Politische Emigranten im Kaukasus: Der Chip ins nächste Level

Unsere aserbaidschanische Autorin lebt unter russischen Migranten. Sie wundert sich, wie wenig Interesse nicht nur die an anderen autoritären Ländern zeigen.

Ein junger Mann sitzt in einem Hinterhof

Hinterhof in Tbilissis Altstadt Foto: epa

Das ganze vergangene Jahr habe ich unter russischen Polit-Emigranten in Tbilissi gelebt. In einer Mietwohnung mit vier Meter hohen Decken, mit Kronleuchtern und Klavier. Unsere zahlreichen Gäste, ebenfalls Emigranten, hat dieser Luxus immer begeistert. Einige von ihnen waren nur einen Abend zu Besuch, andere sind länger geblieben, bis sie eine feste Bleibe gefunden hatten.

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Am Anfang fand ich das alles ziemlich spannend: der ganze Haufen neuer Leute, ihre Geschichten, ihre Gespräche über Politik. Aber dann wurde es langweilig. Und ich kam mir dort irgendwie überflüssig vor.

Ich verstehe diese Leute gut, denn ich bin selber Emigrantin aus einem autoritären Staat (aus Aserbaidschan) mit schwieriger politischer Situation. Aber fast keiner meiner neuen Bekannten wusste irgendetwas über die Lage in meinem Land. Sie wussten auch nichts von mir und fragten mich nichts. Sie lebten in ihrer engen Blase und waren zu sehr mit sich selber beschäftigt, überzeugt von der Einzigartigkeit und Wichtigkeit dessen, was mit ihnen geschah.

Und manchmal schien es mir, als ob sie zwar Aufmerksamkeit und Mitgefühl für sich selbst erwarteten, aber die Probleme politischer Migranten aus anderen Ländern als unbedeutend ansahen. Auch die meisten internationalen Medien berichten vor allem über das Thema Migration aus Russland. Für andere politische Emigranten interessiert sich niemand – denn deren Länder sind nicht so groß und nicht so schrecklich wie Russland.

Die EU lehnt jetzt russisches Gas ab und entsetzt sich über die putinschen Repressionen, verhandelt aber seelenruhig mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew über Gaslieferungen und tut dabei so, als ob sie die Repressionen in Aserbaidschan nicht bemerken würde.

Ich schreibe dies und schäme mich dabei. Es klingt, als sei ich eifersüchtig. Als würde ich hinter dem Rücken all derer, mit denen ich das letzte Jahr verbracht habe, lästern. Die, deren Namen und Gesichter ich bald wieder vergessen haben werde, und die umgekehrt auch mich vergessen.

Aber an einige werde ich mich auch später noch erinnern. Zum Beispiel an Denis, einen 45-jährigen Performancekünstler mit den Augen eines wissbegierigen Teenagers. Er war einer der wenigen russischen Emigranten, die ich getroffen habe, der sich nicht wie ein russischer Emigrant benahm. Er war nicht pathetisch, nicht melodramatisch, sprach nur wenig über sich und wenn, dann fast immer auf eine ironische Art. Und das, obwohl es im russischsprachigen Wikipedia einen langen Beitrag über ihn gibt. Er war stets freundlich und gelassen, hielt aber auch eine gewisse Distanz zu der restlichen Emigrantengruppe.

Er lebte zwei Monate bei uns, bis er ein humanitäres Visum für Frankreich bekam. Morgens machte er immer Kopfstand. Nahm ein Video-Tagebuch auf. Halb im Scherz beschwerte er sich darüber, dass er in Russland als Tatare galt, in Frankreich aber als „Russe“. Und er zeichnete ein Brettspiel-Quest in Form einer geografischen Karte. Vor seiner Abreise nach Paris veranstaltete Denis einen Abschiedsabend. Dabei erhob er sein mit Tomatensaft gefülltes Glas und sagte: „Ich weiß nicht, wie es weitergeht, aber ich freue mich über meinen neuen Spielchip, mit dem ich ins nächste Level komme.“

Ich kenne mich nicht besonders gut mit dieser Spiel-Terminologie aus. Aber in dem Moment war ich fasziniert von dieser einfachen und doch prägnanten Metapher für das Streben nach Veränderung, für das Vorankommen auf dem Lebensweg … Für ein Gefühl, das wohl jeder Emigrant kennt. Und darum ist mir diese Metapher im Gedächtnis geblieben.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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Journalistin und Autorin aus Aserbaidschan. Lebt aktuell in Georgien.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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