„Seebrücke“-Demos für Seenotrettung: Masterplan Humanität

In ganz Deutschland haben tausende Menschen für die Rettung von Schiffsbrüchigen demonstriert. Skandalös sei, dass der Protest überhaupt nötig ist.

Zahlreiche Menschen tragen Rettungswesten

Orange ist die Farbe des Seebrücke-Protests Foto: dpa

Berlin taz/epd | Die Sonne knallt, als sich an diesem Samstagmittag Tausende am Berliner Neptunbrunnen versammeln. Neben ihnen erhebt sich der Fernsehturm, das Wahrzeichen der Stadt. Doch wird auf den Fotos, die von zahlreichen Tourist*innen an diesem Tag geschossen werden, wohl statt des Grau des Turms etwas anderes zu sehen sein: das leuchtende Orange hunderter Rettungswesten. Denn so wie in 12 anderen Städten auch haben sich die Menschen in Berlin versammelt, um unter dem Motto „Seebrücke statt Seehofer“ gegen die deutsche und die europäische Abschottungspolitik zu protestieren.

„Wer von Asylflut redet, hat Ebbe im Kopf“, heißt es auf den Plakaten, „Masterplan: Humanity“, oder „Stell dir vor du ertrinkst, und keiner sieht hin.“ Die Menschen, die hier gegen das Sterben im Mittelmeer auf die Straße gehen, sind bunt gemischt: Junge und Alte, Antifa-Teenager und Familien. Nach Angaben der Veranstalter*innen sind 12.000 gekommen. Die Polizei spricht ebenfalls von mehreren tausend Teilnehmer*innen.

Zu den bundesweiten Protesten hatte das Bündnis „Seebrücke“ aus zahlreichen Flüchtlingsinitiativen und zivilgesellschaftliche Gruppen aufgerufen, darunter Sea-Watch, Mission Lifeline, Sea-Eye, „Gesicht zeigen!“ und das Peng Collective. Auch in Bremen, Hannover, Heidelberg, München und weiteren Städten fanden Aktionen und Proteste gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik statt. Auch dort kamen insgesamt mehrere tausend Menschen zusammen.

Hin und wieder sieht man in Berlin eine Fahne, etwa mit dem Logo der Antifa oder dem Schriftzug der Linkspartei. Die Szenerie ist aber bestimmt von den orangefarbenen Rettungswesten, die überall in der Demo in die Höhe gereckt werden. Rettungswesten, die tatsächlich von den Seenotrettungsschiffen stammen, die derzeit in den Häfen im Mittelmeer am Auslaufen gehindert werden, und die nach diesem Tag auch wieder dorthin zurückgebracht werden – immerhin ist eine zentrale Forderung der Menschen hier, dass diese Schiffe bald wieder auslaufen dürfen.

„Libyen ist kein Ort zum leben“

„Es ist schon ein beklemmendes Gefühl, hier mit dieser Weste zu stehen, die bald schon wieder Menschen im Mittelmeer retten soll“, sagt die 18-Jährige Marah Franz. Sie ist heute hergekommen, „weil das Sterben im Mittelmeer mich seit Monaten nicht loslässt und mich nicht schlafen lässt“, sagt sie. Auch Caren Lay, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, ist unter den Demonstrierenden. „Es ist skandalös, dass es in der EU und in Deutschland überhaupt eine offene Frage ist, ob ein Mensch in Seenot gerettet wird oder nicht“, sagt sie.

„Tschüss Horst“, wummert es aus den Lautsprechern, als der Zug sich in Bewegung setzt. Den Song, der den Rücktritt von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) fordert, hat Dirk von Lowtzow von der Band Tocotronic eigens zur Unterstützung der Aktion Seebrücke geschrieben. Während die CSU in den vergangenen Wochen immer wieder Worte wie „Asyltourismus“ bemüht hat, um Flucht zu diskreditieren, passiert der Demonstrationszug echte Tourist*innen: Vom Alexanderplatz zieht er vorbei an der Museumsinsel, stoppt vor dem Brandenburger Tor und endet schließlich vor dem Bundeskanzleramt.

Unterwegs wird an die Seenotrettungsschiffe erinnert, denen in Malta und Italien erst die Einfahrt in die Häfen verweigert wurde, während sie hunderte gerettete Menschen an Bord hatten, und die nun wiederum am Auslaufen – und somit an der Rettung Schiffbrüchiger – gehindert werden. Es werden Grußworte von den Menschen auf einem der Schiffe verlesen, das derzeit in Italien festsitzt. „Menschen klemmen sich gegenseitig auf dem Wrack ein. Wir ziehen noch mehr Menschen aus dem Wasser. Als die Sonne aufgeht, haben wir 629 Menschen an Bord“, wird ein Crewmitglied zitiert. „Ich will dort sein, wo wir gebraucht werden, und nicht auf diesem wahnwitzigen Ego-Trip.“

„Libyen ist für niemanden ein Ort, an dem er leben kann“, wird ein Mann aus Nigeria zitiert, der gerettet wurde, nachdem sein Schlauchboot kenterte. 24 Stunden seien sie auf diesem Boot gewesen, erzählt er. Ohne Rettungswesten.

Mehr als 1.400 Menschen sind dieses Jahr ertrunken

Auf solche Teilnehmendenzahlen hätten sie gehofft, sagt Nils. Er gehört zu den Veranstalter*innen und stellt sich nur mit Vornamen vor. „Aber rechnen konnten wir mit so vielen nicht.“ Die Idee zu den deutschlandweiten Demonstrationen war erst vor etwa einer Woche entstanden, in einigen Städten wurden die Kundgebungen sogar erst vor zwei Tagen angemeldet. Schon seit Jahren seien es zivile Organisationen, die die Rettung auf See übernähmen, sagt Nils: „Wir hätten schon längst auf die Straße gehen müssen. Aber jetzt befinden wir uns in einer Extremsituation. Jetzt gibt es keine Schiffe mehr.“

Mehr als 1.400 Menschen sind in diesem Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken. Seit Juni blockiert Italien die privaten Rettungsschiffe – der Monat ist Helfern zufolge der tödlichste seit fünf Jahren. Der UN zufolge ertranken im Juni 692 Menschen auf der Flucht.

Orange. Das ist nicht nur die Farbe der Rettungswesten. Viele der Demonstrierenden sind in Orange gekommen oder haben sich mit orangefarbenem Tape Streifen auf die Kleidung geklebt. Ein junger Mann läuft in einem orangefarbenen Overall durch die Menge: Ruben Neugebauer, Sprecher der Organisation Sea-Watch, deren Schiff „Sea-Watch 3“ derzeit ebenso wie ihr Aufklärungsflugzeug „Moonbird“ in Malta festsitzt.

„Es tut unglaublich gut, zu sehen, dass in dieser so beschissenen Lage 12.000 Menschen hinter uns stehen“, sagt Neugebauer. „Menschen, die nicht einverstanden sind mit der Abschottungspolitik der Regierung und die dem Angstdiskurs etwas entgegenzusetzen haben.“ Neugebauer fordert eine Versachlichung der Debatte, und vor allem fordert er, dass die Seenotrettung nicht weiter behindert wird.

Promis rufen zu Spenden auf

Derweil rief der Fernsehmoderator Klaas Heufer-Umlauf vom Komiker-Duo Joko und Klaas im Internet zu Spenden auf, um den privaten Rettungsorganisationen das Chartern von Schiffen zu ermöglichen. Derzeit könne auf dem Mittelmeer nicht gerettet werden, obwohl es genug Leute gäbe, die das tun möchten, weil die Schiffe beschlagnahmt seien, sagte er in einer Videobotschaft. Es brauche jetzt Schiffe, um ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass die Seenotrettung weitergehe, und um Hilfe leisten zu können. Er werde persönlich dafür sorgen, dass das Geld da ankomme, wo es hinmüsse.

Zuvor hatte bereits der Fernsehmoderator Jan Böhmermann eine Spendenkampagne zur Deckung der Prozess- und Gutachterkosten für den deutschen Kapitän des Rettungsschiffs „Lifeline“, Claus-Peter Reisch, gestartet. Bis Samstagnachmittag kamen über 175.000 Euro zusammen.

Reisch steht derzeit auf Malta vor Gericht, das Schiff „Lifeline“ wurde von den maltesischen Behörden beschlagnahmt. Zuvor hatte die „Lifeline“ mit 234 vor der libyschen Küste geretteten Geflüchteten an Bord erst nach einer mehrtägigen Odyssee die Erlaubnis zum Einlaufen in den Hafen von Malta erhalten. Italien und Malta hatten ihre Häfen im Juni für Rettungsschiffe geschlossen. Mehrere Schiffe und Aufklärungsflugzeuge werden von den Behörden zurückgehalten.

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