Rückzug der russischen Armee aus Cherson: Verhandlungen sind abwegig

Die Ukraine hat die strategisch wichtige Stadt von den Besatzern zurückerobert. Trotz militärischer Erfolge sind Rufe nach Verhandlungen unangebracht.

Abschuss einer Großwaffe.

Ukrainische Soldaten an der Frontline bei Cherson am 9. November Foto: Viacheslav Ratynskyi/reuters

Jetzt scheint es amtlich zu sein: Ukrainische Truppen haben die Stadt Cherson zurückerobert und Russland damit eine weitere bittere Niederlage zugefügt. Wir erinnern uns noch daran, wie Anfang Oktober im Kreml die Eingemeindung von vier Regionen, darunter auch Cherson, siegestrunken zelebriert wurde. Dieser Jubel war offensichtlich verfrüht.

Doch trotz dieser jüngsten Erfolgsmeldung – derer gibt es in den vergangenen Wochen so einige – reagieren die Verantwortlichen in Kyjiw mit Zurückhaltung. Zwar ist Cherson für die Ukrai­ne von hoher strategischer Bedeutung, um weitere von Russland besetzte Teile der Südukraine, wie die Region Saporischschja, zurückzuerobern und russischen Streitkräften wichtige Nachschubwege abzuschneiden. Doch bereits jetzt von einem echten Wendepunkt zugunsten der Ukraine zu sprechen, ist unbegründet.

Ein weiterer Aspekt für die Ukrai­ne, um sich eine gesunde Skepsis zu bewahren, ist mindestens genauso wichtig. Mit jedem Meter russisch besetzten Bodens, den ukrainische Truppen gutmachen, werden die Rufe nach Verhandlungen lauter – in Moskau und im Westen. Dabei bleiben entscheidende Fragen nach wie vor unbeantwortet: Wer soll mit wem sprechen und worüber?

Dass Russland sich von der Vorstellung verabschiedet hätte, seine Bedingungen diktieren zu können, ist nicht erkennbar. Das Gleiche gilt für das Ziel, in der Ukraine ein größtmögliches Maß an Zerstörung anzurichten. Der Duma-Abgeordnete und Ex-Geheimdienstler Andrei Lugowoi hat gefordert, der Energieversorgung der Ukraine in Gänze den Garaus zu machen. Das ist der Mann, der 2006 in den Giftmord an dem in London lebenden übergelaufenen Agenten Alexander Litwinenko verwickelt war.

Parallel zu den Friedensappellen wird stoisch von westlichen Politikern wiederholt, es dürfe nichts über die Köpfe der Ukrai­ne­r*in­nen hinweg entschieden werden. Genau. Wer so redet, sollte sich auch selbst ernst nehmen. Alles andere sind billige, wohlfeile Lippenbekenntnisse. Und die braucht im Moment wirklich niemand.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.