„Querdenker“-Proteste auf Telegram: Außer Kontrolle
In anderen Ländern nutzen demokratische Oppositionelle die App. Hierzulande radikalisieren sich dort „Querdenker“. Alles über Telegram.
Telegram verkauft sich gerne als die bessere und unabhängige Alternative zu Whatsapp. Schon länger hetzen Rechte auf dem Netzwerk. Aktuell radikalisieren sich hier die Proteste gegen die Coronamaßnahmen. Mittlerweile werden nicht nur Verschwörungstheorien verbreitet, sondern auch Morddrohungen abgesetzt. Die wichtigsten Fragen und die dazugehörigen Antworten zum Messengerdienst.
Wie funktioniert Telegram?
Telegram ist ein Messengerdienst. Ähnlich wie Whatsapp und Signal läuft er über eine Smartphone-App, lässt sich aber auch über einen Computer benutzen. Für die Nutzung wird eine Mobilfunknummer benötigt. Dann stehen Nutzer:innen verschiedene Funktionen zur Verfügung: Es gibt die Chat-Funktion direkt mit einer Person oder innerhalb einer öffentlichen oder privaten, also geschlossenen Gruppe. Auch Videoanrufe und Sprachnachrichten sind möglich. Außerdem gibt es verschiedene Kanäle, innerhalb dieser nur die Kanalhersteller:innen Beiträge posten können – je nach Einstellung können die Beitrage aber öffentlich kommentiert werden.
Laut dem Unternehmen knackte die App Anfang des Jahres die Marke von 500 Millionen Nutzer:innen weltweit. Zum Vergleich: Whatsapp hat rund vier Mal so viele Nutzer:innen. Gegründet wurde Telegram vom Russen Pawel Durow, der 2006 auch die russische Facebook-Konkurrenz VKontakte aufbaute. Doch weil Durow sich weigerte, dem russischen Staat Zugriff auf seine Onlinedienste zu geben, lebt er mittlerweile in Dubai. Seitdem versteht er sich als unabhängig und entzieht seinen Messengerdienst aller staatlichen Regulierung.
Warum ist das Netzwerk bei Rechten so beliebt?
Telegram hat sich selber den Ruf verliehen, nicht mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten und jegliche Meinung zu akzeptieren. Durow selbst sagt: „Telegram gibt seinen Nutzern mehr Freiheit als jede andere App.“ Das bedeutet, es werden keine Inhalte gelöscht oder zensiert. Einzige Ausnahme: Islamistische Gruppen werden laut Angaben des Unternehmens seit ein paar Jahren gelöscht. In Ländern wie Iran, Belarus oder Syrien wird Telegram daher vor allem auch von Oppositionellen und Regimekritikern genutzt und gilt oftmals als unverzichtbar für sichere, anonyme Kommunikation.
In Deutschland erleben wir momentan die Kehrseite der Medaille: Morddrohungen, Verschwörungstheorien, Radikalisierung, Anleitungen zum Waffenbau, Verkauf von Drogen und gefälschten Impfpässen. Dabei nutzen Rechte und Querdenker den großen Vorteil von Telegram aus: öffentliche Gruppen und Kanäle, die nicht kontrolliert oder moderiert werden. Diese sind sehr praktisch, wenn man in kurzer Zeit viele Menschen mobilisieren möchte, wie beispielsweise zu Demonstrationen oder Fackelaufmärschen. Telegram-Gruppen können bis zu 200.000 Accounts beitreten, Kanäle können unbegrenzt viele Abonnenten haben.
Es gibt reichlich kostenlosen Speicherplatz, um Videos und Audio-Dateien zu teilen. Es gibt keine Klarnamenpflicht. Für Nutzer:innen ist zunächst nur der Spitzname der anderen sichtbar, außer die Person hat die jeweilige Telefonnummer gespeichert. Recherchen des Spiegel im Sommer dieses Jahres haben ergeben, dass bei Telegram offenbar nur rund vierzig Personen arbeiten. Scheinbar kümmern sich Freiwillige ehrenamtlich darum, die Inhalte bei Telegram zu „moderieren“. Zum Vergleich: Facebook oder Youtube beschäftigen dafür mehrere tausend Mitarbeiter:innen.
Was unternimmt die Politik?
Als ein Warnen und Warten könnte man die politischen Maßnahmen der letzten Monate bezüglich Telegram zusammenfassen. Im April verschickte das Bundesamt für Justiz zwei Mahnschreiben an den Firmensitz in Dubai. Denn die Bonner Behörde ist davon überzeugt, dass Telegram auch dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) unterliegt. Dieses verpflichtet Unternehmen dazu, verbotene Inhalte innerhalb kurzer Zeit zu entfernen.
Bisher umfasst das Gesetz keine Messengerdienste, allerdings sah die Behörde bei Telegram schon Ende 2020 eine Ausnahme: Telegram diene eben nicht nur dem Austausch zwischen einzelnen Personen, sondern biete Mediendienstleistungen an. Auf der Innenministerkonferenz Anfang Dezember in Stuttgart verabschiedeten die Innenminister von Bund und Ländern auch eine Erklärung, in der es heißt, dass das NetzDG dringend ergänzt werden muss, um auch „Messengerdienste wie etwa Telegram“ zu erfassen.
Im April setzte das Bundesamt für Justiz eine zweiwöchige Frist für eine Rückmeldung, drohte zudem mit einem Bußgeld von bis zu 55 Millionen Euro. Bis heute kam von Telegram keine Antwort. Daraufhin versuchte das Bundesamt den Weg über die Behörden in Dubai zu gehen. In einem Schreiben werden die Vereinigten Arabischen Emirate um Rechtshilfe geben: „Nach internationalen Grundsätzen der Höflichkeit und Gegenseitigkeit“, heißt es darin.
Die neue Innenministerin Nancy Faeser gibt der Behörde recht und sieht Telegram in der Pflicht, Inhalte zu löschen und dem Bundeskriminalamt zu melden. Wie Faeser Telegram dazu bringen will, mit dem deutschen Staat zusammenzuarbeiten, bleibt allerdings offen. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius wiederum hat konkrete Forderungen: Er möchte, dass Google und Apple Telegram aus ihren App-Stores werfen: „Was in den Telegram-Gruppen und Kanälen passiert, widerspricht in jeder Hinsicht den Compliance-Regeln von Apple und Google, die diese App in ihren Stores anbieten“, sagte der SPD Politiker.
Mit dieser Anmerkung hat er tatsächlich recht. Dieser Schritt würde allerdings nur dafür sorgen, dass neue Nutzer:innen die App nicht mehr auf ihrem Smartphone installieren können. Wenn die App bereits installiert ist, kann sie allerdings problemlos weiter genutzt werden. Erst bei erforderlichen Updates könnte es schwierig werden.
Noch mehr Probleme
Aber Telegram duldet nicht nur Hass und Hetze, auch in Sachen Datenschutz nimmt es das Netzwerk nicht so genau. Der Messengerdienst bietet beispielsweise eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht als Grundeinstellung an. Diese muss für jeden einzelnen Kontakt aktiviert werden. Das unverschlüsselte Chatten nennt Telegram „cloud chat“. Was nett klingt, bedeutet, dass private Gespräche auf den Telegram-Severn abgespeichert werden.
Auch verzichtet Telegramm nicht komplett darauf, Metadaten zu sammeln. Laut ihren Datenschutzbestimmungen wird die IP-Adresse erfasst, wodurch Nutzer:innen geortet werden können. Konkret heißt das in der App: „Wir erfassen deine IP-Adresse, welches Gerät du nutzt etc.“ Was genau hinter „etc.“ steckt, erklärt Telegram nicht.
Außerdem ist der Servercode nicht öffentlich zugänglich, wodurch Nutzer:innen nicht wissen können, was genau auf den Servern des Dienstes passiert und wozu ihre Daten verwendet werden.
Und was passiert jetzt?
Es bleibt abzuwarten, was nächstes Jahr mit und um Telegram passieren wird. Klar ist: Die Politik hat das Unternehmen berechtigterweise in den Fokus genommen. Leider viel zu spät, denn das Problem existiert nicht erst seit gestern. Der Vorwurf an die ehemalige Bundesregierung, nicht nur zu wenig, sondern auch viel zu spät gehandelt zu haben, ist gerechtfertigt. Denn dass Gewaltfantasien nicht ausschließlich im virtuellen Raum stattfinden, sondern ihren Weg in die Realität finden, hat uns die Vergangenheit gezeigt.
Daher ist es nicht verkehrt, über ein Telegram-Verbot zu diskutieren, das beschlossen werden kann, wenn nichts anderes mehr hilft. Schließlich verweigert Telegram weiterhin jegliche Zusammenarbeit mit den Behörden. Das Netzwerk weigert sich, relevante Inhalte zu löschen oder zu melden, und verstößt so gegen deutsches Recht.
Für alle Nutzer:innen, die sich nun fragen, wie sie mit der Debatte umgehen sollen, sei gesagt: Natürlich muss man sich jetzt nicht sofort von Telegram abmelden. Aber auch jenseits der aktuellen Probleme gibt es weitaus empfehlenswertere Messengerdienste wie Signal, die nicht nur der deutschen Regierung, sondern auch Nutzer:innen gegenüber auskunftsfreudiger sind als Telegram.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“