Tankgutscheine und bloß keine Waffen: Ewiggestrig war gestern
In Zeiten von Krieg und Krisen gerät sicher Geglaubtes durcheinander. Doch reflexhaftes Reagieren – siehe FDP – ist keine Lösung.
E in Sonntag in der idyllischen Altstadt von Göttingen. In den Straßencafés der Universitätsstadt sonnen sich die Menschen. Durch die Fußgängerzone zieht an ihnen eine kleine Demonstration von Schwarzgekleideten vorbei. Und ruft unter anderem den guten alten Slogan der Antifa: „Deutsche Waffen, deutsches Geld morden mit in aller Welt.“
Die Leute lecken ihr Eis, trinken ihren Kaffee und ignorieren den Aufzug zum größten Teil. Aber die Parole klingt seltsam in einer Zeit, wo der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski fast täglich um deutsche Waffen fleht – um das Morden der russischen Truppen zu stoppen, die in seinem Land auch Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser, Flüchtingstrecks und Supermärkte bombardieren.
Der Begriff „Ewiggestrige“ war in meiner Vorstellungswelt bislang klar zugeteilt: Das waren Leute, die die Oder-Neiße-Linie nicht als deutsche Ostgrenze akzeptierten, Frauen an den Herd fesseln und die Prügelstrafe in der Schule wiederhaben wollten. Wen wir „ewiggestrig“ nannten, den fanden wir ignorant, engstirnig, spießig, reaktionär, der wehrte sich gegen die Realität.
Dieser Krieg bringt auch das durcheinander. Plötzlich sind manche Linke die neuen Konservativen: Die Parolen der DemonstrantInnen in Göttingen halten jedenfalls daran fest, dass die Deutschen, ihr Kapital und ihre Waffen immer und überall die Bösen sind. Dass der Überfall Russlands manche dieser Annahmen infrage stellen könnte, kommt in diesem Weltbild offenbar nicht vor. Andere denken, dass unsere Waffen in Konflikten nichts zu suchen haben – wie die Ampelregierung bis zum 24. Februar. Wer so denkt, für den bedeutet die von Olaf Scholz propagierte „Zeitenwende“ wohl auch nur die Umstellung der Küchenuhr auf Sommerzeit.
Vielleicht liegt es ja daran: Große Veränderungen machen Angst. Da bleiben wir lieber beim Altbekannten und tun das Reflexhafte: Wenn die Benzinpreise stark steigen, fordert die FDP Tankgutscheine, auch wenn das unsozial ist und die Preise noch weitertreibt. Wenn Öl und Gas teuer werden, wollen wir den Armen mehr Geld dafür geben (was richtig ist), ohne ihren langfristigen Energieverbrauch etwa durch Subventionen für neue Kühlschränke oder Tipps für anderes Heizen zu senken (was falsch ist).
Wenn wir Angst bekommen, dass 30 Jahre einträchtige Energiepolitik von CDU/CSU und SPD uns der Gnade eines Kriegsverbrechers ausgeliefert haben, suchen wir nach anderen Despoten, die uns fossile Folterwerkzeuge für die Umwelt liefern, statt erst mal die Heizung runterzudrehen und ein Tempolimit zu beschließen (hello again, FDP!).
Wenn das fossil-nukleare System endlich wackelt, wünschen wir uns lieber längere AKW-Laufzeiten, anstatt endlich mal bei der Energiewende richtig Biogas zu geben, die Öl- oder Gasheizung für eine neue Wärmepumpe rauszuschmeißen und eine PV-Anlage aufs Dach zu setzen. Wir sind mit allem, was wir haben, im Gestern verhaftet. Schlechte Nachrichten für alle, die an einer wie immer gearteten „Revolution“ arbeiten wie das aufrechte schwarze Häufchen in der Altstadt von Göttingen.
Einen Tag später höre ich dann dem großen alten Mann des deutschen Naturschutzes, Michael Succow, zu. Er schildert mit Wehmut, welche Vielfalt an Pflanzen und Tieren im Oderbruch und im Boddengewässer über die letzten 50 Jahre verloren gegangen ist. Am nächsten Tag erzählt ein Freund das Gleiche von der Elbe – früher Fischreichtum, heute Schlickwüste durch die Ausbaggerei.
Ich lese die Berichte, wie sich in den letzten Jahren die Plastikpest über die ganze Welt verbreitet hat. Ich registriere routiniert die Daten über den Dürremonat März und Temperaturrekorde in Arktis und Antarktis, die uns weit wegführen vom verträglichen Klima der Vergangenheit. Hier gibt es sie wirklich noch: die vielleicht nicht gute, aber bessere alte Zeit.
Und ich merke: Am liebsten wäre ich ein Ewigvorvorvorgestriger.
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