Russland, über USA bis China. Wenn ein Staat etwas macht, das uns nicht in den Kram passt, marschieren wir ein.



      Irak, Tibet, Afghanistan (gleich zweimal, einmal von jeder damaligen Weltmacht) usw.



      Das ist Imperialismus.

    • @95820 (Profil gelöscht):

      anschließe mich - fiel mir auch dazu ein.

  • Danke für die Aufklärung. Hatte ich bis dato so nicht auf dem Schirm. Perfide kein Ausdruck •

  • Den Absatz mit



    "Wie die russische Propaganda im Allgemeinen soll auch das Thema Atomwaffen schockieren und verwirren, um eine psychologische Öffnung zu schaffen." finde ich sehr wichtig.



    Allerdings denke ich, dass der Krieg gegen die Bestrebungen nach subjektiver Entfaltung, Selbstbestimmung und Freiheit geführt wird. Damit auch gleichzeitig gegen die Bewohner Russlands.

  • Ich habe erhebliche Befürchtungen, dass Putin das Tabu, Atomwaffen und Massenvernichtuugswaffen gegen Zivilbevölkerung einzusetzen, schleifen will. Das Auffahren von sogenannten thermobarischen Bombe, die ganze Stadtviertel dem Erdboden gleich machen können, lässt darauf schließen.

    Und auch der Vorwurf, die Ukraine hätte Atomwaffen, klingt alarmierend nach der selben Art von Projektion, mit der Trump den US-Demokraten vorwarf, die Wahl stehlen zu wollen oder putschen zu wollen.

    Die Mitglieder der NATO sollten sich überlegen, wie sie so einen "unterschwelligen" Einsatz von Atomwaffen von vornherein verhindern können, denn er wäre weltweit extrem destabilisierend. Und eine Antwort im Sinne der Abschreckungsdoktrin könnte schwierig sein.

    • @jox:

      Über Putins "Absichten" "Nachzudenken" hilft uns nicht weiter. Wir sollten darüber Nachdenken wir wir Putin und seinen Vernichtungsfeldzug gegen die ukrainische Bevölkerung stoppen können! Flugverbotszone wäre eine Option...

  • Der Mann im Kreml scheinbar out of his mind!

    Die Absichten unergründlich und ledig jeglicher Logik, die Statements diffus und der Zeit entrückt. Offensichtlich fehlt der Russischen Führung der Bezug zu den Problemen einer Welt des 21ten Jahrhunderts.

    Wir müssen mit allem rechnen, ob Giftgas Chemie oder Nuklear. Es erschreckt die Bedrohung der Welt von einer Führung eines der größten Länder mit dem meisten Nuklearwaffen dieser Erde, die sich als rückständige, rücksichtslose Gangsterbande entlarvt, denen jedes Mittel recht ist um ihre kranken Ziele zu erreichen.

    So verhalten sich Geiselgangster die mit den höchsten Verlusten drohen, wenn ihre Bedingungen nicht erfüllt werden. Zur Rechtfertigung wird aller Nonsens konstruiert, unterstellt und beworben um letztlich selbst die der Opposition unterstellten Schweinereien als Rechtfertigung selbst praktizieren zu können.

    Die Welt kann nicht mit einer dauerhaften Pistole an ihrer Schläfe leben, nicht wissend was der Wahnsinn als nächstes wünscht. Es zeichnet sich schon jetzt ein Rückschlag für die Menschheit ab, im schlimmsten Fall ihre totale Vernichtung.



    Der Welt muss diese Situation drastisch vor Augen geführt werden um sie alle gegen den Wahnsinn zu mobilisieren. Wird das auch dem Umfeld des Irren die Augen öffnen?

    Diese Krise ist die größte Bedrohung der Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg ,der Cuba Krise in den sechziger Jahren und den achtziger Jahren der Reagan Regierung des letzten Jahrhundert, verursacht durch einen Mann!

    • @Thomas Rausch:

      Wir sollten uns von Putin nicht erpressen lassen - sondern den ukrainischen Luftraum schließen.

      Ein Erpresser verschwindet ja nicht, der kommt immer und immer wieder - also lieber gleich mutig dagegenhalten...

  • Putin kann nur froh sein dass er Nukes hat. Ansonsten würde es eine richtig passende Antwort auf seine Aggression geben. Merke: wenn du ein A bist, brauchst du Nuklearwaffen. Vielleicht gilt auch, nur A haben Nuklearwaffen.

  • Danke!

  • Das ist so gut. dass ichs hier ausdrücklich nochmal wiederholen will:

    "Wir werden eingeladen, uns am Generieren von Unsinn zu beteiligen. Wenn wir widersprüchliche und abwegige Argumente wiederholen, binden wir einen Teil unseres Verstands an sie und beginnen, selbst weniger vernünftig zu werden."

  • Das schlimme an Putins Lügen sind die Menschen, die darauf reinfallen. Unter jahrzehntelanger russischer Propaganda verständlich, aber im Westen?



    Zu einer Schande wird das durch die mitleidlose Kaltherzigkeit gegenüber den Opfern.

    • @mife:

      Wo sehen Sie diese?

      • @Adam Weishaupt:

        Bei der AfD, bei Querdenkern, Neo-Nazis, Trump, bei den Regierungen, die sich einer Verurteilung des Angriffskrieges nicht angeschlossen haben.

  • ganz normale rhetorik ...

    wie clausewitz bereits anmerkte, will der angreifer immer den frieden. nach seiner logik ist der verteidiger immer der aggressor. er will unser land und unsere leute, ohne einen einzigen schuß abzufeuern.

    • @adagiobarber:

      ganz normale rhetorik ...

      neee putinsche Kriegspropaganda!