Rückzug von Marco Wanderwitz: Die Bedrohten
Der CDU-Mann Marco Wanderwitz verlässt die Politik, und er ist nicht der Einzige. Der Aufschrei ist groß – aber auch die Frage, was zu tun ist.
So geht es seit Jahren. Wo auch immer der 49-Jährige auftritt, schlagen ihm Wut und Hass entgegen, von der AfD, von Coronaleugnern, den Freien Sachsen, anderen Rechtsextremen. Stets hielt Wanderwitz dagegen, plädierte für strikte Ausgrenzung und bei der AfD zuletzt für ein Verbot. Anfang vergangener Woche aber gab er bekannt, dass er sich zurückzieht. „Ich muss meine Familie und mich körperlich und seelisch schützen“, sagte er seiner Lokalzeitung, der Freien Presse. „Die Angriffe der brutalen Schreihälse sind immer heftiger geworden.“ Vor allem, seit die AfD in die Parlamente einzog.
Sein Rückzug war absehbar, auch weil Wanderwitz schon länger die Rückendeckung in der eigenen Partei fehlte. Mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich der liberale Christdemokrat überworfen. Den Kreisvorsitz hat er längst abgegeben, auch für den Kreistag nicht mehr kandidiert. Und er ist nicht der einzige Bundestagsabgeordnete, der ständigen Anfeindungen ausgesetzt war.
Im Sommer begründete bereits seine Partnerin, die CDU-Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, ihren Rückzug aus der Politik damit, dass „gelogen, diskreditiert, gehetzt“ werde. Sie habe „viel an Beleidigungen, Bedrohungen, aber leider auch viel Gleichgültigkeit erlebt – das raubt Kraft“. Die Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer, als trans Person immer wieder von Rechtsextremen attackiert, kandidiert ebenfalls nicht mehr. Sie wolle ihrem Leben nochmal eine andere Richtung geben, erklärte sie. Aber auch dass ihr der Hass „gewaltig an die Nieren gegangen ist“.
„Gut, dass ich bald raus bin“
Auch die Linken-Abgeordnete Martina Renner hört auf, erhielt immer wieder Todesdrohungen, etwa in der „NSU 2.0“-Serie. Der Rückzug habe andere Gründe, sagt sie. Aber auch: „Das war natürlich eine Belastung und hat viel Zeit gefressen.“ Und der SPD-Abgeordnete Michael Roth, der ebenfalls aufhört, warnt dieser Tage, die demokratische Kultur „gerät immer mehr unter die Räder“: „Gut, dass ich bald raus bin.“
Karamba Diaby kennt das. Der 62-Jährige sitzt seit 11 Jahren im Bundestag, für die SPD. Zuletzt wurden dem Hallenser und seinen Mitarbeitenden in einem Schreiben angedroht: „Sie enden erhängt an der Laterne.“ Vor vier Jahren wurde auf sein Parteibüro geschossen, vor einem Jahr ein Brandanschlag verübt. Acht Monate waren die verrußten Räume unbenutzbar. „Nach solchen Dingen gehst du natürlich nicht zur Tagesordnung über“, sagt Diaby. Er habe sich aber nie einschüchtern lassen wollen – und jedes Mal sehr viel Solidarität erfahren. „Deswegen habe ich immer weitergemacht. Es gibt eine kleine Minderheit, die aggressiv und laut ist. Aber die Mehrheit ist anders.“
2021 holte er das Direktmandat in Halle, mit dem besten SPD-Ergebnis landesweit. Jetzt hört er auf. Dafür gebe es viele Gründe, sagt Diaby, aber die Bedrohungen seien auch nicht wegzureden. Deshalb tritt auch Diaby für ein AfD-Verbot ein, für ein Demokratiefördergesetz und mehr politische Bildung.
Das BKA zählt für das Jahr 2023 bundesweit 3.626 Straftaten gegen Mandatsträger oder Parteirepräsentanten, auch solche in Landtagen und Kommunen. In diesem Jahr waren es im ersten Halbjahr bereits 1.965 Delikte. Schon seit den Pegida- und Anti-Asyl-Protesten vor zehn Jahren, als mit Galgen für Politiker*innen auf die Straße gegangen wurde, gerät etwas ins Rutschen. Als in der Folge Bürgermeister*innen in Tröglitz, Arnsdorf und anderswo wegen Bedrohungen zurücktraten. Zuletzt sorgten im Europawahlkampf Angriffe unter anderem auf den sächsischen SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke für Entsetzen. Für den nun beginnenden Bundestagswahlkampf sind es, in erneut polarisierten Zeiten, düstere Aussichten. Manche Landesverbände wollen bei dem nun beginnenden Bundestagswahlkampf etwa nicht mehr im Dunkeln plakatieren.
„Es reicht ein Durchgeknallter“
Marco Wanderwitz zog 2002 das erste Mal in den Bundestag ein, mit 26 Jahren. Fünfmal verteidigte er sein Direktmandat im sächsischen Erzgebirge, sein bestes Ergebnis waren 49,6 Prozent, bis 2021 im Wahlkreis ein AfDler gewann. Zuvor hatte es Wanderwitz bis zum Staatssekretär und zum Ostbeauftragten der Bundesregierung unter Angela Merkel gebracht – der erste in diesem Amt, der mit den Ostdeutschen durchaus hart ins Gericht ging.
Bei sich zu Hause beobachtete der vierfache Familienvater, wie die AfD in Sachsen immer stärker und radikaler wurde. „Das kann auch kippen“, sagte er der taz schon 2021. Leute würden erwägen wegzuziehen, weil sich die Rechtsextremen immer mehr ausbreiteten, weil der neue Sporttrainer der Kinder in der NPD sei. Unternehmen würden sich wegen der Stärke der AfD nicht ansiedeln. „Ich will hier auch in Zukunft noch gut leben können“, sagte er damals. Deshalb sei er in „den Kampfanzug gestiegen“. Aber so ein Kampfanzug scheint auf Dauer nicht genug zu sein.
Wanderwitz setzt bei Anhänger*innen der AfD auf Konfrontation statt Verständnis. Vier Monate vor der letzten Bundestagswahl bezeichnete er in einem Interview die Ostdeutschen als „diktatursozialisiert“ und sagte, dass ein Teil von ihnen für die Demokratie verloren sei. Das brachte viele gegen ihn auf, auch in der eigenen Partei. In Schreiben wurde ihm nun gedroht: „Wenn wir dich kriegen, Rübe ab.“ In einem anderen hieß es, seine Kinder seien dran, falls der „erste Ausländer“ hier ein Kind vergewaltige. Auf sein Parteibüro wurde ein Böllerangriff verübt, an einem öffentlichen Wahlstand aufzutreten, war ihm zuletzt wegen der Bedrohungslage nicht mehr möglich.
Er machte trotzdem weiter, wurde zum Gesicht der Initiative für einen AfD-Verbotsantrag, den er inzwischen mit 112 weiteren Abgeordneten in den Bundestag eingebracht hat. „Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ich das nicht mehr so leicht abstreifen kann“, sagt Wanderwitz. Dass die Sorgen im Kopf blieben, und ein Gedanke: „Es reicht ein Durchgeknallter.“
Petra Pau sitzt seit 26 Jahren für die Linken im Bundestag. Wie Wanderwitz all die Jahre Rückgrat bewiesen habe, davor habe sie „höchsten Respekt“, sagt sie. Auch ihr selbst wurde angedroht, sie „an einem Baum im Tiergarten aufzuknüpfen“, die Morddrohungen kann sie nicht mehr zählen. Als sie sich 2014 für eine Geflüchtetenunterkunft in ihrem Berliner Stadtteil Hellersdorf einsetzte, zogen rechte Demonstrierende bis vor ihren Balkon. „Wenn es persönlich wird, ist eine Grenze überschritten“, sagt Pau. Natürlich habe sie sich danach mit ihrer Familie beraten. „Aber ich hatte immer ein Umfeld, das gesagt hat: Es ist gut, was du machst.“
Seit sich die AfD stärker etabliert hat, habe sich der Ton verschärft. „Die Partei wirft verbale Brandsätze im Parlament und hofft, dass diese außerhalb zünden“, sagt Pau. Auch sie tritt nun ab. Die Drohungen hätten nicht den Ausschlag gegeben, sagt die 61-Jährige. Sie werde sich nun über Vereine, in denen sie aktiv ist, gegen den Hass engagieren. Zugleich sei es nötig, dass politische Bildung gestärkt werde und Polizei und Justiz „klare Stoppzeichen“ setzten.
„Komplett schockierend“ seien die Gründe für Wanderwitz’ Rückzug, sagt auch die ehemalige Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. „Da ist etwas ins Rutschen geraten und ich habe Angst, dass es unwiederbringlich kaputtgegangen ist.“ Lang selbst hat Hass und Hetze abbekommen wie wenig andere Politiker*innen in den vergangenen Jahren. Brenzlig sei es gewesen, als sie beim Politischen Aschermittwoch in diesem Jahr nicht nur von Demonstrierenden beschimpft worden sei, sondern diese ihr „zügellos“ in eine Unterführung nachgerannt seien. „Da dachte ich zum ersten Mal, wenn die Polizei jetzt nicht kommt, könnte es körperlich gefährlich werden.“
Der Diskurs dreht sich
Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach kennt den Hass: Momentan stehen fünf Reichsbürger in Koblenz vor Gericht, denen vorgeworfen wird, einen Umsturz geplant zu haben – und Lauterbachs Entführung. „Wenn Politiker aussteigen müssen, weil Radikale sie und ihre Familien bedrohen, ist das immer eine Niederlage für die Demokratie“, sagt der Sozialdemokrat. Wanderwitz’ Rückzug sei verständlich, aber bedauerlich. Er selbst habe das Privileg, gut geschützt zu werden. „Mein Respekt gilt allen, die Anfeindungen ohne diesen Schutz aushalten.“
Wanderwitz betont: „Wenn wir diese Anfeindungen nicht in den Griff kriegen, bekommen wir ein großes Problem. Dann finden sich immer weniger gute Leute, die diesen Job im Parlament zu machen bereit sind.“
Als Reaktion auf die zunehmende Gefährdung eröffnete Bundesinnenministerin Nancy Faeser im August eine Ansprechstelle zum Schutz kommunaler Amts- und Mandatsträger, die Betroffenen konkret und vertraulich Hilfsangebote vermitteln soll. Zuvor hatten sie und andere Innenminister eine harte Strafverfolgung für Gewalttäter eingefordert. Die bleibt jedoch oftmals aus – und wird nun sogar offen infrage gestellt. Rechtsaußenmedien und selbst Abgeordnete wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki unterstellen Regierungspolitiker*innen politisches Kalkül, wenn sie Anzeige wegen Bedrohungen oder Beleidigungen stellen.
Auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ist über die Entwicklung besorgt. „Die Zahl der Anfeindungen, Bedrohungen und Angriffe auf Politikerinnen und Politiker nimmt in einem erschreckenden Ausmaß zu, gerade auch in Wahlkampfzeiten“, sagte die Sozialdemokratin der taz. Es sei „ein sehr ernstzunehmendes Warnsignal, wenn sich Abgeordnete deshalb von der politischen Arbeit zurückziehen“.
Bas hatte sich auch für zusätzliche Kontrollen im Bundestag starkgemacht: Mitarbeitende etwa sollen im Verdachtsfall auch vom Verfassungsschutz überprüft werden können, bevor sie einen Ausweis für den Bundestag bekommen. Die Eingangskontrollen für Mitarbeiter*innen und Gäste von Abgeordneten wurden verschärft. Doch sowohl die Reform der Geschäftsordnung als auch die Einführung eines Gesetzes für die 200 Beamt*innen der Bundestagspolizei drohen nun an der vorgezogenen Neuwahl zu scheitern. Bas sagt, Demokratinnen und Demokraten müssten Vorbild sein: „Bei allem Streit und unterschiedlichen Meinungen: Wir müssen wieder mehr zuhören und auf den anderen zugehen, denn nur so lassen sich Kompromisse finden.“
Marco Wanderwitz erzählt, er habe nach seinem angekündigten Rückzug vor allem Zuspruch erfahren, von Bürgerinnen und Bürgern, durch alle Parteien hinweg. „Das war sehr erbaulich, ein schöner Abschluss.“ Sachsens CDU aber blieb weitgehend stumm. Auch Kretschmer, dem Wanderwitz zuletzt „Putin-Versteherei“ vorwarf, soll sich noch nicht bei dem 49-Jährigen gemeldet haben. Und die AfD ätzt auch jetzt weiter gegen Wanderwitz, vorn mit dabei Maximilian Krah, der sich nun in Stellung für dessen Wahlkreis bringt.
Wanderwitz bleiben jetzt nur noch ein paar Wochen im Bundestag, dann ist Schluss mit Politik. Dann will er sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Was folgt, lässt er offen. „Das wird sich finden.“ Aber Wanderwitz betont: „Ich werde natürlich nicht aufhören, Demokrat und Staatsbürger zu sein.“
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