Sterbehilfe in Deutschland: Zwei Sorten Tod

Eine Liberalisierung der Sterbehilfe ist kein Akt der Humanität. Denn unserer Gesellschaft ist es nicht wichtig, dass alle Mitglieder überleben.

Eine MÄnnerhand ist geballt, von einer Seite läuft eine grüne auf und ab gehende Herzschlaglinie, dahinter ist sie rot und glatt

Wer wird am Leben fest­halten? Foto: Pascal Broze/Science Photo Library

Walter Jens war zeit seines Lebens einer der vehementesten Verfechter der Sterbehilfe. Sein Sohn Tilman Jens erzählt in „Demenz – Abschied von meinem Vater“, dass er auch privat von seiner Familie verlangte, ihn sterben zu lassen, sollten seine geistigen Kräfte nachlassen. Als dann die Demenz festgestellt wurde und sich im Laufe der Zeit immer stärker manifestierte, sprach er zwar weiterhin davon, bald sterben zu wollen; beendete seine Vorträge aber regelmäßig mit dem Satz: „Heute jedoch nicht.“ Schlussendlich war es der Sohn, der es nicht fassen konnte, wie sein Vater glücklich Kaninchen fütterte und sich zufrieden die ihm gereichten Wurstwecken einverleibte – der Vater, dieser große Gelehrte! Der dieses Leben nie wollte! Und jetzt einfach – glücklich war! Wie kann das sein?

Es ist nur eine Anekdote, aber eine, die geeignet ist, die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit beim Thema Sterbehilfe aufzubrechen. Idea­lis­t*in­nen waren enttäuscht davon, dass der Gesetzgeber sich wieder einmal nicht auf ein Modell zur gewerbsmäßigen Regelung der Sterbehilfe einigen konnte. Diese Neuregelung war nötig geworden, weil das Bundesverfassungsgericht ein prinzipielles Verbot gewerbsmäßiger Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt hat (gewerbsmäßig heißt hier nicht, dass damit Profit gemacht wird, sondern dass das Angebot zur Assistenz regelmäßig geschieht).

Bei Gesundheitsthemen kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen den Freiheiten einer gesunden Mehrheit und der Sicherheit einer gefährdeten Minderheit. Besonders heftig wurde dieser Konflikt während der Coronapandemie und zuungunsten der Gefährdeten entschieden. Auch beim Thema Sterbehilfe hat sich das Bundesverfassungsgericht auf die Seite der liberal Autonomen geschlagen, als es entschied, dass für eine Sterbehilfe Erkrankungen und dergleichen keine Rolle spielen, das Motiv also egal ist, mit den Worten des Gerichts: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“

Ein Weg, der so tut, als hätte jedermann immerzu eine Wahl

Es ist dies ein gefährlicher Weg; ein Weg, der so tut, als hätte jedermann immerzu eine Wahl und als wäre das Gesundheitssystem tatsächlich ein Hilfesystem (was es auch ist) und nicht eine Zermürbungsmaschine (als das es sich insbesondere bei chronischen Erkrankungen häufiger erweist). Dieser Weg entspringt der Überzeugung, dass der Mensch dann am glücklichsten ist, wenn er für sich selbst einsteht und unabhängig ist.

Zu dieser Idee des freien Menschen gesellt sich eine Politik, die Abhängigkeit bestraft. Hilfen sind teuer, das Geld wird knapper, die Zahl derjenigen, die Hilfe brauchen, wird größer, und in der Pandemie hat sich gezeigt, dass ein relevanter Teil der Ärz­t*in­nen­schaft sich nicht schützend vor besonders gefährdete Personen stellt, sondern lieber für die Aufhebung von Maßnahmen eintritt (so beispielsweise der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, als er im Januar 2023 ein Ende der Maskenpflicht in Arztpraxen forderte).

Jetzt nehmen die Fälle neurodegenerativer Erkrankungen zu, es wurde in Notaufnahmen triagiert, es gibt dokumentierte Fälle von Bitten aus den Rettungsstellen an Altenheime, infizierte Pa­ti­en­t*in­nen nicht einzuweisen; und trotzdem wird diesem System eine letztinstanzlich objektive Entscheidungsfindung anvertraut, ob jemand beim Sterben geholfen werden darf oder nicht. Weil alles andere zu teuer wäre.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seel­sor­ge­r*in­nen zu chatten.

Es geht nicht um das Recht auf Suizid

Es ist wichtig, noch einmal festzuhalten, worum es in den jetzt diskutierten Gesetzentwürfen geht: Es geht nicht um das Recht auf Suizid, es geht nicht einmal um das Recht auf assistierten Suizid. Beides ist erlaubt und Zweiteres wird in Einzelfällen auch praktiziert. Worum es jetzt geht, ist eine Liberalisierung bestehender Praktiken.

Wenn wir über Sterbehilfe reden, müssen wir mindestens über zwei Sorten Tod sprechen: über den medizinischen Tod, den Tod des Körpers; und über den sozialen Tod, den ich etwas pathetisch den Tod der Seele nennen möchte. Ein Beispiel für den seelischen Tod ist besonders gut in Fritz J. Raddatz’ Tagebüchern dokumentiert, der den Verlust an Ansehen und sozialer Teilhabe, die das Alter mit sich bringt, nicht erträgt; darüber auch schwermütig wird, wütend und gallig und irgendwann nicht mehr mag. „Lebenssatt“ heißt das offenbar neuerdings. Der zweite Band der Tagebücher ist ein Dokument dieses traurigen Ärgers, das Gefühl zu haben, nicht mehr genug zu sein, wenn er nicht mehr Fritz J. Raddatz ist.

Diese Angst vor Verlust an Prestige und Bindung ist symptomatisch. 2021 sprachen sich laut Umfragen 72 Prozent der Deutschen für eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe aus.

Was eine weitreichende Legalisierung sozial bedeutet, ist bereits dokumentiert. Es werden sich Menschen umbringen lassen, die keinen sozialen Ausweg mehr aus ihrer Misere sehen, und die eigentlich gerne weiterleben möchten. Amir H. Farsoud aus Kanada ist vermutlich das bekannteste Beispiel, 54-jährig, schwerbehindert. Er beschloss, es sei besser, tot zu sein, als wohnungslos. Deswegen beantragte er assistierten Suizid.

„Die Regierung sieht mich als Müll“

Die Freiheit der Entscheidung kann nur gewährleistet sein, wenn sie in einer Gesellschaft stattfindet, der das Überleben aller ihrer Mitglieder wichtig ist. Das ist aber in keiner westlichen Gesellschaft aktuell der Fall. Unter diesen Umständen ist Sterbehilfe keine humane Maßnahme, als die sie häufig angepriesen wird. Acht Tage vor ihrem Tod im Februar 2022 sagte eine kanadische Frau, die den Tod wählte, weil sie keine ihrer Behinderung entsprechende Wohnung fand, über die Gründe ihres assistierten Suizids: „The government sees me as expendable trash, a complainer, useless and a pain in the ass.“ (Die Regierung sieht mich als Müll, als Nörglerin, nutzlos, ich gehe ihnen auf den Sack.) Zwei Jahre lang hat sie sich zuvor an jede mögliche Stelle gewandt, um Hilfe zu bekommen, und niemand war da, um ihr zu helfen.

Alan Nichols, ein depressiver Mann Anfang 60, wurde laut seiner Familie zum Suizid gedrängt, wobei die ausschlaggebende Diagnose nicht etwa seine Depressionen waren, sondern „Hörverlust“.

Christine Gauthier, Veteranin und Paralympionikin, wurde von offizieller Stelle vorgeschlagen, sich umbringen zu lassen, als sie versuchte, die Finanzierung für eine Rollstuhlrampe zu bekommen.

Das sind keine bedauerlichen Einzelfälle, seit der Liberalisierung der Sterbehilfe in Kanada ist die Zahl der assistierten Suizide um 1.000 Prozent gestiegen. Der Bundestag tut gut daran, die vom Bundesverfassungsgericht verordnete Liberalisierung so sparsam wie möglich umzusetzen, weil es den Druck auf Menschen mit Behinderung erhöht.

Denn was das Bundesverfassungsgericht die Autonomie der Entscheidung genannt hat, kann auch die Gleichgültigkeit der Gesellschaft sein. Solange das so ist, solange dieses die Bedingungen sind, ist Sterbehilfe kein Akt der Humanität, als der er von seinen Ver­fech­te­r*in­nen gern verkauft wird, sondern eine Gefahr.

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