Prozess gegen den Attentäter von Halle: Offene Wunden
Keine Reue des Täters, aber offene Fragen, gestellt von den Überlebenden: Das Verfahren um das Attentat von Halle neigt sich dem Ende zu.
A n diesem Mittwoch sind die Betroffenen noch einmal in den Saal C24 des Magdeburger Landgerichts gekommen. Die Gläubigen aus der Synagoge, der Betreiber des Kiez Döner, ein Mann, der vom Attentäter fast überfahren wurde. Sie nehmen zwischen ihren Anwält:innen Platz, einige setzen sich in den Saal. Sie haben sich vorbereitet, hart gemacht. Denn sie wissen, was an diesem Tag kommen kann. Hass, Hetze, Beschimpfungen. Und es kommt.
Denn an diesem 25. und vorletzten Verhandlungstag im Prozess zum Anschlag von Halle hält der Angeklagte sein Schlusswort. Er tut es so, wie er sich den ganzen Prozess lang verhielt. Am Vormittag tritt er ans Rednerpult neben der Anklagebank. Er schaut direkt auf die Betroffenen, setzt zu einem verbissenen Vortrag an. Das Verfahren gegen ihn schmäht er als politischen Schauprozess, vergleicht es mit den Nürnberger Prozessen. Das Urteil stehe doch längst fest: „lebenslänglich“ mit anschließender Sicherungsverwahrung. Aber das werde ihn nicht von seinem Weg abbringen. Er bellt es fast in den Saal.
Ismet Tekin vom Kiez Döner über den Angeklagten
Die Überlebenden verfolgen seine Worte mit versteinerten Gesichtern. Einige Zuhörer:innen haben den Saal schon zuvor verlassen. Aber der Angeklagte macht weiter. Er verteidigt seine Tat, beschwört antisemitische Verschwörungslegenden, spricht von einem Bürgerkrieg. Und er leugnet unverhohlen den Holocaust. „Stoppen Sie das“, rufen einige Nebenklage-Anwälte Richterin Ursula Mertens zu. Und Mertens unterbricht den Angeklagten: „Ich hatte Ihnen das erklärt, Sie dürfen das nicht wiederholen.“ Dann, sagt der Angeklagte, wäre das alles.
Es sind nur wenige Minuten, die der 28-Jährige damit für sein Schlusswort aufwendet. Als Mertens den Prozesstag kurz darauf beendet, nehmen einige der Betroffenen einander in die Arme. Sie habe Schlimmeres befürchtet, sagt Christina Feist. Sie war eine der Gläubigen aus der Synagoge, die mit dem Leben davongekommen sind. „Dass es inhaltlich katastrophal wird, war ja klar.“ Ismet Tekin, der Kiez-Döner-Betreiber, ist sichtlich erleichtert darüber, dass der Angeklagte in seiner Hetze gestoppt wurde. „Dass er noch mal Menschen so wehtun musste, ist peinlich. Er ist ein Feigling.“
Damit geht der Prozess zu Ende, wie er im Sommer begonnen hat. Mit reuelosem Hass des Angeklagten. Und mit Betroffenen, die diesem Hass mit Stärke entgegentreten. Seit Juli ist über den Anschlag des jungen Rechtsextremisten verhandelt worden. Er hatte am 9. Oktober 2019 versucht, in Halle die Synagoge zu stürmen, als 51 Gläubige dort gerade Jom Kippur feierten, den höchsten jüdischen Feiertag. Er scheiterte an den verschlossenen Türen, erschoss aber eine Passantin, Jana L., und später im Kiez Döner einen Mittagsgast, Kevin S.
Nun steht nur noch das Urteil aus, am 21. Dezember soll es fallen. Und es besteht tatsächlich kaum ein Zweifel: Der Angeklagte dürfte zur Höchststrafe verurteilt werden. Womöglich kommt er nie mehr in Freiheit.
Hans-Dieter Weber, der Anwalt des Angeklagten, versucht am Mittwoch dies noch zu verhindern. In seinem Plädoyer spricht Weber von dem wohl „schwierigsten Verfahren“ seiner Karriere. Nicht menschlich, da habe sich der Angeklagte ihm gegenüber „höflich“ verhalten. „Obwohl ich klargemacht habe, dass ich die Tat in keiner Weise teile.“ Aber der Anschlag reihe sich ein in die Tradition nationalsozialistischer Verbrechen, sein Mandant habe an seinen „menschenverachtenden und rassistischen Einstellungen“ keinen Zweifel gelassen. Es sei ein Glück, dass der Anschlag misslang, sagt Weber.
Während der Verteidiger die Morde und einige Schüsse auf Passanten und Imbissbesucher als unstreitig einräumt, relativiert er andere Vorwürfe. Allen voran den des 51-fachen versuchten Mords an den Synagogenbesuchern. Sein Mandant sei doch bereits am Hoftor gescheitert und habe, obwohl er noch weiteren Sprengstoff hatte, von sich aus aufgegeben, bekundet Weber. Es sei daher von einem straflosen Rücktritt vom Tatversuch auszugehen.
Die Ankläger, und auch die Nebenklage-Anwält:innen, hatten in ihren Plädoyers widersprochen: Natürlich habe es sich bei dem Angriff auf die Gläubigen in der Synagoge um Mordversuche gehandelt. Dass der Attentäter die Menschen töten wollte, sei völlig unstrittig.
Weber fordert ein „gerechtes Urteil“, ein Strafmaß benennt er nicht. Sein Mandant habe im Prozess zwar „alle Argumente für eine Sicherungsverwahrung bemüht“. Er sei aber auch noch jung und eine Verhaltensänderung im Alter sei durchaus möglich. Auch sei die jahrelange Selbstisolation des Täters zu beachten, sie spreche für eine psychische Erkrankung und damit für verminderte Schuldfähigkeit. Der Beschuldigte schüttelt dazu leicht den Kopf. Seine Inszenierung ist eine andere: als politischer Täter, nicht als Gestörter.
Schlaflos in Magdeburg
Die von dem Anschlag Betroffenen hatten zuvor die Höchststrafe gefordert. Eine von ihnen ist Christina Feist. Monate vor den Worten des Verteidigers, in einer Nacht Ende Juli, der Prozess hat eben erst begonnen, liegt Feist in ihrem Magdeburger Hotelzimmer. „Ist es denn wirklich so schlimm in Deutschland?“ Als eine Frau ihr in dieser Nacht über Facebook diese Frage stellt, ist Feist noch wach. Es ist eine der ersten Nächte, die Feist hier schlaflos verbringt. Obwohl sie doch weiß, dass es ihr hier schlecht geht, kommt sie in den folgenden Monaten immer wieder an diesen Ort. Sie checkt ein, legt sich hin, bleibt wach. Am Morgen dann steht sie auf und begibt sich auf die Suche nach einem Weg aus dem Trauma. In den Gerichtssaal C24.
Anfang Dezember ist wieder eine dieser Nächte. Als Christina Feist im Hotel ankommt, ist es schon spät. Wie viele Gefühle hat sie an diesem Ort schon durchlebt? An diesem Abend hat sie Angst. Sie hat Angst davor, dass die letzten Monate verschenkte Liebesmüh gewesen sein könnten. Sie hat Angst davor, dass der angestoßene Diskurs versandet. Sie hat aber auch Gewissheit: Wenn sie morgen an das Pult tritt und ihr Plädoyer hält, wird es das letzte Mal sein, dass man ihr wirklich zuhört – weil man ihr zuhören muss. Wie lauten die letzten Worte?
Es gibt Dinge, auf die können sich fast alle einigen. Ein Rechtsextremist, der mit selbst gebauten Waffen eine Synagoge zu stürmen versucht, der auf Dutzende Menschen zielt, einige dabei verletzt, der zwei Menschen ermordet, einen vorsätzlich anfährt und bei unzähligen Menschen psychische Verletzungen hinterlässt, einen Großteil dieser Taten auch noch filmt und nach psychiatrischer Einschätzung voll schuldfähig ist – ein solcher Mensch verdient die Höchststrafe.
Und doch umfasst der Prozess gegen den Attentäter von Halle bis zum Urteil 25 Prozesstage. Die Zahl der Betroffenen ist schwer zu ermitteln, aber 45 von ihnen nehmen als Nebenkläger:innen an diesem Verfahren teil. Was treibt diese Menschen an, wenn die Strafe doch auf der Hand und doch nicht in ihrer Hand liegt?
Die Motive benennen
„Wir sind alle hier, um Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Formen zu finden, für diesen Tag, das Böse, das wir alle so unterschiedlich erfahren haben“, sagt Talya Feldman an jenem Pult, an das auch Christina Feist treten wird. Beide Frauen waren am 8. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle anwesend. Feldman ist eine freundliche Frau, selbst als sie an diesem Morgen mit etwas zittriger Stimme zu sprechen beginnt. Sie ist wie Christina Feist eine derjenigen, die sich entschieden haben, in diesem juristischen Verfahren aktiv nach Gerechtigkeit zu suchen.
Anfangs sucht Feldman nach Gerechtigkeit für ihre Gruppe. Während die Morde an Jana L. und dem Besucher des Imbisses, Kevin S., unbestreitbar sind, erkannte die Bundesanwaltschaft den akribisch geplanten und antisemitisch motivierten Angriff auf die Synagoge in ihrer anfänglichen Anklageschrift nicht als Mordversuch an. Schon vor Prozessbeginn bauen die Betroffenen so viel Druck auf, dass die Anklageschrift auch diesen Angriff als versuchten Mord wertet.
Gerechtigkeit bedeutete auch, dass die Tatmotive klar benannt werden: Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass. Dass der Täter keine Bühne für die Ausbreitung dieser Ideologien bekommt. Dass der Mythos von einem Einzeltäter keinen Bestand hat. Dass sein Onlineumfeld betrachtet wird, in dem Rechtsterror wie in Christchurch glorifiziert wird. Dass ein gesellschaftliches Klima erkannt wird, das gewisse Menschen und Organisationen bereits vor Jahren Rassismus salonfähig gemacht haben.
Wenn Christina Feist im Gerichtssaal sitzt, macht sie sich Notizen. Sie erkennt: „Es kommen immer wieder dieselben Hauptpunkte.“ Und doch gibt es noch so viel zu sagen, dass sie sich entscheidet, noch ein letztes Mal das Wort zu ergreifen, bevor das Urteil fällt. Sie ist damit nicht allein.
Opfer verschiedener Klassen
Talya Feldman benennt eine der offensichtlichen Lücken in diesem Verfahren. Ihre Stimme wird dabei fester, und ihr Gesicht verhärtet sich, als sie sagt: „Nachdem dieser Mann monatelang Hass und Ideologie von sich gab, wurden Adiraxmaan Aftax Ibrahim und Ismet Tekin immer noch nicht als versuchte Mordopfer anerkannt, obwohl auch hier das Motiv doch offensichtlich ist.“
Während die Schüsse, die der Täter in Richtung von Polizisten abgab, im Prozess als Mordversuch bewertet werden, betrachtet die Bundesanwaltschaft Angriffe auf andere Bürger dieses Staates offenbar als weniger bedeutend. So wie bei Ismet Tekin, dem Besitzer des Imbisses Kiez Döner, den eine Kugel nur knapp verfehlte. Oder wie bei dem Schwarzen Adiraxmaan Aftax Ibrahim, der auf der Flucht vom Täter gezielt angefahren wurde. Das genügt laut Bundesanwaltschaft nicht dem Anklagepunkt „versuchter Mord“, trotz eines nachdrücklichen Antrags der Nebenklage. Ismet Tekin wendet sich im Prozess an die Bundesanwälte. „Bei allem Respekt, ich akzeptiere nicht, was Sie gesagt haben.“ Warum habe er bis heute Albträume und Schmerzen? Natürlich habe der Täter ihn töten wollen. „Sonst hätte er gestoppt“, sagt Tekin.
Talya Feldmans Rechtsanwalt spitzt in seinem Plädoyer zu: „Der Prozess hat gezeigt, dass Schwarzen und muslimischen Menschen doch nur widerwillig zugehört wird.“ Sie selbst bringt das zu der Aussage: „In diesem Gerichtssaal werde ich immer wieder daran erinnert, dass Gesetz nicht Gerechtigkeit ist.“
Schon im September sprechen einige Nebenkläger:innen im Zeugenstand. Die vorsitzende Richterin gibt ihnen Zeit und Raum, ihr Inneres nach außen zu kehren. Es ergibt sich ein Mosaik aus Bildern, Erlebnissen und Formen von Traumata. Bunte Fenster, Scherben, Gebete, Starre, Fluchtinstinkt. Doch ihre Aussagen haben in ihrer Vielfältigkeit zwei Dinge gemeinsam: das Attentat und das Entsetzen über die Polizei.
Das findet sich in den Plädoyers wieder. Talya Feldman greift fest an ihre Taille und streckt die Ellenbogen aus, als sie sagt: „Ich habe überlebt, weil die Gemeinde in Halle so gut reagiert hat – sie und niemand sonst!“ Ein Überlebender aus dem Kiez Döner, der anonym bleiben möchte, lässt durch seine Anwältin berichten, man habe ihn am Tattag am Telefon einmal abgewürgt und einmal aufgefordert „gefälligst lauter zu sprechen“, als er aus seinem Versteck den Notruf wählte. Auch vor der Tür des Kiez Döner und der Synagoge kümmerte sich die Polizei den Aussagen zufolge nicht um die Überlebenden, sondern verschlimmerte nur deren Traumata.
Auch über den Tag des Attentats hinaus bleibt die Opferhilfe von offiziellen Stellen, vorsichtig ausgedrückt, überschaubar. Der Kiez Döner kämpft seit dem Anschlag um sein Überleben. Das Geld für den nötigen Umbau wurde nicht vom Staat, vom Land oder von der Stadt Halle bereitgestellt, sondern von einer jüdischen Studierendenorganisation gesammelt. Und wer hat jemals auch nur in das Gesicht von Adiraxmaan Aftax Ibrahim gesehen? Eine aktive Begleitung erfährt er nur durch die Mobile Opferberatung und andere Betroffene, Soligruppen und Nachbar:innen.
Alle Betroffenen eint, dass sie gelernt haben, selbst handeln zu müssen – während des Attentats, im Umgang mit den psychischen und finanziellen Folgen und selbst im Prozess. „Ich bin wütend auf das BKA, dass es nicht als seine Aufgabe anerkennt, Kontexte zu verstehen“, sagt Feldman.
Der Beamtin, die auf das Onlineverhalten des Täters angesetzt wurde, war keine der einschlägigen Imageboards, deren Sprache und Ästhetik er sich in seinem Tatvideo bedient hatte, bekannt. Sie kannte gerade mal die Plattform, auf der er sein Video live streamte. Die Auseinandersetzung mit den Schriften des Täters wurde ebenso nachlässig untersucht. Verweise auf vergleichbare Attentate wie die von Christchurch wurden nicht ermittelt, das Material auf den mitgeführten Datenträgern des Täters wurde nur oberflächlich gesichtet und eine Untersuchung des Zusammenhangs all dieser Punkte vollends unterlassen.
„Sie verstehen die offensichtliche Verbindung zwischen diesem Anschlag und anderen Formen der online und offline stattfindenden Radikalisierung nicht. Letztendlich sagt das, dass sie uns künftig nicht vor dieser Art der Gewalt zu bewahren gedenken, dass sie nicht daran glauben, dass diese Radikalisierung und Gewalt eine Gefahr sind“, sagt Feldman.
Kenntnisse sammelten dagegen die Nebenkläger:innen selbst auf der mit Wissenschaftler:innen und Künstler:innen initiierten Website nsu-watch.info. In den Gerichtssaal zieht dieses Wissen nur durch externe Sachverständige ein, die Journalistin Karolin Schwarz, den Vorsitzenden der Recherche- und Informationsstelle für Antisemitismus, Benjamin Steinitz, und den Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, Matthias Quent.
Doch reicht diese Aufklärung für Gerechtigkeit?
Die Traumata nach dem Attentat
Trauer, Trauma und Bewältigung haben viele Gesichter. Jeder Mensch hat dieses Attentat anders erlebt. Manche haben Bänder der Solidarität geknüpft, andere haben sich isoliert. Einige Betroffene verfolgen jeden Prozesstag von der Nebenklage aus, den Angeklagten im Sichtfeld. Manche kommen an besonderen Terminen, etwa wenn Menschen aus ihren Reihen das Wort erheben. Wieder andere finden nicht die Kraft, sich von ihrer Couch zu erheben, die seit dem Anschlag zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden ist.
Gerade die jungen Betroffenen aus der Synagoge ziehen ihre Kraft aus politischem Kampf. Und dennoch kann die Stärke der Betroffenen nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel Leid dieser Anschlag verursacht hat. Etliche von ihnen haben berichtet, wie sie bis heute in Therapien seien. Wie sie Angst hätten, Albträume. Und wie Antisemitismus und Rassismus weiter ihren Alltag prägten. Dass er Opfer eines auch rassistischen Anschlags wurde, sei letztlich „nicht unerwartet“ gekommen, wird der Somalier Aftax Ibrahim von seiner Anwältin zitiert. Zu regelmäßig habe er zuvor Anfeindungen erlebt.
Roman Remis, jüdischer Vorbeter, zu dem Angeklagten
Und es gibt gänzlich zerstörte Schicksale: die der Familien von Kevin S. und Jana L. Die Angehörigen von Jana L. finden nicht die Kraft, um an dem Prozess teilzunehmen. Die Mutter von Kevin S. braucht dazu bis zum 22. Verhandlungstag, bis zum Schlusswort ihres Anwalts. Versunken sitzt die zierliche Frau hinten im Saal, kämpft mit den Tränen. Auch Kevins Vater Karsten L. muss seine Zeugenaussage abbrechen, er kann vor Schluchzen nicht mehr weitersprechen. Bis dahin hat der Gerüstbauer berichtet, wie Kevin S. trotz geistiger Behinderung die Förderschule geschafft habe, eine Ausbildung in einer Malerfirma erkämpft habe, leidenschaftlich Spiele des Halleschen FC besuchte. „Er war megastolz.“ Und dann, neun Tage nach Beginn seiner Lehre, wird Kevin beim Mittagessen erschossen. Die Eltern sehen das Video des Mordes. Als Karsten L. dies erwähnt, ist es der Moment, in dem nichts mehr geht. Er und Kevins Mutter sind bis heute in psychologischer Behandlung, teils stationär. „Wir brauchen extrem Hilfe“, sagte er.
Nur die, die sprechen, können zitiert werden. Einige achten genau auf ihre Worte und spitzen sie zur Waffe, andere nutzen die des Täters. Einige zitieren die Tora.
Losgesagt von der Macht des Täters
Der Täter selbst hätte im Gerichtssaal am liebsten seine Ideologien ausgebreitet. Anfangs nutzt er jede Chance dazu, bis das Gericht strenger mit ihm wird. Von da an verfolgt er den Prozess mit betonter Gelassenheit, teils grinsend oder auflachend. Aussagen der Betroffenen kommentiert er mit Zwischenrufen, während der Plädoyers hält er Zeichnungen hoch, um die Betroffenen aus dem Konzept zu bringen. Ein erbärmlicher Auftritt.
Doch schon in den Aussagen im September sagen sich einige Überlebende von seiner Macht los: „Du hast dich mit der falschen Person angelegt, mit der falschen Familie, mit den falschen Nebenklägern“, sagte Mollie Sharfman. „Von diesem Tag an wird er mir keine persönlichen Qualen mehr verursachen. Es endet heute.“ Vorbeter Roman Remis betont die breite Solidarität nach dem Anschlag. „Ich bleibe hier. Und du? Für den Rest deines Lebens musst du damit leben: Was du getan hast, hat nichts gebracht.“ Auch Ismet Tekin hat den Angeklagten direkt angesprochen: „Sie haben nicht gewonnen. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt, ich lebe. Entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und mehr Liebe.“
In den Plädoyers der Nebenkläger:innen liegt die Macht nicht mehr beim Täter. Wer an diesen Tagen an das Pult tritt, findet nur Worte der Ablehnung. Die letzten Worte an den Täter sind: Versager. Verweichlichtes Muttersöhnchen. Der sich ob seines erbärmlichen Daseins in Selbstmitleid Suhlende. Der, der nichts, aber auch nichts auf die Reihe bekommen hat. Um ihn mit den Worten seines Onlineumfelds zu benennen: ein Ronny-Terrorist. Da hilft dir auch dein Lachen nicht weiter.
Lob für Richterin Ursula Mertens
Richterin Ursula Mertens hat in dem Verfahren den Betroffenen ihren Raum gelassen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, wie man an den Prozessen gegen den NSU oder den Lübcke-Attentäter sieht, in denen Opfer oder Angehörige vom Gericht teils schroff befragt wurden. Mertens aber lässt sie alle aussprechen, hört ihnen zu. Sie lädt Sachverständige, die ihre Anwält:innen vorgeschlagen haben. Sie gewährt über lange Zeit gar Applaus im Gerichtssaal. Und als Mertens dies doch unterbindet, lässt sie zu, dass sich ZuhörerInnen fortan nach Aussagen von Nebenklägern erheben, um ihnen so Respekt zu zollen.
Mehrere Nebenklageanwälte bedanken sich am Ende bei Mertens für ihre Prozessführung. Auch Verteidiger Weber will am Mittwoch von einem Schauprozess, wie es der Angeklagte behauptet, nichts wissen. Er bedankt sich ebenso, seinem Mandanten seien alle Rechte gewährt worden.
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