Essay über Ukraine und EU: Europa und die koloniale Mentalität

Der Widerstand der Ukrainer gegen Russland spricht gegen das Prinzip sogenannter „Einflusssphären“. Die EU muss ihr koloniales Denken überdenken.

Unsaubere Fensterscheibe, dahinter mehrere ukrainische Flaggen in blau und gelb

Friedhof mit im Kampf gegen Russland gefallenen Ukrai­ne­r:in­nen in der Nähe von Poltawa Foto: Evgeniy Maloletka

Nach anderthalb Jahren des Widerstands gegen die russische Invasion zeigt die Ukraine keine Absicht, mit dem Aggressor zu verhandeln. Die Entschlossenheit der ukrainischen Streitkräfte bei der Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität des Landes ist ungebrochen.

Dabei profitieren sie von der einmütigen Unterstützung der Gesellschaft und der Rückendeckung durch eine weitgehend geschlossene politische Elite. Alle Kräfte des Landes, von der Zivilgesellschaft über die Wirtschaft bis zu Schule und Universität, sind darauf ausgerichtet, sich Russlands Eroberungsplänen zu widersetzen.

Sicherlich hat der globale Westen dabei eine Rolle gespielt. Aber in diesem Krieg ist es die Ukraine, welche die Ziele festgelegt hat; der Westen hat lediglich reagiert. Die Ukraine hat ihre Handlungsfähigkeit behauptet; Europa und seine Verbündeten haben beschlossen, das überfallene Land zu unterstützen. Dies beinhaltet finanzielle, politische und militärische Hilfe. Eine andere Entscheidung hätte Europas Selbstbeschädigung in seinen Beziehungen zu Russland nur weiter verschlimmert.

Die Gründe für Europas Entscheidung gingen über die Notwendigkeit hinaus, seine Ostflanke zu sichern. Nach der anfänglichen Verwirrung haben Europa und die Ukraine ihre politischen Interessen aufeinander abgestimmt: Weder darf Russland seine imperialistische Agenda verwirklichen noch einen Präzedenzfall für andere autoritäre Regime schaffen. Die Ukrai­ne hat die Ost-West-Spaltung bis an seine Grenze zu Russland verschoben.

Eine obsolete Haltung

Die Zeit der Pufferzone zwischen der Nato und Russland ist vorbei. In dieser Utopie des politischen Realismus galten „Puffer“-Länder oder „kleine Staaten“ als zu verworren in ihrer Identität, um klare Bestrebungen zu haben, die das „Gleichgewicht der Großmächte“ herausfordern würden. Die Haltung der Ukraine in diesem Krieg hat dieses Szenario obsolet gemacht. In der Folge bekamen das postkoloniale Europa und die Vereinigten Staaten die Macht kleinerer Länder zu spüren.

Erst jetzt hat die Ukraine ihren Status als Stützpfeiler des Pufferzonensystems endgültig beendet

Indem Europa den Kampf der Ukraine um Souveränität und Unabhängigkeit nicht länger ignoriert, hat es seine Bereitschaft gezeigt, das Prinzip der „Einflusssphären“ aufzugeben, das es dazu gebracht hatte, vor den „Sicherheitsbedenken“ Russlands zu kapitulieren. Westeuropa hält „Großmachtansprüche“ nicht mehr für legitim – eine Ansicht, welche die Länder Mittel- und Osteuropas nie geteilt haben. Die Ukrai­ne hat Europa nicht nur gezwungen, sich den heutigen Sicherheitsanforderungen anzupassen, sondern auch, seine Dekolonisierungsagenda zu beschleunigen.

Die Diskussion ist nun ein paar Schritte weiter als im Jahr 2003, als Jürgen Habermas und Jacques Derrida eine Überwindung der kolonialen Machttendenzen Europas forderten. Doch von einer vollständigen Transformation ist es noch weit entfernt. Europa existiert, aber eine klare transnationale europäische Identität ist noch nicht entstanden.

Darüber hinaus erfordert die Anpassung der EU nicht nur, den Krieg, sondern auch den Frieden zu gewinnen, das heißt, die langfristigen Investitionen der EU und der USA in den demokratischen Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg zu sichern. Um den politischen Raum für eine engere Zusammenarbeit mit der Ukraine zu schaffen, muss die EU noch mutigere Schritte in Richtung einer Abkehr von Eurozentrismus und Machthierarchien in der Außenpolitik unternehmen.

Anpassung und Selbstreflexion

Anpassung bedeutet auch, den EU-Erweiterungsprozess zu überarbeiten, um die Ukraine, die Republik Moldau, Georgien und die Länder des westlichen Balkans von Anfang an in die Entscheidungsfindung der EU einzubeziehen. Und sie muss mit Selbstreflexion einhergehen, um zu verstehen, warum der Globale Süden und der Globale Osten dem Kampf der Ukraine um Souveränität und Unabhängigkeit nicht wohlwollend gegenüberstehen.

Großstrategien, die von Pufferzonen und Einflusssphären ausgehen und die Handlungsmacht kleiner Länder den nationalen Interessen der Großmächte unterordnen, sind Teil des imperialistischen oder kolonialen Erbes. Diese Art von Diskurs verwendet und versteht Russland. Als die Ukraine, Moldau, Georgien und zuletzt Belarus zunehmend Interesse an einer demokratischen, europäischen und von der Nato geschützten Zukunft zeigten, zeigte Russland „Sicherheitsbedenken“.

Diese Bedenken waren unbegründet. Der Globale Westen war keine Bedrohung für Russland. Im Gegenteil, europäische Mächte wie Deutschland und das Vereinigte Königreich waren seine Geschäftspartner. Während der gesamten 1990er Jahre war Russland auch ein Partner der Nato. Doch das Lauterwerden der demokratischen Forderungen in den Nachbarländern schuf einen Präzedenzfall, der Wladimir Putin und sein autoritäres Regime bedrohte.

Die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs trugen den Bedenken Russlands Rechnung und hielten die östliche Nachbarschaft auf Distanz. Gelegentlich deuteten die EU und die Nato eine Politik der offenen Tür gegenüber diesen Ländern an und feierten rhetorisch die Bemühungen um Handlungsfähigkeit und Demokratisierung, ließen aber nie Taten folgen. Erst jetzt, mit ihrer Entschlossenheit, Russland zu bekämpfen, hat die Ukraine ihren Status als Stützpfeiler des Pufferzonensystems endgültig beendet.

Entscheidung für Europa

Die ukrainische Gesellschaft befindet sich heute auf einem Weg der schnellen Transformation. Die Ukrai­ne­r*in­nen entscheiden sich für die europäische Identität, die Habermas und ­Derrida gefordert hatten. Jetzt ist es an der Zeit, dass Europa sich mit den Ukrai­ne­r*in­nen identifiziert und auf den Ruf der Ukraine nach einem Beitritt antwortet.

Diese Entscheidung mag dem pazifistischen Argument von Habermas und Derrida im Zusammenhang mit der Irak-Invasion widersprechen. Aber es steht im Einklang mit ihrer übergreifenden Botschaft. Sollte Europa beschließen, dass eine freie und intakte Ukraine nicht mehr in seinem Interesse liegt, und aufhören, sich an der Schaffung eines Umfelds zu beteiligen, in dem die Ukraine ihre Ziele erreichen kann, wird das Land den Krieg verlieren.

Das Ergebnis wird nicht eine fügsame Bevölkerung sein, die bereit ist, ihre Souveränität im Tausch gegen ihre persönliche Sicherheit aufzugeben. Vielmehr wird ein schwer bewaffnetes und kriegsgestähltes Land im sozialen und politischen Chaos versinken. In diesem Szenario gewinnt Russland, und Europa verliert.

Aber den Krieg zu gewinnen ist nicht genug. Um den Frieden zu gewinnen, muss Europa seine außenpolitische Agenda der Dekolonisierung verstärken und die Existenz einer internationalen Hackordnung ablehnen. Es muss seinen Fehler eingestehen, die Theorie der „Einflusssphären“ akzeptiert zu haben, und seine geopolitische Rolle neu definieren.

Revision der Erweiterungspolitik

Eine Revision der Erweiterungspolitik ist für diese Agenda von grundlegender Bedeutung. Die jahrelange (unzureichende) Hilfe für die Republik Moldau, die Ukraine und die westlichen Balkanländer hat gezeigt, dass finanzielle Unterstützung kein Katalysator für Veränderungen ist. Die Beitrittskandidaten müssen als gleichberechtigte Partner behandelt und von Beginn der Beitrittsverhandlungen an in die Entscheidungsfindung und die Gesetzgebung der EU einbezogen werden.

Die neutrale oder antiwestliche Haltung der Länder des Globalen Südens im Russland-Ukraine-Krieg ist ein weiterer Aufruf an die Europäer, ihr kolonialistisches Weltbild zu überdenken, ihre Fehler einzugestehen und ihre Absichten besser zu erklären.

Auch wenn der Begriff „Globaler Süden“ die Vielfalt der unter ihm subsumierten Länder nicht erfasst, teilen die meisten von ihnen eine distanzierte Position zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Sie weigern sich, Partei zu ergreifen, und werfen dem Westen sogar vor, sich wieder einmal zu weit vorgewagt zu haben.

Laut Umfragen sind über 60 Prozent der Weltbevölkerung entweder neutral oder Russland zugeneigt. Diese Meinungen sind vor allem in den Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu finden. Kein Land aus Afrika oder Lateinamerika hat Sanktionen gegen Russland verhängt. Der Westen wird zunehmend isoliert.

Eine Reihe von Fehlinformationen

Dies ist jedoch nicht nur das Ergebnis eines historischen Misstrauens gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Es ist auch auf europäische und amerikanische Fehlinformationen und proimperialistische Apologetik zurückzuführen.

Das Narrativ, die EU und die Nato hätten sich zu weit in die russische „Einflusssphäre“ ausgedehnt, wurde von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Entscheidungsträgern im Westen verbreitet, die an der kolonialen Weltsicht festhalten, wonach die Rechte und nationalen Interessen der „Großmächte“ über denen der „kleinen Staaten“ stehen.

Um dem Einfluss solcher Narrative entgegenzuwirken, sollte Europa umfassende wirtschaftliche und diplomatische Ressourcen in die Information und Einbeziehung der führenden Po­li­ti­ke­r*in­nen und der Öffentlichkeit des Globalen Südens in seine Entscheidungsfindung investieren. Auf diese Weise würde Europa zeigen, dass es die Handlungsfähigkeit von Staaten, die es zuvor als subalterne „kleine Nation“ behandelt hatte, nicht länger ignoriert.

Der Globale Süden

Anstatt sich in einer Position der Kontrolle zu wähnen, sollte der Westen vor einem globalen Publikum anerkennen, dass die Ukrai­ne­r*in­nen seit Jahrzehnten allein für ihre Unabhängigkeit von der russischen Einmischung kämpfen, ohne Unterstützung durch die EU oder die Nato.

Der Westen sollte auch akzeptieren, dass die Länder des Globalen Südens so lange berechtigte Bedenken haben, sich einer vom Westen geführten globalen Ordnung anzuschließen, wie diese nicht die Sicherheits- und Wirtschaftsbelange der Entwicklungsländer einbezieht. Eine erfolgreiche europäische Außenpolitik würde den Globalen Süden ermutigen, den Westen für seine mangelnde Offenheit gegenüber den Bitten der Ukraine um Unterstützung und Inklusion vor der Invasion 2022 zur Rechenschaft zu ziehen.

Es sollte allen Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen klar sein, dass sich die Ukrai­ne­r*in­nen darauf vorbereiten, den Krieg zu gewinnen. Um diesen Sieg zu erringen, werden sie tun, was sie für richtig halten, solange sie können, nach bestem militärischen und politischen Vermögen.

Dies bedeutet eine entschlossene Ablehnung jeglicher Verhandlungen. Jede Sichtweise, die die Forderung der Ukraine nicht als gerecht anerkennt und nicht versteht, welche Schuld der Westen gegenüber den Nationen auf sich geladen hat, die er seit Langem als klein und entbehrlich ansieht, bleibt der kolonialen Agenda verhaftet.

Postkoloniales Europa

Die postkoloniale Zukunft Europas wird davon abhängen, wie es sich verhält und wie es selbst aus dem Kampf um die Ukraine hervorgeht. Der Ausgang dieses Kampfs wird sich nicht nur an der Ostfront entscheiden. Es wird auch ein Kampf um den Frieden in der Ukraine sein.

Europa hat keine Wahl: Es muss auf die Forderung der Ukraine, ihren demokratischen Wiederaufbau nach dem Krieg zu unterstützen, antworten. Enttäuscht Europa die Ukraine, würde dies bedeuten, dass es seinen aufkeimenden Widerstand gegen die eigenen und fremden imperialistischen Tendenzen aufgegeben hat. Die Unabhängigkeit, die Souveränität, die Demokratie und die Nachkriegsstabilität der Ukrai­ne liegen in den Händen Europas.

Dieser Essay ist eine gekürzte Fassung des Original­essays.

Europäische Intellektuelle fragen in der Serie „Lehren des Krieges“, initiiert von den Eurozine-Mitbegründern Carl Henrik Fredriksson und Klaus Nellen, was Russlands Invasion der Ukraine für die Zukunft Europas bedeutet. Die taz druckt ausgewählte Beiträge ab.

© Eurozine und Voxeurop

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