Trendsport Angeln in Berlin: Ein toller Hecht
Angeln boomt: Das Hobby, bisher als Altherrensport verspottet, zieht mehr und mehr gestresste Großstädter*innen an. Auch wegen Corona.
Um neun Uhr morgens an diesem schönen Sonntag ist für Jörg Rauter der Angelausflug schon wieder zu Ende. Der Berliner, der um 6.30 Uhr aufgestanden ist („der frühe Wurm fängt den Fisch“, wie der Angler weiß), hat seinen Hecht gefangen, mehr wollte er gar nicht. „Jetzt fahre ich wieder zurück zur Familie zum Frühstück.“
Rauter befindet sich während seines Angelausflugs in einem Boot auf einem See in Brandenburg, als man mit ihm telefoniert. Wo genau, will er nicht verraten, es seien auch so schon zu viele Angler unterwegs auf seinem Lieblingssee.
Besonders schwer sei es nicht gewesen, den Hecht zu fangen, betont er. Die Raubfische seien nach dem Winter einfach besonders hungrig. Einen Hecht zu angeln, mache außerdem besonders viel Spaß, weil der eine echte „Killermaschine“ sei und „gut kämpft“. Er sagt: „Es macht wohl jedem Angler Spaß, wenn es an der Angel richtig schön zappelt.“
Rauter ist passionierter Angler, schon seit vielen Jahren. Er habe als Lehrer an einer Berliner Schule viel Stress, da sei das Angeln genau das Richtige, „um mal runterzukommen und den Kopf freizukriegen“. Dass hier draußen auf dem See in Brandenburg das Internet nur schlecht funktioniert, würde auch helfen. Wer nicht ständig seinen News-Feed checken kann, lässt sich leichter auf das reine Erlebnis in der Natur ein.
So wie Rauter geht es immer mehr Menschen. Angeln boomt, und das schon seit einer Weile. Josua Dasch vom Berliner Sportangelverein Nee Noch Nich 1950, der am Altberliner Schifffahrtskanal in Spandau beheimatet ist, sagt, Angeln sei inzwischen so eine Art Lifestyle geworden. „Früher war Angeln was für alte Männer, die sich am Wasser treffen. Mittlerweile begeistern sich auch immer mehr Jüngere dafür.“ Er verweist auf den Rapper Marteria, der sich als begeisterter Angler geoutet hat und ganz offensichtlich keine Angst davor hatte, damit als uncool rüberzukommen. Außerdem würden Youtube-Videos boomen, bei denen vor allem Jüngere ihre Abenteuer mit der Angelrute filmen würden.
Zudem würden sich mehr und mehr Frauen für das Hobby interessieren. „Meine Frau und meine Schwester angeln auch“, so Dasch. „Das Piefige, das dem Angeln anhing, vergeht langsam.“
Angeln passt eben perfekt in eine Zeit, in der sich immer mehr bei der Wahl ihres Hobbys dezidiert nach einem Ausgleich zum Alltag sehnen. Die einen machen Yoga, die anderen werfen die Angelrute aus und warten geduldig, bis sie etwas am Haken haben. Das kann Stunden dauern und man fängt auch mal nichts. Man sitzt dann da, meist allein auf dem Wasser und meditiert und sinniert so vor sich hin. „Die Ruhe finden auf dem Wasser“, das ist auch für Dasch das primäre Ziel. Zum Glück des Anglers gehöre aber auch das Gefühl, mit der Natur verbunden zu sein und „das Erfolgserlebnis, seinen Zielfisch gefangen zu haben“.
Stadtflucht ist ein weiterer Grund für den Angelboom, glaubt Jörg Rauter. Viele Berliner ziehe es ja schon seit einer Weile an den Wochenenden raus aufs Land, nach Brandenburg, wo viele auch noch eine kleine Datsche besitzen. Angeln sei da die passende Freizeitbeschäftigung für diesen Trend.
Brandenburg ist unter anderem deswegen so beliebt bei Berliner Anglern, weil man hier, anders als in Berlin, keinen Fischereischein benötigt, um die Rute auswerfen zu dürfen. Zumindest gilt das für das Angeln von Friedfischen, wie etwa der Karpfen einer ist. Für das Angeln eines Raubfisches benötigt man dagegen auch hier einen Fischereischein, für den man eine Anglerprüfung bestehen muss.
„Was soll man machen, außer nach draußen zu gehen?“
Mit Corona hat der Angelboom nochmals zugelegt. Guido Fischer, Schatzmeister des DAV Landesanglerverbands Berlin, sagt, seit der Pandemie gäbe es einen spürbaren Mitgliederanstieg bei den Anglervereinen in Berlin und Brandenburg. Groß in den Urlaub fahren, das gab es im letzten Jahr nicht, also haben sich viele etwas Erholsames in der direkten Umgebung gesucht. „Und was soll man denn machen, außer nach draußen zu gehen?“, fragt er rhetorisch.
So seien viele in der Coronazeit zum Draußensport Angeln gekommen. Und dieses Jahr werden es noch mehr Mitglieder werden in den Anglervereinen, da ist er sich sicher. „So wie gerade besonders viele Fahrräder gekauft werden, boomt auch das Geschäft mit Anglerzubehör.“
Angler Micha über seine Motivation
Davon ist beim Angelhaus Koss in Wedding allerdings nicht viel zu spüren. Der Laden ist berühmt in Berlin, weil er über einen der eigentümlichsten Automaten der Stadt verfügt: einen für Lebendmaden, die von Anglern als Köder eingesetzt werden. Micha, der sagt, „alle kennen mich nur als Micha und gut ist“ und deswegen auch in der Zeitung nur so genannt werden möchte und der schon seit 28 Jahren Mitarbeiter bei Koss ist, gibt an, trotz des Booms sei bei ihm im Laden das Geschäft um 70 Prozent eingebrochen. „Die Leute wollen sich für das Shoppen nicht extra testen lassen und bestellen deswegen lieber im Internet.“
Das Einzige, was gerade wirklich gut laufe, sei das Geschäft mit den Maden. „Wir befüllen den Automaten am Wochenende und Montag früh ist er eigentlich immer leer.“ Nur wirklich Geld würde man damit nicht verdienen, die Sache mit den Maden sei eher eine Art Service für die Anglergemeinschaft.
Wenn man ihn, der schon seit einer Ewigkeit angelt, nun fragt, was ihn an seinem Hobby begeistern würde, erhält man übrigens nicht die übliche Erklärung, in der viel von Naturerlebnis und Stressabbau die Rede ist. Seine Antwort klingt vergleichsweise pragmatisch und nüchtern. „Den Fisch zu überlisten und abends was auf dem Teller zu haben“, darum gehe es ihm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml