Trainingsregime im Turnen: Warten auf den echten Wandel
Frauenturnen hat ein strukturelles Problem psychischer Gewalt. Mit schönen Bildern schicker Ganzkörperanzüge lässt es sich nicht lösen.
D as Turnen hat ein Problem. Ein Problem, das seit fast einem Jahr in der Öffentlichkeit verhandelt wird. Es geht um ein Trainingsregime, in dem Gewalt ausgeübt wird, vor allem psychische Gewalt: absolute Macht und Kontrolle der Trainer:in, subtiler Druck und explizite Strafmaßnahmen, das Ignorieren von Verletzungen, die ständige persönliche Erniedrigung der Schutzbefohlenen, nicht nur, aber insbesondere im Kontext des Gewichts der Turnerinnen.
So geht Leistung, ist die Überzeugung vieler, und für Leistung, also Medaillen, wird man schließlich als Trainer:in im Hochleistungssport bezahlt. Das Problem gibt es auch in Deutschland, wie die Ende Januar veröffentlichte Zusammenfassung der Untersuchung von Vorwürfen, die Chemnitzer Turnerinnen gegen ihre Cheftrainerin erhoben haben, belegt. Die Trainerin ist suspendiert. Der Verband spricht jetzt von einem Kulturwandel.
So weit, so bekannt. Und jetzt? Bei der EM startet Sarah Voss in einem Ganzkörperanzug. Der Verband formuliert eine Pressemitteilung, in der er auf seine Maßnahmen zur „Prävention sexualisierter Gewalt“ hinweist und formuliert zum Auftritt von Voss: „Der Deutsche Turner-Bund sieht diesen Schritt als ersten wichtigen Baustein, um das Wohlbefinden aller Athletinnen in den Turn-Sportarten zu stärken und eine offene Kultur im Hinblick auf das Tragen von Wettkampfbekleidung zu schaffen.“ Dann titelt eine erste Meldung: „Sarah Voss gegen Sexualisierung“. Mit diesem Stichwort rollt die Welle los: „Sexismus-Protest!“, „Aufbegehren in Hosen“ – und schwups! wird es eine „Revolution“ im Frauenturnen.
Fremde Federn
Daran ist so gut wie alles falsch. Zum einen die Chronologie: Der Verband, der dieses Trikot nun als „wichtigen Baustein“ in seinem Kulturwandel vereinnahmt, hat – so schreibt er es Ende Januar 2021 selbst – gar nicht geahnt, was für schlimme Dinge in deutschen Turnhallen geschehen. Die Initiative zum Ganzkörperanzug hingegen stammt aus dem Frühjahr 2020 – Cheftrainerin Ulla Koch hatte sie angestoßen, nachdem ihre Athletinnen vom persönlichen Unwohlsein im Kurzdress berichtet hatten.
Und dann ist da die einseitige Kontextualisierung seitens vieler Medien. Es würde reichen, Sarah Voss zuzuhören: Die 21-Jährige hat unmissverständlich erklärt, welche Intention dahinter steht: Sich selbst wohler fühlen im Wettkampf, zeigen, dass so ein ungewöhnlicher Einteiler elegant und schön sein kann und damit „jüngeren Turnerinnen, die sich vielleicht auch unwohl fühlen, ein Vorbild sein“. Es gehe um die Freiheit der Entscheidung – für kurz oder für lang – kurzum um ein Stück Selbstbestimmung der Athletin. Das ist die zentrale Botschaft, und sie ist wichtig.
Die Worte Protest, Sexismus oder Sexualisierung hatte Sarah Voss allerdings nicht in den Mund genommen. Zu Recht. Denn wenn aus dieser Aktion nun ein „Protest“ wird, würde das im Umkehrschluss auch bedeuten, dass all die Turnerinnen, die weiterhin ein Kurzdress bevorzugen, damit Sexismus und Sexualisierung Vorschub leisten. Das wäre fatal und das Gegenteil der Intention, die freie Entscheidung zu propagieren.
Im Frauenturnen, das übrigens fast nur von Frauen bewertet wird, sind kindliche, also vorpubertäre Körper nach wie vor deutlich in der Mehrheit. Es ist schon deshalb kein ausgewiesener Tummelplatz für sexistische Sprüche. Anders gesagt: Die Sportart ist so sexistisch wie die patriarchale Gesellschaft. Die DTB-Führung reibt sich nun feixend die Hände über einen gelungenen PR-Coup. Man steht gut da.
Und das strukturelle Problem psychischer Gewalt? Scheint im Aufsehen, das der Ganzkörperanzug erregt hat, irgendwie verschwunden. So leicht sollte man es dem Deutschen Turner-Bund nicht machen.
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