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Streit über Macrons RentenreformMacron überzeugt nicht

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Im Streit um Frankreichs Rentensystem geht es vor allem um den Kampf gegen soziale Ungleichheit. Der Widerstand ist dringend notwendig.

Ein Demonstrant zeigte in Maske und Handschellen, wie sehr ihm die geplante Rentenreform missfällt Foto: Daniel Cole/ap/dpa

R eform bedeutete früher Fortschritt. Unbemerkt hat sich das ins Gegenteil verkehrt. Wenn die französische Staatsführung Reformen ankündigt, gehen die Gewerkschaften defensiv in Deckung, weil sie mit einer sozialen Regression rechnen. Wer ein bisschen leichtfertig sagt, Frankreich sei wegen seiner widerspenstigen BewohnerInnen schlicht „nicht reformierbar“, übersieht, dass die Menschen aus leidiger Erfahrung gelernt haben.

Was Emmanuel Macrons Regierung nun im Namen der „Gleichheit“ und der Abschaffung von „Privilegien“ vorschlägt, würde neue Ungleichheiten und viele Frustrationen schaffen. Die echten Privilegien der Oberschicht aber blieben unangetastet. Ist etwa die Tatsache, dass ein Lokführer wegen seiner häufigen Nachteinsätze und Präsenz an den Wochenenden ab 52 in Rente gehen kann (nicht muss), ein überzeugender Grund, für alle ungeachtet ihrer speziellen Arbeitsbedingungen identische Regeln anzuwenden?

Die Demagogie in der Argumentation ist allzu offensichtlich und das pauschale Misstrauen in der Politik zu tief verankert. Die Staatsführung, die in einer Pressemappe mit Fall­beispielen behauptet, von dieser Reform würden „alle“ profitieren, hofft dennoch, dass ihr die Betroffenen aufs Wort glauben, es werde keine Verschlechterungen geben. In Schweden hat die Einführung eines vergleichbaren Punktesystems zur Rentenberechnung dazu geführt, dass sich die Altersarmut verdoppelt hat.

Wären nicht doch „französische Verhältnisse besser als deutsche Zustände“, wie Oskar Lafontaine in anderem Kontext sinnierte? Ein europäischer Vergleich von Organisation und Finanzierung der Altersvorsorge erweckt leicht den Eindruck, dass die französischen Erwerbstätigen sich bezüglich Rentenalter und -bezügen selbst mit der geplanten Reform wirklich nicht zu beklagen hätten.

taz am wochenende

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Wenige Länder wenden einen derart hohen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts (in Frankreich 14 Prozent) für die Finanzierung des Ruhestands auf, in wenigen Ländern liegt das gesetzliche Rentenalter bisher bei 62, und dass bestimmte Kategorien im öffentlichen Dienst wie der Bahn, der Polizei oder der Metro noch viel früher in den Ruhestand gehen dürfen, war bisher normal. Das ist Teil der „sozialen Errungenschaften“, kein „Privileg“, sondern der Erfolg jahrzehntelanger Kämpfe der Arbeiterbewegung, wie Mutterschaftsurlaub oder Mindestlohn.

Warum sollte diese heute diese erkämpften Rechte der neoliberalen Buchhalterlogik der Kostensenkung opfern? Weil die Leute länger leben? Das ist sehr relativ, denn gerade die ArbeiterInnen, die sich am längsten abgerackert haben, um eine Rente zu beziehen, die in etwa der Hälfte des letzten Gehalts entspricht, haben eine kürzere Lebenserwartung. In Wirklichkeit existiert eine soziale Ungleichheit im Alter, und diese würde mit dem geplanten Einheitssystem nur noch verschlimmert. Der frühere konservative Premier François Fillon nimmt kein Blatt vor den Mund: „Das Punktesystem erlaubt in Wirklichkeit nur eines, was aber kein Politiker eingestehen will: jedes Jahr den Wert der Punkte zu senken und damit das Niveau der Renten.“

Dass es den meisten Nachbarn in Spanien, Italien oder Deutschland im Rentnerleben noch schlechter ergeht, weil sie für eine oft viel kleinere Rente länger arbeiten müssen, kann kein Grund für die französischen Gewerkschaften sein, eine weitere Verschlechterung zu akzeptieren oder bei einem umfassenden Systemwechsel mitzumachen, der sich für fast alle Betroffenen – und namentlich die jüngeren Generationen – unweigerlich negativ auswirken würde.

Die Angleichung an ein durchschnittlich tieferes Niveau der sozialen Sicherheit ist kein überzeugendes Argument. Im Gegenteil: Ein erfolgreicher Widerstand gegen den schrittweisen sozialen Abbau in Frankreich ist ein Schritt aus der Spirale des Sozialdumpings in Europa, das jedes Mal mit dem fatalistischen Verweis auf den internationalen Wettbewerb begründet wird.

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Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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24 Kommentare

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  • Na ja, mit 52 in Rente gehen zu können würde auch ein sozialistisches System mit ziemlicher Sicherheit in den Ruin stürzen.

    • @Emmo:

      Im "Sozialismus" gingen Frauen mit 60 und Männer mit 65 in Rente.

  • Was hier gern übersehen wird: die Franzosen zahlen alle in dieselbe Rentenkasse, Lokführer wie Fabrikarbeiter. Nur dass die einen sehr früh in Rente gehen dürfen und sich so netto aus der Kasse bedienen, während die anderen mehr einzahlen müssen und weniger rausbekommen.

    Und das finden auch viele Franzosen ungerecht. Komme gerade aus Frankreich zurück, und kann nur sagen dass die meisten meiner Bekannten dort das geändert sehen wollen. Protestieren und streiken tun nur die privilegierten Gruppen, die bisher auf Kosten der anderen Arbeiter eine Frührente bekamen.

    • 0G
      09617 (Profil gelöscht)
      @Descartes:

      Na ihre Freunde lesen wohl den Figaro oder den ins liberale Lager abgeruschten Le Monde und nicht den Monde diplomatique. In Frankreich gibt es 42 Rentenkassen und das Loch in der Kasse der cheminots wird durch Steuergelder gestopft und nicht durch Beitragszahlungen anderer Rentenkassen.



      Ganz ehrlich, was hilft es Ihren Freunden, wenn die Eisenbahner weniger Rente bekommen und später in den Ruhestand gehen. Die Rente der cheminots macht gerade 2% des gesamten Rentenaufkommen aus. Das ist doch nur ein Vorwand, um den Hass auf vermeintlich Privilgierte zu lenken, damit das eigentliche Ziel nämlich die Gleichheit in Armut, indem durch die Neuberechnung alle Renten geringer ausfallen bei längerer Wartezeit, wdurchzusetzen.



      Die privaten Anbieter liegen ja auch schon auf der Lauer, die bieten dann Zusatzrenten an für die, die es sich leisten können. Die anderen müssen sich dann einen Job suchen, zur Tafel gehen und Sozialleistungen beantragen wie in Deutschland. Supermodell! In Frankreich liegt zur Zeit die Alterarmut bei 8%, der EU-Durchschnitt liegt bei 15%. Es gilt also Frankreich an die EU-Altersarmutsnorm anzupassen. Warum immer nach unten nivellieren?



      Zusammengefasst geht es bei der Rentenreform in Frankreich wie überall darum, die Menschen länger arbeiten zu lassen, bei geringerer Rente und vor allen Dingen müssen die Menschen nicht länger als 20 Jahre von ihrer verringerten Rente profitieren Das gesparte Geld geht dann in Steuererleichterungen für private Pensions fonds. Die reichen Aktionäre können dann auch Spenden an karitative Einrichtungen machen, was ihnen ein hohes Ansehen und grosse Steuererleichterungen verschafft. Und die Kleinrentner bekommen dann pünktlich ihre Suppe an der Tafel.



      Wenn das Ihre Freunde wollen,.. meine Freunde und Arbeitskollegen in Frankreich wollen was anderes...

  • Ich wünschte mir auch für deutsche Verhältnisse eine nur annähernd so kritisch fundierte Analyse wie sie hier von Rudolf Balmer für Frankreich macht. Der Begriff "Reformen" ist durch den Neoliberalismus zu einem ideologischen Kampfbegriff derjenigen geworden, die soziale Errungenschaften abbauen. Und Balmer hat das ja richtig beschrieben. Sobald ein überzeugter Neoliberaler wie Macron das Wort "Reformen" in den Mund nimmt, ist das ein Alarmsignal für Arbeitnehmer.



    Nach meiner Erinnerung hat erstmals in DE die damals rotgrüne Regierung den Sozialabbau hinter dem Begriff "Reformen" versucht zu verstecken.



    Doch im Gegensatz zur deutschen Arbeitnehmerschaft und ihrer handzahmen Gewerkschaften lassen sich das französische Arbeitnehmer nicht so leicht gefallen. Bewundernswert.

    Wir brauchen dringend ArbeitnehmervertreterInnen auf europäischer Ebene. Auf französischem Niveau. Nicht auf der Ebene deutscher Beschwichtiger und dieser unsäglich ideoloigisch verbrämten Sozialpartnerschaft, in der die Arbeitnehmerschaft viel zu oft den Kürzeren zieht.

    • @Rolf B.:

      "Nach meiner Erinnerung hat erstmals in DE die damals rotgrüne Regierung den Sozialabbau hinter dem Begriff "Reformen" versucht zu verstecken."

      ... welche zur Quasi-Vollbeschäftigung nowerdays geführt haben.

      • 0G
        09617 (Profil gelöscht)
        @Rudolf Fissner:

        Und zu vermehrter Altersarmut in DE, denn hier geht es ja um Renten. Länger arbeiten, weniger im Alter bekommen und früher sterben, das ist das Ziel aller Rentenreformen.



        Die Quasi Vollbeschäftigung mit 1€Jobs und Aufstockern. Und unter Senioren über 50 herrscht auch keine Vollbeschäftigung,

      • @Rudolf Fissner:

        Mit Hilfe von Jobs, die kein vernünftiges Auskommen ermöglichen. Warum reden wir denn in letzter Zeit so viel von Altersarmut? Weil viele zu wenig verdienen, um genug einzuzahlen.

      • @Rudolf Fissner:

        Mit Hilfe von Jobs, die kein vernünftiges Auskommen ermöglichen. Warum reden wir denn in letzter Zeit so viel von Altersarmut? Weil viele zu wenig verdienen, um genug einzuzahlen.

      • @Rudolf Fissner:

        Mit Hilfe von Jobs, die kein vernünftiges Auskommen ermöglichen. Warum reden wir denn in letzter Zeit so viel von Altersarmut? Weil viele zu wenig verdienen, um genug einzuzahlen.

      • @Rudolf Fissner:

        "nowadays"

  • "... und dass bestimmte Kategorien im öffentlichen Dienst wie ... der Polizei ... war bisher normal. Das ist ... der Erfolg jahrzehntelanger Kämpfe der Arbeiterbewegung"

    Ich halte es für ein Gerücht, dass die gewerkschaft der Müllfahrer für eine selektive Frühverrentung anderer Berufsgruppen gekämpft hat. Es war nie "die" Arbeiterbewegung die solche Ungleichheiten durchgesetzt hat.

    • @Rudolf Fissner:

      Es waren die Gewerkschaften. Und die sind ein wichtiger Teil der Arbeiterbewegung.

      Wer war es denn ihrer Meinig nach? Die katholische Kirche?

  • Rente ist eine ökonomische Flussgröße, Sie wird aus dem Volumen des insgesamt vorhandenen Konsum Potenzials entnommen.



    Wer die Rente erhöht der muss, Bei gleich bleibender Konsumgüterproduktion, gleichzeitig woanders den Konsum einschränken, das ist ein Ökonomisches Grundgesetz.



    Aber wessen Konsum kann eingeschränkt werden ?



    Die „Reichen“ in einer westlichen Gesellschaft haben zwar ein hohes Vermögen, aber ihr Konsum ist vernachlässigbar gering, da lässt sich nicht viel einschränken, die Vermögen sind in Investitions Güter gebunden.

  • Wann darf ich in Frankreich in Rente gehen, wenn ich Friseur gelernt, danach in der Buchhaltung gearbeitet, und mich dann, nach der Kündigung, zum Lokführer habe ausbilden lassen?

    • @Gregor Tobias:

      Vermutlich mit 52 als Lokführer. Deshalb gibt es ja das riesige Problem, dass in Frankreich alle Frisöre und Buchhalter mit 50 auf Lokführer umsatteln, um das System so richtig auszunutzen :-)

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Pfiffig. Und die „schon immer Lokführer“ lassen sich das einfach so gefallen?

        • @Gregor Tobias:

          Oh. Die machen mit, um das Land zu ruinieren. Das ist doch das gemeinsame Ziel dieser fiesen Arbeiter. Immer nur die armen Millionäre abzocken :-)

          Interessanter Weise, ist die Arbeitsproduktivität dieser ganzen französischen Sozialschmarotzer trotzdem deutlich höher, als die der "fleißigen" deutschen Arbeiter. Warum wohl?

          • @warum_denkt_keiner_nach?:

            Ich gehöre zu Denen, die nicht nachdenken - verraten sie mir's.

            • @Gregor Tobias:

              Vielleicht weil eine gute Absicherung motivierend wirkt?

  • Also zementiert man lieber das bestehende ungerechte System. Das macht natürlich Sinn.

    Bei vielen Aktionen französischer Gewerkschaften hat man eher das Gefühl, dass es allein um den Streik des Streikes willens geht. Ohne regelmäßig widerkehrende Streiks scheint man um die eigene Existenzberechtigung zu fürchten.

    Das ist dann wohl Unsinn.

  • " Ein erfolgreicher Widerstand gegen den schrittweisen sozialen Abbau in Frankreich ist ein Schritt aus der Spirale des Sozialdumpings in Europa..." (R. Balmer)



    Das ist vollkommen richtig! Unsere französischen Kolleginnen und Kollegen sind so gesehen mit ihren Streiks dabei auch für uns, hier im verschlafenen deutschen Land, die Notbremse zu ziehen. Sie verdienen unsere Solidarität.



    Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt!



    Herzlichen Dank für diesen Kommentar. Sowas ist ja auch in der taz leider nicht mehr selbstverständlich.

  • Tja, meine französische Oma meinte immer: "Man wählt nicht seinen Patron" - also seinen Chef. Recht hatte sie und deshalb wissen die einfachen Franzosen, wem Macrons Reform dienen soll - ihnen nicht. Und bei uns? Als Reform verkauften Rot/Grün unter Schröder-Fischer Hartz IV, Dumping-Löhne und Sozialabbau. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Jetzt besitzt die neue SPD-Führung die Unverschämtheit, die geforderte Korrektur der Sozialabbaus als Schritt zur Zukunftspolitik anzupreisen - was für erbärmliche Heuchler. Aber keine Angst, bei uns liegen die Gelbwesten ja weiterhin schön im Auto....