SPD wählt Vorsitzende: …und alle sind glücklich
Solide und unfallfrei, aber ohne zündende Visionen tritt das neue SPD-Führungsduo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken beim Parteitag auf.
Mehr als 600 Delegierte sollen an diesem Wochenende das große Ganze klären: den Kurs, das Personal, wie es mit der Groko weitergeht. Allen ist klar: Jenseits aller Solidaritätsbeschwörungen gibt es einen Dissens. Olaf Scholz hat den Kampf um die Chefrolle gegen das linke Team Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken verloren, aber jene, die die SPD weiter mittig, pragmatisch, etwas blass wollen, sind keineswegs geschlagen. Das zeigt der Leitantrag, der viel offenlässt. Eigentlich ist es der Leitantrag des Parteichefs Olaf Scholz, sagen manche spöttisch.
Statt der sofortigen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro steht im Leitantrag: „Unser klares Ziel ist dabei perspektivisch die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro.“ Das gibt Raum für Verhandlungen mit der Union.
Kevin Kühnert kommt mit Turnbeutel, umringt von einer Traube von Kameras, um zwanzig nach zehn in den Saal. Etwas spät. Er ist einer der wenigen Stars der Partei. Ohne ihn würde es diese neue Führung nicht geben.
Ohne Leute wie Thomas Kutschaty allerdings auch nicht. Er ist Chef der SPD-Fraktion in Düsseldorf. Kutschaty war Justizminister in Nordrhein-Westfalen, ein geerdeter Genosse aus Essen, eher ein Mann der Mitte, kein Parteilinker wie Kühnert. Kutschaty ist kurz vor Beginn des Parteitags guter Dinge. Abends hat er mit Norbert Walter-Borjans unter vier Augen geredet. 80 Prozent, sagt er auf Nachfrage, ja das wäre ein gutes Ergebnis für die neue Spitze. Kutschaty war von Beginn an gegen die Große Koalition. Die SPD steht in NRW bei 20 Prozent, sie ist nur noch drittstärkste Partei hinter CDU und Grünen. Ein Desaster. Das, so sagen viele, liegt auch an der Groko in Berlin. Die GenossInnen zwischen Duisburg und Köln, sagt eine Delegierte aus NRW, haben „in Sachen Groko einen dicken Hals“.
Saskia Esken, neue Co-Chefin der SPD
Ein knappes Viertel der Delegierten kommt aus Nordrhein-Westfalen. Und deren Linie ist vor dem Parteitag klar: Es soll drei Vizechefs geben. Dann jedoch liefe es auf ein Duell hinaus: Kevin Kühnert als Parteivize, den linken Rebellen, den die NRW-Delegierten wollen, gegen Netzwerker und Arbeitsminister Hubertus Heil.
Die Pragmatiker wollen unbedingt einen Minister in der Parteispitze. Sonst werde die Partei eine freidrehende Radikale, unverbunden mit Regierung, frei von Koalitionszwängen, fürchten sie. Esken und Walter-Borjans wollen eigentlich genau das: eine Partei, die möglichst weit entfernt von den Zwängen des Regierens ist.
Kühnert gegen Heil, No Groko gegen Groko. Die Entscheidung hätte gezeigt, ob die Partei in der Mitte bleiben oder nach links will. Es würde Sieger geben und Verlierer. Schon wieder.
Aber die Sehnsucht nach Kompromiss und Harmonie ist groß nach der aufreibenden Suche des neuen Führungsduos.
Deshalb findet man eine irgendwie sozialdemokratische Lösung. Die Zahl der Stellvertreter wird nicht von sechs auf drei reduziert, sondern auf fünf. Die pragmatische Ostfrau Klara Geywitz und die saarländische Vizeministerpräsidentin Anke Rehlinger sind gesetzt. Dazu kommen Kühnert und Heil, und die SPD-Chefin in Schleswig-Holstein, Serpil Midyatli. Eine linke Migrantin. Damit sind alle erforderlichen Quoten erfüllt: Gender, Flügel, Migrantin. Und alle sind glücklich.
Kenner der Partei hatten vorab gewitzelt, der Konflikt werde bestimmt im Sinne sozialistischen Wettbewerbs gelöst. Den Kompromiss – fünf statt drei Vizes – soll das alte SPD-Präsidium noch in der Nacht mit der neuen Parteiführung ausgedealt haben. Auch Kutschaty findet die Lösung klug.
Das Entscheidende, so Kutschaty morgens vor dem Parteitag, sei nicht der Leitantrag, der jetzt, in der letzten Fassung, in Ordnung sei. „Wichtig ist, wie die Gespräche mit der Union laufen werden“, sagt er. Der Erwartungsdruck auf die neue Parteispitze ist seitens der Groko-Skeptiker hoch. „Eskabo“ lautet die leicht spöttische Kurzformel für die neue Führung. Das klingt nach Heimwerkerbedarf. Eskabo müssen liefern. Später.
Jetzt müssen die beiden, die noch nie ein hohes Parteiamt hatten, erst mal zeigen, dass sie auf Parteitagen reden können.
Donnerstagabend, beim Vorwärts-Empfang, schauen Esken und Walter-Borjans für eine Stunde vorbei. Sie sind freundlich, unprätentiös. Selten sind zwei mehr oder weniger Unbekannte von den meinungsproduzierenden Eliten im Land derart gedisst worden wie die neuen SPD-Chefs. Auch manche Genossen reden abfällig über die beiden. Diese geballte Ablehnung hat ihnen auch geholfen. Wer so fertiggemacht wird und wie ein Fremdkörper von den Etablierten abgestoßen wird, hat ja erst mal Schutz verdient. Vor allem Esken trifft auf viel Ablehnung. Sie gilt als ideologisch und spaßbefreit.
Frau Esken, wie lange werden Sie morgen reden? Esken überlegt im Tipi am Kanzerlamt kurz und sagt: „So lange wie Sigmar Gabriel. 90 Minuten. Und das mal zwei.“ Humorlos klingt anders.
Um 12.03 Uhr geht Saskia Esken am nächsten Tag in rotem Jackett zum Mikrofon und sagt: „Ich war elf Jahre, als das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt scheiterte.“ Willy Brandt geht in der SPD immer. Sie spricht viel von sich, dass sie Paketbotin war. Und prangert nahtlos den Niedriglohnsektor an. „Ich will schwedische Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt.“ Dafür bekommt sie Applaus. Es ist ein wärmende Rede, mit viel Sozialpolitik, die Signalworte sind „12 Euro Mindestlohn“ und „Hartz IV überwinden“. Nahles Vorschläge für einen neuen Sozialstaat nennt sie „bahnbrechend“.
Esken muss Kontinuität und Bruch verkörpern, einen neuen, schärferen Ton anschlagen, ohne das Vergangene zu ruinieren. „Wir geben der Groko mit diesem Leitantrag eine realistische Chance – nicht mehr und nicht weniger“, sagt sie. Das ist nicht ungeschickt. Sie sendet ein Zeichen der Entschlossenheit an die Linke, die ihr zu ihrem Amt verholfen hat, bleibt aber ausreichend vage. Beim Sozialen ist der Beifall heftig, beim Klimaschutz eher beiläufig. Sie redet 25 Minuten.
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Norbert Walter-Borjans braucht doppelt so lange. Und er wird grundsätzlich. Wettert gegen das 2-Prozent-Ziel. Rüstung an Wirtschaftswachstum zu koppeln sei verquer. Es ist eine Rede mit vielen sozialdemokratischen Soundbites und Schlagworten. „Die Märkte müssen sich der Demokratie unterordnen und nicht die Demokratie den Märkten“, sagt er. Das kommt hier immer gut an. Und er macht, bei aufbrausendem Applaus, klar, dass die schwarze Null kein Selbstzweck sei. „Wenn es links ist, für sozialen Wohnungsbau zu sein, dann sind wir links“, ruft er. Kutschaty findet den Auftritt „gut, auch die Resonanz der Delegierten“.
Am Ende steht die erste Reihe auf und applaudiert der neuen Führung. Olaf Scholz klatscht auch, vorsichtig, zurückhaltend, gebremst.
Die Partei will Zusammenhalt
Ist das nun der Aufbruch? Endlich Vorsitzende, die der Partei zu ihrem Recht verhelfen, befreit vom Korsett des Regierens? Oder sind es Auftritte von Außenseitern, die noch fremdeln?
Die erste Parteitagsperformance liegt irgendwo dazwischen. Solide und unfallfrei, aber ohne rhetorische Glanzlichter und zündende Visionen. Um kurz vor 15 Uhr kommt das Ergebnis. 75,9 Prozent für Saskia Esken, 89,2 für Norbert Walter-Borjans. Das passt zur Harmonieansage in der CityCube-Messehalle in Berlin. Es ist ein ordentliches Resultat für die linkere, schroffer wirkende Esken, ein blendendes für Walter-Borjans, der wie ein freundlicher, vertrauenerweckender Onkel wirkt. Und die Partei will Mitte, Zusammenhalt, Verständigung.
Die früheren SPD-ChefInnen Sigmar Gabriel, Martin Schulz, Andrea Nahles haben oft zu einem Stilmittel gegriffen, um Dringlichkeit zu signalisieren: Sie haben den Parteitag angebrüllt. Esken und Walter-Borjans bevorzugen Zimmerlautstärke. Das ist erst mal ein Fortschritt.
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