Russen im Exil: Das Mutterland würgt
Viele russische Staatsbürger sind seit dem Krieg nach Armenien gezogen. Aber viele werden wohl bald wieder zurückkehren.
I n Tiflis, an einer reich gedeckten georgischen Tafel, auf der zwischen den Chatschapuris, typischen georgischen Käsebroten, auch ukrainische Fähnchen stehen, drehen sich alle Gespräche um eine Person: Katja, russische Staatsangehörige aus Armenien, ist für zwei Tage nach Georgien gekommen, um im Pass einen Stempel zu haben, der beweist, dass sie die armenische Grenze überschritten hat. In Armenien dürfen russische Staatsbürger ohne Registrierung nur sechs Monate am Stück bleiben. Danach müssen sie die Landesgrenze überqueren, und sei es auch nur für eine halbe Stunde.
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Anfang März war Katja aus Russland nach Armenien gekommen, mitgenommen hatte sie ihren Kater, den Krieg, Schuldgefühle und eine Depression, derentwegen sie wochenlang ihr Bett nicht verlassen konnte. Katja kommt aus dem IT-Bereich. Wenige Tage nach Beginn des Krieges beschloss sie, ihre Heimat zu verlassen, mit der sie sich nicht identifizieren konnte. Die Auswahl an Zielen war begrenzt: Armenien oder Georgien. Ein Visum für den Schengen-Raum hatte sie nicht.
„Und warum nicht Georgien?“, fragen die Georgier am Tisch lächelnd, „hier ist es sicher viel besser als in Armenien. Wir haben niedrige Steuern, bessere Bedingungen für Investoren und keinen Krieg.“
„Für mich ist es nirgends mehr besser. Das Einzige, was ich gerade möchte, ist Ruhe. Ich wäre gerne dort, wo man mir nicht vorwirft, Russin zu sein. Wo ich nicht am Eingang irgendwelche albernen Papiere ausfüllen muss, in denen ich versichere, mich nicht an Putins Propaganda zu beteiligen. Ich möchte, dass man mich nicht hasst. Mein Selbsthass reicht für alle“, sagt Katja.
30.000 Russen
Nach dem Abendessen mache ich mich mit Katja zusammen auf den Weg nach Armenien. An der armenisch-georgischen Grenze sind viele Russen, die für den „Grenzübertritt“ hergekommen sind. Der armenische Wirtschaftsminister Vahan Kerobyan sagt, dass „nach unseren Berechnungen“ seit Anfang März fast 30.000 russische Staatsbürger für einen langfristigen Aufenthalt nach Jerewan gekommen sind und über 1.200 Firmen gegründet haben. Bei Armeniens Banken wurden schon mehr als 70.000 Konten von Bürgern der Russischen Föderation eröffnet.
Die Journalistin lebt und und arbeitet in Jerewan (Armenien). Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Wie der Minister zu „unseren Berechnungen“ gekommen ist, ist allerdings unklar. Zugleich hat das Statistische Komitee Armeniens erklärt, dass im ersten Quartal 2022 142.117 russische Staatsbürger nach Armenien kamen, von denen 138.111 nach einiger Zeit das Land wieder verlassen hätten. Für das zweite Quartal gibt es bislang keine Schätzungen.
Am Grenzübergang will Katja noch Zigaretten kaufen. An der Kasse holt sie gewohnheitsmäßig ihre Bankkarte heraus, aber dann fällt ihr gleich ein, dass ihre Karte ja nirgends mehr angenommen wird. Im Auto sprechen wir über Jerewan, das sich nach der Ankunft der Russen verändert hat. Ich sage, dass man in Cafés keine freien Plätze mehr findet, weil überall Russen sind. Das werde nicht mehr lange so sein, antwortet Katja. „Denkst du, dass der Krieg bald vorbei ist?“, frage ich. „Nein, er wird nicht so bald vorbei sein, aber Mutter Heimat ruft! Sie werden all ihr Geld ausgegeben haben, das sie aus Russland mitbringen konnten, und dann werden sie gezwungen sein, zurückzugehen … Du kennst das Lied ‚Das Mutterland wird nicht loslassen, es selbst hat zur Welt geboren und wird selbst erwürgen‘“, sagt Katja.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September heraus.
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