Stricken, Sticken und Co.: Feminismus ist Handarbeit
Unsere Autorin hat sich früher nie für sogenannten Mädchenkram interessiert. Mittlerweile stickt sie gerne: Ist das ein Stich ins Herz des Feminismus?
Kein Buchstabe gleicht dem anderen. Das kleine „n“ ist doppelt so groß wie sein Nachbar „e“, die Punkte auf dem „o“ springen wild auf ihm herum. Alle sind sie durch ungerade Linien miteinander verbunden und entstehen nach demselben Prinzip: Ich steche die Nadel von unten nach oben durch den Stoff und lasse sie einige Millimeter daneben wieder verschwinden, dort, wo die letzte Linie endet. Bin ich fertig mit den Buchstaben, verknote ich den losen Faden sicher auf der Unterseite meines Stoffes. Anschließend drehe ich den Stickrahmen um und begutachte mein Werk. Eine krakelige Angelegenheit, finde ich, aber die Botschaft ist deutlich: „schöner wohnen ohne macker“. Mit einigen Blumen verziert hängt sie wenige Tage später eingerahmt im Hausflur meiner Freundin.
Lange wollte ich mit Handarbeit nichts zu tun haben. Im Werkunterricht in der Grundschule erbrachte ich nicht gerade Glanzleistungen, und auch wenn meine Mutter die schlechten Noten im Stricken bis heute darauf zurückführt, dass meine Lehrerin mich als Linkshänderin diskriminierte, bin ich mir sicher, dass ich auch unabhängig davon nicht sonderlich begabt war. Meine Freizeit verbrachte ich lieber draußen im Garten und auf dem Bolzplatz. Regelmäßig begutachtete meine Oma meine mit blauen und grünen Flecken übersäten Beine und schüttelte nur den Kopf. Ich mochte das, weil sie so mein Gefühl bestätigte, anders zu sein als die Mädchen, mit denen ich damals ohnehin nichts anfangen konnte.
Ein richtiges Mädchen zu sein, das bedeutete für mich früher: in der Schule ruhiger als die Jungs zu sein, sich schminken zu wollen, Haare flechten zu können und in Handarbeiten begabt oder zumindest interessiert zu sein. Verantwortlich für diesen Eindruck sind bis heute existierende Rollenklischees, die auf Unterdrückung und Diskriminierung fußen.
Jahrhundertelang wurden Handarbeiten vor allem dazu benutzt, Mädchen zu erziehen, sie an das Zuhause zu binden und auf ihre Rolle als Hausfrau vorzubereiten. Im 19. Jahrhundert war das Bild einer jungen Frau, die näht, ein Symbol für Ausdauer, Präzision und Gehorsam – Eigenschaften, die Männer an Frauen besonders schätzten. Oft stellten Eltern die Werke ihrer heiratsfähigen Töchter gut sichtbar im Haus aus, damit junge Männer nicht nur die Tochter, sondern auch ihr handwerkliches Geschick bewerten konnten.
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Ich hätte damals mit Sicherheit keinen Typen abgekriegt. Die Unterseite meines Stoffes ähnelt einem Schlachtfeld, meine Schreibschrift der einer Sechsjährigen. Aber das stört mich nicht, denn Sticken befriedigt mich, so wie es sonst nur Lesen oder Schreiben tut.
Anstatt auf Papier bringe ich meine Ideen, meine Wut und Begeisterung auf Stoff. Dass ich dafür eine halbe Ewigkeit brauche, ist das Schönste daran. Denn anders als in meinem Job oder beim Sport muss ich hier niemandem – auch nicht mir selbst – beweisen, dass ich es besonders schnell, gut oder akkurat kann. Und doch zweifele ich mein Hobby immer wieder an. Früher bin ich über die Stränge geschlagen, heute sitze ich gesittet zu Hause und sticke. Bin ich etwa unfeministisch geworden?
Vielleicht kann mir meine Oma helfen, Antworten auf diese Frage zu finden. Am Telefon erinnert sie sich an den Haushaltsunterricht in der Schule, der für Mädchen verpflichtend war. Dort stand neben Sticken, Stricken und Nähen auch Kochen und Backen auf der Agenda. Gerichte und Muster wurden vorgegeben, eigene Kreativität war nicht gefragt. Auch die Geldmittel für Materialien und Zutaten flossen spärlich. Aus weniger sollte mehr werden, hieß es damals. Einmal sei meine Oma so wütend darüber geworden, dass sie ihren Scheuerlappen in den Kochtopf feuerte und ging – für ihr Benehmen musste sie mit einer schlechten Note und Strafarbeit büßen. „Ich wollte keine Hausfrau sein“, erzählt sie mir. Geworden ist sie es trotzdem.
Das veraltete Bild der Hausfrau, die mit bekannten Sprichwörtern wie „Langes Fädchen, faules Mädchen“ oder „The devil finds work for idle hands“ zur Arbeit angehalten wird, ist längst überholt. Heute wenden sich viele junge Frauen – und auch immer mehr Männer – bewusst von dem verstaubten Image häuslicher Zierarbeiten ab und präsentieren ihre Werke im öffentlichen Raum, oft mit politischer Absicht. „Nadel, Faden und simpler Unmut über die herrschenden Verhältnisse“, so schreibt es die Kulturwissenschaftlerin Sarah Held, reichen den feministisch motivierten Aktivist*innen des sogenannten Critical Crafting aus.
Wenn sich Menschen unter politischen Vorzeichen zum Häkeln, Stricken oder Sticken zusammenschließen, spricht man heutzutage auch von „Craftivism“, „Subversive Stitching“ oder „Revolutionary Knitting“. Am populärsten ist wohl das 2005 in den USA gegründete „Guerilla Knitting“, auch „Yarn Bombing“ genannt, eine Form der Streetart, bei der ein gestrickter oder gehäkelter Gegenstand an einem festen Objekt in der Öffentlichkeit angebracht wird. Auch in Deutschland findet man in vielen Städten umstrickte Laternenpfeiler oder umgarnte Bäume, die als Widerstand gegen die Massenproduktion gelten können, aber auch auf verschiedene andere gesellschaftliche Problematiken hinweisen.
Klassische Handarbeitstechniken, die als Protestform dienen, sind kein neues Phänomen. Sarah Held nennt in ihrem Buch „Zur Materialität des feministischen Widerstands“ etwa die citoyennes tricoteuses, die revolutionären Stickerinnen, die während der Französischen Revolution an Orten des militärischen Geschehens auftraten, um den Gegnern ihr Durchhaltevermögen zu demonstrieren.
Im Allgemeinen war textile Handarbeit in der Geschichte übrigens keine reine Frauensache. Vor allem, wenn Handarbeit in die Öffentlichkeit geriet, waren prominente Akteure – wie könnte es anders sein – üblicherweise männlich. Heute gibt es verschiedene Männerstrickgruppen, die sich mit ihrer Kunst im öffentlichen Raum gegen patriarchale Strukturen auflehnen wollen.
Ich sticke zwar nicht für den öffentlichen Raum, und auch die Rebellion gegen patriarchale Strukturen ist bei meinem Zeitvertreib ausnahmsweise Nebensache. Dennoch merke ich in den Gesprächen mit meiner Oma, dass mein Hobby nicht weiter entfernt von dem sein könnte, was sie unter Handarbeit versteht. Anstatt Kochschürzen besticke ich Caps und T-Shirts für meine Freunde. Dabei sitze ich selten zu Hause, sondern oft in Zügen oder auf Parkbänken in der Sonne. Und im Zimmer meiner kleinen Schwester liegt seit ihrem letzten Geburtstag eine Decke, die sie jeden Tag an unsere geteilte Astrid-Lindgren-Zeit erinnert. Darauf steht in krakeliger Schrift: „Nein, jetzt werde ich wütend! Wenn ich kein Geld habe, dann kann ich keine Limonade trinken, und wenn ich Geld habe, dann darf ich keine Limonade trinken! Wann zum Himmeldonnerwetter noch mal soll ich denn dann Limonade trinken?“
Vielleicht ist es dieser Unterschied zwischen Müssen, Können und Dürfen, der auch bei der Handarbeit entscheidet, ob sie feministisch sein kann oder nicht. Ich muss nicht sticken, aber ich will – und zwar schief und krumm und langsam.
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