Statt Veganismus: Neuer Vertrag von Mensch und Tier

Bei der Grünen Woche in Berlin geht es auch ums Tierwohl. Doch die Debatte kommt nicht voran. Ein neuer Vorschlag.

Illustration eines Schweins, es sthet hinter einem Menschen, der vor einem Teller mit einer Wurst sitzt

Fleisch findet Tier nicht gut Illustration: Katja Gendikova

Über den Tellern ist längst ein Kampf der Weltanschauungen entbrannt: Während die einen aus ethischen Gründen mehr und mehr die pflanzliche Ernährung favorisieren, sehen andere im denkbaren Verlust der Bratwurst ihre Freiheitsrechte in Gefahr. Markus Söder malte im letzten Jahr gar das Schreckgespenst der „Zwangsveganisierung“ an die Wand. Spätestens der Weihnachtsbraten dürfte durch die Diskussionen am Tisch manchem übel aufgestoßen sein.

Wer jedoch bei den Debatten für oder gegen Fleischverzehr stets fehlt, sind die Betroffenen. Die Rede ist von den Tieren in der Landwirtschaft. Bei den Bauernprotesten ging es auch um die Abgabe zu ihrem Wohl, sie sind immer wieder Thema und das sicher auch auf der Grünen Woche, die bis 28. Januar in Berlin stattfindet.

Im Schatten von Cem Özdemirs Stufenmodell, das die meisten Tierschutzorganisationen zu Recht kritisieren, weil es die ohnehin verfassungsrechtlich grenzwertige Haltungsstufe eins legitimiert (anstatt sie abzuschaffen), dürften die alten und ermüdenden Auseinandersetzungen geführt werden. Über einige Zentimeter mehr Stallfläche, über gutes Futter, überhaupt über mehr „Tierwohl“, das ja angeblich jeder will.

Systemwechsel statt Bekenntnisprosa

An Bekenntnisprosa mangelt es auf derartigen Treffen nie. Dabei kann all die Stellschraubendreherei nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass ein Systemwechsel nötig ist. Viele Argumente sind bekannt: Der Konsum von tierischen Produkten, allen voran Fleisch, Milch, Käse und Eiern, ist ein veritabler Klimakiller. Mit Tiertransporten, der Abholzung der Regenwälder für die Futtermittelproduktion samt der damit verbundenen Auslaugung der Böden besetzt die Landwirtschaft einen traurigen Spitzenplatz bei den globalen Emissionen, über den im Streit über die Klimawende nur marginal geredet wird.

Was jenseits dieser Umweltfaktoren ins Gewicht fällt und von der Politik vollends missachtet wird, sind die Einsichten aus der Ethik. Nicht erst seitdem Peter Singer den Begriff des Speziesismus etabliert hat, der – analog zu anderen Diskriminierungstatbeständen unserer Zeit – die Abwertung einer Kreatur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Spezies beschreibt, sehen Philosophen die Unterdrückung von Tieren kritisch. Ein ganzer Animal turn lässt sich in der Debatte verzeichnen.

In neueren Büchern von Friederike Schmitz, Christine Korsgaard oder Bernd Ladwig vernimmt man immer wieder das Plädoyer für die umfassende Abkehr vom anthropozentrischen Prinzip. Nachdem, vereinfacht gesagt, die Neurowissenschaften und die behaviouristische Forschung des 20. Jahrhunderts sämtliche Kriterien, die angeblich den Menschen vom Tier trennen sollen, abgeräumt haben, stellt sich für die Theo­re­ti­ke­r:in­nen die Frage:

Wie kann man die aktuelle Entrechtung von Tieren, die noch nie zuvor so großes Leid wie in den industrialisierten Aufzucht- und Schlachtfabriken erfahren haben, noch rechtfertigen? Ihre Antwort: gar nicht. Schon der 2017 verstorbene Tom Regan, umstrittener und gefeierter Pio­nier auf dem Feld der Tierethik, ging davon aus, dass sowohl die humanen als auch die meisten animalen Wesen ein unhintergehbares Interesse am Weiterleben haben.

Man stelle sich vor: Hasen halten uns in Käfigen

Für ihn war nicht die lange Zeit als K.-o.-Kriterium firmierende Moralfähigkeit des Menschen entscheidend, um darüber Tiere von fundamentalen Grundrechten auszuschließen, zumal sie ohnehin nur ein von Menschen formuliertes Verdikt sei. Der Denker vertrat zu Recht die Ansicht, dass sämtliche in der Vergangenheit entstandenen Abgrenzungsparadigmen willkürlich seien.

Man stelle sich nur einmal umgekehrt vor, wir würden auf einem fremden Planeten von Hasen in Käfigen gehalten werden, die ihre Herrschaft allein mit ihrer besseren Hörfähigkeit begründeten. Wir würden diese Ordnung nachvollziehbarerweise als ungerecht empfinden. Aber selbst wenn wir die so viel beschworene Moralfähigkeit, die einige den sogenannten Nutztieren absprechen, ins Feld führen, macht etwa Bernd Ladwig in seiner „Theorie der Tierrechte“ auf die Schwäche dieser Konstruktion aufmerksam.

Denn genießen nicht auch Menschen, die etwa aufgrund von Krankheiten oder Behinderungen selbst keine moralischen Entscheidungen fällen können, trotzdem die vollen Menschenrechte? Allein die Kompetenz in diesen Belangen kann nicht als hinreichende Begründung für den Ausschluss von Vierbeinern aus der ethischen Gemeinschaft dienen. Daher fokussiert der Philosoph auf Moralbedürftigkeit, sie stellt die Voraussetzung für Moralfähigkeit dar. Und sie eint die Menschen und die Tiere.

Wir alle sind verletzlich und bedürfen eines Schutzes, wir alle wollen leben und setzen darauf, dass der oder die andere unsere körperliche und seelische Integrität wahrt. In sich bilden derlei Ansätze schlüssige Argumentationsketten. Sie wettern unisono gegen eine tradierte Zweiteilung der Welt, wie sie auch andere Machtstrukturen der Geschichte – vom Rassismus bis zum Sexismus – propagiert und verfestigt haben.

Männer essen doppelt so viel Fleisch wie Frauen

Bemerkt man die Ähnlichkeiten, kann man übrigens ebenso in der organisierten Repression gegenüber animalen Mitwesen eine patriarchale Dominanz ausmachen. Männer essen im Schnitt doppelt so viel Fleisch wie Frauen. Vermutlich weil noch immer der Mythos durch die Gehirne spukt: Körperliche Stärke – ja, Virilität, wie sie Jäger und sämtliche harte Kerle auszeichnet – erlangt nur, wer reichlich tierische Proteine zu sich nimmt.

Ein weiterer Irrglaube, den Weltschwergewichtsmeister eindrucksvoll beweisen: Einige von ihnen sind Veganer. Erkenntnisse aus den Animal- und Gender Studies haben demnach einiges gemein. Doch ein Unterschied lässt sich zwischen dem Tierrechtsaktivismus und den feministischen Bewegungen nicht leugnen: Letztere sorgten nach langen Grabenkämpfen für eine neue Aushandlung der Beziehung zwischen den Geschlechtern.

Folgt man hingegen konsequent Tom Regans Logik, so kann man – in der sogenannten idealen Theorie der Tierethik – nur zu einem Schluss kommen: Öffnet alle Käfige und befreit die Leidenden! Auf die unrealistische Dimension dieses Vorschlags hingewiesen haben die amerikanischen Sozialwissenschaftler Sue Donaldson und Will Kymlicka in ihrem Opus magnum „Zoopolis“. Indem wir alle Fesseln lösen, würde es keine speziesübergreifende Koexistenz mehr geben.

Warum sollte beispielsweise eine Kuh ihr Kalb oder ihre Milch hergeben? Fakt ist aber: Die Beziehung zwischen Mensch und Tier muss nicht unbedingt aufgekündigt werden, sie muss nur neu geregelt werden. Die Au­to­r:in­nen entwickeln dafür eine Staatstheorie, in der sie verschiedenen animalen Gruppen unterschiedliche Privilegien (bis hin zu Bürgerrechten) zuerkennen. Auch in diesem Ansatz verfügen alle über ein elementares Lebensrecht.

Utopie und Wirklichkeit gehen zusammen

Utopie und Wirklichkeitsbezug liegen in diesem hellsichtigen Werk eng beieinander. Zur Wahrheit gehört aber: Dass wir von all diesen Entwürfen bei weltweit wachsendem Konsum tierischer Produkte Äonen entfernt sind. Daher gilt es, andere Möglichkeiten auszuloten. Es bedarf eines Gesellschaftsvertrags. Tiere brauchen – analog zu Menschen mit kognitiven Einschränkungen – An­wäl­t:in­nen und Für­spre­che­r:in­nen, die ihren Belangen Gehör verschaffen.

Diese müssten in Tierrechtsfragen geschult sein und sollten von Gremien aus Ethiker:innen, Po­li­ti­ke­r:in­nen und Ver­tre­te­r:in­nen von Tierschutzorganisationen bestimmt oder gewählt werden, vergleichbar auch mit Gleichstellungsbeauftragten. Ihre Aufgabe sollte darin bestehen, für tierische Belange zu sensibilisieren. Sie müssten auf allen Ebenen vertreten und in Unternehmen genauso etabliert sein wie in Parlamenten und Ministerien, wo man ihnen eine Art Vetorecht gewähren müsste. Sie dürften es bei allen Entscheidungen einlegen, die die Interessen von Tieren fundamental berühren.

Dieser Zwischenschritt auf dem Weg in die Utopie einer gänzlich pflanzenbasierten Ernährungskultur in der Ethik sollte dringend in Erwägung gezogen werden. Dieses Modell könnte vorsehen, Tiere nicht mehr töten zu dürfen, aber einen Teil ihrer Produkte weiterhin zu verwerten. Wir könnten Eier konsumieren, müssten aber auch den „irrentablen“ Hühnern eine Art Rentenzeit zubilligen, wir könnten Milch kaufen, müssten dafür allerdings die männlichen Kälber aufziehen. Lediglich Fleisch gäbe es in dieser Ordnung nicht mehr.

Da den Tieren ein qualitativ angemessenes Dasein zustünde, bei dem sie einem natürlichen Tod erlägen, würde dieses Modell des speziesübergreifenden Miteinanders eine Menge Geld kosten. Die limitierten Produkte wären teurer. Moral gibt es eben nie zum Nulltarif. Alle ethisch relevanten Maßnahmen kosten etwas: Sei es Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe – zumeist sind solche gesellschaftspolitischen und kulturelleren Regelungen mit einem Zuwachs an Institutionen zur Überwachung und Beratung geknüpft. Dasselbe gilt für den Minderheitenschutz.

Moral kostet Geld

Er setzt sich nur durch, wenn Personen und Einrichtungen für bestimmte Gruppen professionell Partei ergreifen. Auch Tierrechte sollten uns das wert sein. Ausgaben für ihre Durchsetzung würden sich als dringende Investition gegen einen weithin versteckten und oft verdrängten gewaltvollen Konflikt mit ungleichen Waffen inmitten unserer westlichen Zivilisation erweisen.

Ein speziesübergreifender Frieden käme zum einen den tierischen Mitwesen zugute, zum anderen aber auch uns selbst, würden wir uns damit doch einer Eigenschaft vergewissern, die uns tatsächlich exklusiv auszeichnet: unsere Menschlichkeit.

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ist habilitierter Germanist. Er arbeitet als Literatur- und Theaterkritiker, als Privatdozent an Hochschulen sowie als Essayist und Autor für die taz.

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