Rennen um SPD-Vorsitz: Denkt nach, Genossen!
Wenn die SPD noch eine Chance haben will, muss sich die Basis dem Parteiestablishment widersetzen und für Walter-Borjans und Esken stimmen.
F ür das Parteiestablishment ist es offenkundig keine Frage, wem es in der zweiten Runde des großen SPD-Vorsitzendencastings die Stimme geben wird. Wer auch immer sich aus diesem Kreis in den vergangenen Tagen berufen fühlte, ein Votum zugunsten eines der beiden zur Wahl stehenden Duos abzugeben, stets fiel es zugunsten von Olaf Scholz und Klara Geywitz aus. Besser lässt sich ein Realitätsverlust kaum dokumentieren. Wenn die SPD noch eine Perspektive haben soll, wird die Parteibasis dem Werben ihrer Oberen widerstehen müssen. Daran ändert auch der theaterreif inszenierte und perfekt getimte Grundrente-Kompromiss nichts.
Die SPD-Mitglieder sollten selbstbewusst genug sein, sich nicht davon beeindrucken lassen, dass die veröffentlichte Meinung mehrheitlich ganz unverhohlen für den 61-jährigen Bundesfinanzminister aus Hamburg und die 43 Jahre alte Ex-Landtagsabgeordnete aus Potsdam trommelt. Wobei Letztere nicht ausschlaggebend für ihre Präferenz ist: Es geht um Scholz als vermeintlichen Stabilitätsgaranten. Eine vergiftete Empfehlung: So wie Medien, allen voran der Spiegel, Scholz gerade promoten, genauso schrieben sie einst auch Steinmeier, Steinbrück und Schulz in die Kanzlerkandidatur – um sie dann kurz vor der Wahl mit der gleichen Verve fallen zu lassen.
In was für einer Situation befindet sich die SPD? Bundesweit erreicht sie in den aktuellen Umfragen Zustimmungswerte zwischen 13 und 16 Prozent. Vom Wahlsieg Gerhard Schröders 1998 bis zur Schlappe von Martin Schulz 2017 hat die Partei mehr als 10,6 Millionen Wähler verloren. Seitdem hat sie nur noch eine einzige Landtagswahl ohne Einbruch in der Wählergunst überstanden. Das war die Wahl in Niedersachsen, in jener kurzen Zwischenperiode, in der die SPD-Führung großmäulig tönte, unter keinen Umständen die Koalition mit der Union fortzusetzen. Seit auch das Geschichte ist, ist es weiter bergab gegangen. In Bayern und Hessen im vergangenen Jahr sowie bei der Europawahl im Mai musste die SPD sogar zweistellige Verluste hinnehmen.
Das Ausmaß des Niedergangs ist dramatisch. Die Partei sitzt mittlerweile in drei Bundesländern nur noch mit einem Wählerstimmenanteil von weniger als 10 Prozent im Parlament, in zwei weiteren liegt sie gerade mal knapp über der 10-Prozent-Marke.
Für die SPD gibt es noch Luft nach unten
Niemand sollte darauf wetten, dass die Talfahrt der SPD schon an ihr Ende gekommen ist. In früheren Zeiten wurde sie noch mit einem – schwer beweglichen – Tanker verglichen, heutzutage scheint der Vergleich mit der „Titanic“ passender: Das Schiff ist am Sinken, aber das Bordorchester spielt unverdrossen in der Erste-Klasse-Lounge weiter. Die Beispiele ihrer Schwesterparteien in Frankreich, Griechenland oder den Niederlanden zeigen: Für die SPD gibt es nicht nur Luft nach oben, sondern auch noch nach unten. Die Krise der Sozialdemokratie ist wesentlich existenzieller als jene Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre, die damals den liberalen Vordenker Ralf Dahrendorf dazu verleitete, etwas voreilig das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters auszurufen. Jetzt könnte es wirklich so weit sein.
Auch wenn er es gerne ausblendet: Am desaströsen Zustand der SPD trägt Olaf Scholz, der seit 2001 in verschiedenen Funktionen im Parteivorstand sitzt, eine gehörige Mitverantwortung – angefangen von seiner Zeit als SPD-Generalsekretär zwischen 2002 und 2004, in der er erbarmungslos die unsoziale Agenda 2010 verteidigte. Es gäbe „in Deutschland eine gewaltige Umverteilung von oben nach unten“, behauptete er damals – obwohl das Gegenteil wahr war.
Auf etlichen der Regionalkonferenzen, die die SPD quer durch die Republik zur Präsentation ihrer Vorsitzkandidat:innen organisiert hatte, wurde Scholz mit Fragen nach Hartz IV konfrontiert – und wich ihnen ebenso konsequent aus wie denen nach der „schwarzen Null“, an der er geradezu dogmatisch festhält. Scholz ist Ausdruck der tiefen Krise der SPD, nicht ihr Ausweg. Ihm fehlt eine Idee für eine moderne, ausstrahlungskräftige sozialdemokratische Partei. Wie wenig er begriffen hat, zeigt das jämmerliche, aber von ihm als großer Erfolg verkaufte Klimapaket der Bundesregierung.
Damit kein Missverständnis entsteht: Auch wenn es überall zu lesen ist, geht es nicht um die banale Frage: GroKo – ja oder nein? Das ist viel zu kurz gegriffen. Es geht um Grundsätzlicheres. Der Scholz-Konkurrent Norbert Walter-Borjans hat auf den SPD-Regionalkonferenzen eine treffende Beschreibung des Problems geliefert: Der 67-jährige frühere Finanzminister Nordrhein-Westfalens skizzierte die SPD als einen großen Bus, bei dem als Fahrtziel vorne „soziale Gerechtigkeit und Zukunft“ drauf steht. Der Bus habe aber kaum noch Fahrgäste, „weil sie uns nicht glauben, dass wir da noch hinfahren“. Dabei sei die SPD nicht erst mit der derzeitigen Regierungskoalition „vom Weg abgekommen“. Sie sei auch schon zuvor auf Berater:innen und Lobbyist:innen hereingefallen, „die uns in die neoliberale Pampa gewiesen haben“.
Weder Walter-Borjans noch die 58-jährige baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken sind linke Abenteurer:innen. In besseren Zeiten wären sie als „Zentristen“ charakterisiert worden, wie einst Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau, dessen enger Mitarbeiter Walter-Borjans war. Aber die beiden wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Ob es ihnen gelingen könnte, die SPD wieder auf Kurs zu bringen, ist offen. Aber wenn die Partei überhaupt eine Chance haben will, dann werden sich ihre Mitglieder für sie und also gegen Scholz und Geywitz entscheiden müssen. Denn Walter-Borjans und Esken haben wenigstens eine Ahnung davon, worin die Krise ihrer Partei begründet liegt: „Uns ist die Glaubwürdigkeit abhanden gekommen, dass die SPD es mit der Sozialdemokratie ernst meint“, schreiben sie in ihrer Bewerbung.
Ja, das trifft es gut.
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