US-Debatte über Holocaust-Vergleich: Eine Frage des Framings

Kann man Abschiebelager mit Konzentrationslagern vergleichen? In den USA ist darüber eine Diskussion entbrannt, auch unter Historiker_innen.

Eine Frau hält ein Plakat in der Hand auf dem "Close the camps" steht. Im Hintergrund stehen weitere Demonstranten.

Ob vor dem Wort Camp „Detention“ oder „Concentration“ stehen darf, spaltet in den USA die Gemüter Foto: reuters

Die Einrichtungen, in denen die USA Asylbewerber und Immigranten einsperren, als „Konzentrationslager“ zu bezeichnen – ist das zulässig? Diese Frage treibt Aktivisten in den USA schon länger um. Sie benutzen den Vergleich umso häufiger, je rücksichtsloser Grenzschützer und Abschiebepolizisten mit den Kindern, Frauen und Männern hinter Gittern umgehen. Inzwischen wird diese Frage auch unter Historikern kontrovers diskutiert.

Die Leitung des Holocaust Memorial Museums in Washington hält jeden Vergleich mit dem Holocaust für falsch. „Bestrebungen, Analogien zwischen dem Holocaust und anderen historischen oder zeitgenössischen Ereignissen zu schaffen, lehnen wir unmissverständlich ab“, hatte die Leitung des Holocaust Museums Ende Juni auf ihrer Webseite geschrieben. Und: „Wir analogisieren die Situation an der Südgrenze der USA nicht mit den Konzentrationslagern im Europa der 30er und 40er Jahre.“ 580 Holocaustforscher, darunter renommierte internationale Fachleute, halten nun dagegen. In einem offenen Brief an die Museumsleitung erklärten sie in dieser Woche, die Holocaustforschung habe die Aufgabe, „die Öffentlichkeit auf gefährliche Entwicklungen aufmerksam zu machen“ und „auf zeitliche und räumliche Ähnlichkeiten hinzuweisen“.

Das Museum ist die Hauptinformationsquelle über den Holocaust für Millionen von Besuchern in den USA sowie eine ständige Referenz für Historiker aus aller Welt. Zu Letzteren gehört auch die in Deutschland geborene Anika Walke, die an der Washington University in St. Louis lehrt und über den Holocaust in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion forscht. Das aktuelle Statement des Museums hat sie enttäuscht. „Forscher brauchen Analogien, oder Vergleiche, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert, und um strukturelle Ähnlichkeiten und Differenzen herauszuarbeiten“, sagt Walke.

Gemeinsam mit einer Kollegin, der Historikerin Andrea Orzoff von der State University in Neu-Mexiko, hat Walke den offenen Brief der Forscher verfasst. Darin nennen sie das Vorgehen des Museums „unhistorisch“. Sie schreiben, dass es sich um eine „radikale Position“ handle, „die sich weit vom Mainstream in der Holocaust- und Genozidforschung entfernt und das Lernen von der Vergangenheit kaum möglich macht“. Adressatin des Briefs ist Sara Bloomfield, die das Holocaust Memorial Museum seit zwei Jahrzehnten leitet.

Nicht gegen das Museum

Die 15 Erstunterzeichner begannen am 26. Juni, den Brief unter Kollegen zu verschicken und Unterschriften zu sammeln. Am 1. Juli erschien der Brief mit den Namen von 221 Historikern. In weniger als drei Tagen kamen 359 weitere hinzu. Neben einer Mehrheit von US-Amerikanern und Kanadiern sind darunter auch Europäer. Viele haben selbst im Holocaust Museum gearbeitet oder Unterstützung von ihm erhalten. „Unsere Initiative richtet sich nicht gegen das Museum“, macht Walke deutlich.

In einem Essay in der Washington Post nennt der Wissenschaftler Emil Kerenji das Statement des Museums „seltsam.“ Er hat das fünfbändige Werk „Jewish Responses to Persecution, 1933–1946“ veröffentlicht, das sich mit den Gräben zwischen jenen befasst, die in Lagern interniert, und jenen, die außerhalb waren. Kerenji erinnert daran, dass das Museum Analogien nicht immer ablehnt. So hieß es im vergangenen Jahr angesichts der in Myanmar verfolgten Rohingya in einer Erklärung: „Die Welt hat die Augen vor ihrer Verfolgung geschlossen – genauso wie sie es gegenüber den Opfern des Holocaust tat.“

Am 3. Juli schlossen die beiden Historikerinnen ihre Unterschriftenliste. „Wir haben unsere Position klargemacht“, sagt Walke. Eine Reaktion der Leitung des Holocaust Museums steht noch aus. Aber die Unterzeichner des offenen Briefes wissen, dass ihre Diskussion auch unter den Mitarbeitern des Museums Widerhall findet.

Wenn es erst einmal Konzentrationslager gibt, ist es wahrscheinlich, dass die Dinge schlimmer werden

Noch bevor der Streit unter den Historikern so richtig ausbrach, stieß ein Video der linken New Yorker Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez die Diskussion an. „Lasst uns die Konzentrationslager als das bezeichnen, was sie sind“, sagte Ocasio-Cortez im Juni, als Rechtsanwälte nach Besuchen in Lagern in Texas über kranke Kleinkinder in überfüllten Zellen, unzureichende Ernährung, fehlende medikamentöse Versorgung, katastrophale sanitäre Bedingungen, Schlafentzug und andere Vernachlässigungen berichteten. „Dies ist eine Krisensituation für Immigranten in den Konzentrationslagern“, sagte Oca­sio-Cortez, „aber es ist auch eine Krise für uns – für die Prinzipien und die Werte Amerikas.“

Schon vor ihr hatten Historiker das Stichwort „Konzentrationslager“ in die Debatte über Donald Trumps Grenzpolitik eingebracht. Aviva Chomsky erinnerte daran, dass bereits die Spanier im kubanischen Unabhängigkeitskrieg „Konzentrationslager“ in ihrer damaligen Kolonie eingerichtet haben und dass die USA nach ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 120.000 japanische Einwanderer und ihre Nachfahren einschließlich Kindern und Großeltern in Lager brachten. Andrea Pitzer, Autorin eines viel beachteten Buches über die globale Geschichte von Konzentrationslagern, schrieb in der New York Review of Books: „Wenn es erst einmal Konzentrationslager gibt, ist es wahrscheinlich, dass die Dinge schlimmer werden.“

Protest an den Lagern

Kaum hatte Alexandria Ocasio-Cortez ihr Video online gestellt, fielen Donald Trumps Anhänger wütend über sie her, nannten sie ignorant und verlangten, dass sie sich bei Holocaustüberlebenden entschuldige oder gleich ganz zurücktreten solle. Shmuley Boteach, der sich selbst „Amerikas Rabbi“ nennt und der von demselben Kasinomogul Sheldon Adelson finanziert wird, der auch zu Trumps größten Geldgebern gehört, schaltete eine ganzseitige Anzeige in der New York Times. „Sie entweiht den Holocaust, indem sie die USA mit dem Dritten Reich vergleicht“, warf er der Abgeordneten vor.

Andere jüdische Prominente aus den USA hingegen stellten sich hinter Ocasio-Cortez. Der ehemalige Chef des American Jewish Congress, Henry Siegman, der in Frankfurt/Main zur Welt kam, bevor seine Familie in die USA floh, schrieb in einem Essay: „Der Umgang mit Menschen, die um ihr Leben fliehen, unterscheidet sich nicht sehr von den Konzentrationslagern, in denen Juden in den 30er Jahren von Nazis gefangen gehalten wurden.“ Die deutschen Nazis internierten Siegmans Großvater im Konzentrationslager Dachau. Damals sei der Mord an den europäischen Juden in Deutschland noch ebenso unvorstellbar gewesen, wie es in den USA des Jahres 2016 unvorstellbar war, dass der Präsident anordnen würde, „Kinder aus den Armen ihrer eingewanderten Müttern zu reißen“. In seiner Verteidigung der jungen Abgeordneten erklärte der 89-jährige Siegman auch: „Wenn Leute die Grausamkeit besitzen, die Trumps Benehmen und Politik gegenüber Flüchtlingen bestimmt, sollte man nicht die tiefer gehenden Grausamkeiten unterschätzen, deren sie noch fähig sein mögen.“

Die eher akademische Debatte über den Holocaust als Referenzrahmen lässt den US-Präsidenten unterdessen kalt. Höhnisch twitterte Donald Trump nur, dass die „illegalen Migranten“ ja nicht zu kommen bräuchten, wenn ihnen die Bedingungen in den Lagern unangenehm seien. Auch in der Gruppe „Never Again Action“, in der junge jüdische Aktivisten gegen Trumps Einwanderungspolitik protestieren, geht es weniger um Semantik als vielmehr darum, die Misshandlungen von Einwanderern zu stoppen. „Wenn du jüdisch bist und etwas gegen die Konzentrationslager an der Grenze unternehmen willst, trag dich hier ein“, heißt es auf der Webseite der Gruppe. „Eine Menge Politiker sind entsetzt über Worte“, sagt Sprecherin Sophie Ellman-Golan, „stattdessen sollten sie sich über die entsetzlichen Bedingungen in den Lagern empören.“

Am vergangenen Sonntag haben mehr als 100 Mitglieder von „Never Again“ kurzfristig das Abschiebelager Eli­za­beth in New Jersey blockiert, nur 16 Kilometer westlich von Manhattan. Auf ihren Transparenten beschreiben sie sich als Enkel von Holocaustüberlebenden. Als die erste von insgesamt 36 Demonstranten in Handschellen abgeführt wird, sagt die junge Frau einem Journalisten: „Meine Vorfahren waren Partisanen. Sie wären jetzt stolz auf mich.“ Eine andere Festgenommene, die Liedermacherin Tae Phoenix, ist für die Aktion von der Pazifikküste nach New York geflogen. Kurz nachdem sie aus der Polizeihaft entlassen wurde, schrieb sie in einem Artikel für Newsweek: „Wir tun das, was wir von Nichtjuden in Europa in den 30er und 40er Jahren erwartet hätten.“

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