Protest im Südwesten: Immer dagegen
Angebliche Frühsexualisierung, Anthros, Querdenker und Stuttgart 21: Warum sind die Menschen im wohlhabenden Schwaben so dickschädelig?
Im Mai waren sie schon wieder „aus dem Häusle“ in der schwäbischen Hauptstadt. Zehntausende aus dem ganzen Land versammelten sich bei bestem Demonstrationswetter auf dem Cannstatter Wasen. Fahrlehrer und Friseure demonstrierten neben Jogis und Ausdruckstänzern. Skinheads neben Shishabarbesitzern und alternativen Frauengruppen. Eine seltsam amorphe Menschenmenge, zusammengemixt aus Pegida und Friedensbewegung, die vor allem eins einte: Sie waren dagegen.
Auf der Bühne stand, wie sollte es in dieser Gegend anders sein, ein mittelständischer Unternehmer und sagte Rätselhaftes über die Grundrechte und das Virus. Michael Ballweg, ein Software-Entwickler, der bis vor Kurzem noch Geschäfte mit Thyssen und Bosch gemacht hat, ist das Gegenteil eines Volkstribuns. Auf der Bühne wirkt er seltsam gehemmt und zögerlich. Trotzdem jubelt ihm das Volk zu. Und es gelingt ihm zumindest einen Sommer lang, den Coronaprotest in der Republik zu verbreiten und auf die Stufen des Reichstags zu tragen.
Der Widerstand gegen den Bahnhof Stuttgart 21, die sogenannten „Demos für alle“ gegen die angebliche Frühsexualisierung von Kindern durch den neuen Bildungsplan der Landesregierung. Und eben jetzt der Versuch selbsternannter Querdenker, die Gefahr einer Pandemie einfach wegzudemonstrieren und die Schuld bei Bill Gates und einer Weltverschwörung zu suchen. Immer wieder Schwaben. Warum sind sie in diesem eigentlich doch so wohlhabenden Landstrich immer dagegen?
Es ist nicht ganz einfach als gebürtiger Badener und halber Österreicher, der über die Schwaben schreibt. „Etwas mehr Sachkenntnis über Schwaben“ wünscht mir in einem Leserbrief ein taz-Genosse, als ich den linksökologischen Kandidaten in Stuttgart dafür kritisiere, dass er lieber einen CDU-Bürgermeister in Kauf nimmt, als mit einem Newcomer aus dem badischen Tengen ein fortschrittliches Bündnis zu schmieden. Ein Beispiel, dass selbst Linke in Schwaben heute noch lieber unter sich bleiben.
„Nicht in meiner taz!“
Und wenn man dann nach zehn Jahren Baufortschritt und etlichen geborenen Tunnelkilometern schreibt, dass die Stuttgart-21-Gegner zwar in jedem Punkt ihrer Kritik recht haben. Dass man sich aber nun damit abfinden müsse, dass der unterirdische Bahnhof trotzdem fertiggebaut wird, dann erklärt einem ein schwäbischer taz-Leser der ersten Stunde am Telefon, dass das ja schon sein könne, aber er wolle das nicht lesen. „Nicht in meiner taz!“
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So kann man fürs Erste vielleicht schon mal festhalten, dass sie sich nicht gern von außen reinreden lassen, die Schwaben. Ich versuch’s trotzdem mal. Man muss festhalten: Der Widerstand gegen Stuttgart 21, Demos gegen mehr queere Realität in Schulbüchern und der Querdenkerglaube an Q-Anon und die große Coronaverschwörung sind sehr unterschiedliche Phänomene, auch, wenn es hier und da personelle Überlappungen geben mag.
Als im Herbst 2010 Tausende gegen den Bau eines unterirdischen Bahnhofs auf die Barrikaden gingen, hatte dieser bürgerliche Widerstand Naturgesetze und Mathematik auf seiner Seite. Mit einer bewundernswerten Unerbittlichkeit arbeiteten sich Laien in Arbeitskreisen, die durchaus an protestantische Bibelkreise erinnerten, in Details von Gesteinsformationen und den Tunnelbau ein, sodass selbst der letzte Obenbleiben-Mitläufer ausgesprochen faktensicher wirkte, wenn er über Gipskeuper und Bahnsteigneigungen dozierte.
Montagsdemos ohne Ende
Dieses schwäbische Es-wissen-Wollen, dass auch der frühere Opernintendendant Jossi Wieler beim Stuttgarter Theaterpublikum dankbar beobachtet hat, kann aber umschlagen in Es-nicht-gut-sein-lassen-Können. Das steht dem einen oder anderen dann im Weg, wenn man sich mit in tonnenweise Beton gegossenen Fakten abfinden muss.
Erst kürzlich feierten die Montagsdemos ihre 537. Wiederkehr. Der unbeirrbare Glaube an das, was man einmal für richtig erkannt hat, hat seine Wurzeln sicher auch im Pietismus, eine Spielart des Protestantischen, die bis heute Teile des Landes tief prägt. Obwohl die sogenannten Lebendigen Gemeinden eine Minderheit in der Württembergischen Landeskirche darstellen, konnten sie bis heute verhindern, dass schwule und lesbische Paare getraut werden können, während das in der badischen Landeskirche schon ein paar Kilometer weiter westlich seit 2016 möglich ist. Aus dieser bigotten Denkart speist sich auch der Protest gegen die sogenannte Frühsexualisierung von Kindern, eine Bewegung, die auch einigen Rückhalt in der AfD erfahren hat.
Und die Querdenker? Ihr verqueres Denken speise sich aus einem „süddeutschen Platonismus“, sagt der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung, Michael Blume, ein Katholik und Religionswissenschaftler. Also der Vorstellung, dass wir alle nur den Schatten der Wahrheit wahrnehmen, bis einer kommt, der uns aus der Höhle der Unkenntnis befreit.
Zentrum der Anthroposophen
So einer war auch für viele Schwaben der Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner. Stuttgart ist ein Zentrum der Anthroposophen, hier entstand 1919 die erste Waldorfschule, die Landeshauptstadt ist Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft. Und auch, wenn sich die organisierten Anhänger Steiners längst offiziell von den Querdenkern und Impfgegnern um Michael Ballweg distanziert haben, findet sich immer wieder ein homöopathischer Arzt, der aufs Querdenkerpodium steigt und verkündet, das Virus sei nur eine Stufe zu einem höheren Bewusstsein.
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Pietisten, Anthros und eine gewisse Dickschädeligkeit. Ist das biedere Stuttgart also in Wahrheit die Widerstandszentrale der Republik? Eher nicht. Revolutionen gingen selten von hier aus. 1848 nicht, als nebenan in Baden und der Pfalz erste Parlamente zusammentraten, und auch 1918 baten die schwäbischen Sozialisten den beliebten württembergischen König nur zögerlich vom Thron.
Während die pietistische Mehrheit lieber dem Kaiser ließ, was des Kaisers war, war Widerstand in Schwaben immer eher das Projekt von einzelnen Querköpfen. Helmut Palmer etwa, der Vater des heutigen Tübinger Oberbürgermeisters, eine Schwejk’sche Figur, die der Obrigkeit und speziell den Beamten den Kampf angesagt hatte. 250 Mal kandidierte er in Städten und Gemeinden Baden-Württembergs als Oberbürgermeister, noch viel häufiger beschimpfte und bepöbelte er Politiker und Staatsdiener.
Und selbst mit 70 und bereits schwer krank ließ er sich lieber ins Gefängnis sperren, als eine Geldstrafe von 1.000 Euro zu bezahlen. Er landete übrigens im Gefängniskrankenhaus Hohenasperg, wo auch schon 300 Jahre früher der württembergische Herzog den einsamen Rebellen und Journalisten Christian Friedrich Daniel Schubart einsperren ließ.
Ein wirklicher tragischer Held aus Schwaben ist Georg Elser. Der Schreiner und Musiker aus Königsbronn hätte mit seinem missglückten Attentat auf Hitler nun wirklich die Welt verändern können. Er war nicht nur in seiner württembergischen Heimat unerträglich lange vergessen. Sein Schicksal könnte heute manchem, der sich eine Coronadiktatur zusammenfantasiert, deutlich machen, welchen Preis Widerstand in einem totalitären System hat. Georg Elser wurde nach Folter und jahrelanger Haft von den Nazis noch kurz vor der Befreiung des KZ Dachau ermordet.
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