Rücktritt von Andrea Nahles: Abgang mit Knall
Am Ende war der Druck aus der SPD zu groß. Andrea Nahles tritt als Partei- und Fraktionschefin zurück – und hört sogar als Bundestagsabgeordnete auf.
Denn respektvoll war die Art, wie die erste SPD-Partei- und Fraktionschefin madig gemacht wurde, wirklich nicht. Schon vor der Europawahl lancierten anonyme Spitzengenossen eine Reihe von Medienberichten, in denen Nahles' Fähigkeit, die Fraktion zu führen, angezweifelt wurden. Geahnt hatte Nahles Rückzug niemand. Kevin Kühnert hatte seinen GenossInnen per Facebook geraten, am Wochenende „zur Abkühlung ein Eis zu essen“.
Am Dienstag wollte Nahles eigentlich vorgezogen wiedergewählt werden – ein Schachzug, um ihre Kritiker in die Arena zu zwingen. Doch die hielten es für erfolgreicher, in der Deckung zu bleiben. Auch weil sie politisch zu diffus sind, um sich auf einen Kandidaten zu einigen.
Zu den lautstärksten Kritikern, die Nahles Rücktritt forderten, gehören SPD-Rechte wie Bernd Westphal und der SPD-Linke Sascha Raabe. Der SPD-Gesundheitsexperte und Nahles Vertraute Karl Lauterbach bezeichnet diese Zurückhaltung öffentlich als „feige“. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch erklärte: „So brutal darf Politik nicht sein. Vielleicht denken wir darüber alle einfach nur nach.“
Nahles machte zuletzt Fehler
Nahles Stellvertreter als Parteivorsitzende, Olaf Scholz, Malu Dreyer, Manuela Schwesig, Natascha Kohnen Thorsten Schäfer-Gümbel und Ralf Stegner, hatten am Samstag noch einen „solidarischen Umgang“ mit Nahles eingefordert. Doch der Aufruf klang nicht selbstbewusst, eher defensiv, wie der Wunsch nach Gnade. Der Druck war zu heftig, der Wunsch, dass jemand für die 15, 8 Prozent bei der Europawahl Verantwortung übernehmen müsse, zu groß.
Nahles hatte in der vergangenen Woche zwei Fehler gemacht: Ihre einsame Entscheidung, die Wahl in der Fraktion von September auf diesen Dienstag vorzuverlegen, erschienen vielen machtverliebt und egozentrisch. Zudem hatte sie im Bremer Wahlkampf einen jener ihrer gefürchteten skurrilen Auftritte und rief, mit den Armen rudernd, „Ich liebe Carsten“ (womit der SPD-Bürgermeister gemeint war). Damit minderte sie das Zutrauen, dass sie der SPD in ohnehin schwieriger Lage noch nützlich kann. Nahles, so die flügelübergreifend anschwellende Kritik, fordere von allen anderen viel Disziplin ein, sei aber selbst nicht fähig, sich ihre befremdlichen Auftritte zu verkneifen.
Andrea Nahles in ihrer Rücktrittserklärung
Nun ist vieles möglich. In der Fraktion wird die Neubesetzung der Fraktionsspitze nicht gegen die Landesverbände Niedersachsen und NRW möglich sein. Achim Post, Chef der Landesgruppe NRW im Bundestag, gilt als ein möglicher Kandidat, der von der SPD-Rechten unterstützt werden würde. Der Niedersachse Matthias Miersch, Umweltpolitiker und moderater Parteilinker, hatte schon seinen Verzicht auf die Kandidatur erklärt – aber nun sind die Karten neu gemischt.
Möglich ist auch eine Doppelspitze, um die chaotische Lage zu stabilisieren. Fraktions- und Parteispitze zusammen neu zu besetzen halten manche für eine Chance. Für die Parteispitze fallen öfters die Namen des niedersächischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und der Ministerpräsidentin aus Schwerin, Manuela Schwesig.
Nahles' politische Karriere geht, nach knapp 30 Jahren SPD als Jusochefin, Generalsekretärin, Arbeitsministerin und erste SPD-Chefin überhaupt, mit einem lauten Knall zu Ende. Nahles hatte die widerstrebende SPD mit viel Energie in die Große Koalition gelotst – die erste in der Geschichte der Bundesrepublik, die verlängert worden war. Die Partei war, trotz Basisvotum für die Groko, nie mit ihr warm geworden, die Wahlniederlagen waren ein deutliches Zeichen, dass auch die WählerInnen nicht viel von der SPD als Juniorpartnerin hielten.
Nahles schreibt in ihrer Rücktrittserklärung, dass ihr Ziel war, „Verantwortung für unser Land zu tragen“ und „gleichzeitig die Partei wieder aufzurichten“. Regieren und die taumelnde Partei retten – Nahles' Rücktritt ist das Eingeständnis, dass dies nun gescheitert ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist