Zu Besuch bei den Schwaben: Wütend zwischen Weinbergen
Im Ländle herrscht Strebsamkeit, aber auch ein schwer bezwingbarer Freiheitsdrang. Abstands- und Maskenregeln stoßen verbreitet auf zornigen Protest.
E s ist immer lehrreich, zu reisen – selbst wenn es nur ein Verwandtenbesuch im ländlichen Südwesten ist: Hier schlägt das Herz der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie, hier blühen der unternehmerische Mittelstand, die reformierte Kirche und die arbeitsame Rechtschaffenheit, und niemand wagt es, vor den Augen der Nachbarn ein „Papierle“ auf die Straße zu werfen.
Am Ostersonntag hat jemand dick mit Kreide „Christus ist erstanden“ auf die Straße geschrieben, damit die Heiden, die ihre Kinder zum Ostereiersuchen auf die Streuobstwiesen führen, wissen, was Phase ist. Dass hier, zwischen Gewerbegebieten und Weinbergen, auch das Wutbürgertum gedeiht, sieht man etwa am Kreisimpfzentrum, das rundum mit „Nein danke!“-Sprüchen bekritzelt ist.
Oder an dem Graffito in der S-Bahn-Unterführung, das einen Osterhasen auf Knien zeigt, in Handschellen gelegt von einem grimmigen Polizisten: „Mindestabstand nicht eingehalten!“, lautet der Vorwurf des unbarmherzigen Staatsdieners. Regelmäßig, zuletzt am Karfreitag, laufen die selbst ernannten „Querdenker“, ohne Masken und ohne Abstand zu halten, auf dem Stuttgarter Wasen auf. Auch wenn die Stadt versucht, mit Verboten gegenzuhalten:
In nicht wenigen Läden sieht man Flyer der neuen Partei „WiR2020“, die in ihrem Programm unter anderem fordert, „unverhältnismäßige Maßnahmen“ wie die Schließung von Gastrobetrieben oder die Maskenpflicht an Schulen aufzuheben. Und jedeR BürgerIn soll selbst bestimmen, ob die eigenen Kinder geimpft werden (etwa gegen Masern) oder welchen Medien sie ihren Rundfunkbeitrag zukommen lassen.
Osterhase in Handschellen
Bei dieser Wählerschaft kann man Winfried Kretschmann nur viel Glück wünschen, wenn er nun im Verbund mit der geschwächten CDU Zumutungen durchsetzen will, wie eine Solarpflicht für Einfamilienhausdächer oder mehr Windräder. Von denen da oben lassen wir uns nicht mit unsinnigen Vorschriften gängeln – fast sieht man den längst verstorbenen Obstgärtner und „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer wieder auf seine Obstkiste steigen und Reden gegen die „Parteibonzen aus Berlin“ halten.
Von Palmer senior sind nicht nur seine Bücher, rund 300 erfolglose Kandidaturen für Bürgermeisterämter und ein mit politischen Parolen bepinseltes Fachwerkhaus in Geradstetten geblieben: Sein Sohn Boris hat es immerhin zum Bürgermeister einer schwäbischen Studentenstadt gebracht. Aber das Verquere, den Hang zu rhetorischen Querschüssen und zur Provokation, das hat er vom Senior. „Die gleiche Schwertgosch“, würde man hier sagen.
Mich fasziniert diese schwäbische Melange aus Renitenz und Strebsamkeit, Arbeitswut und Freiheitsdrang. Und gern hätte ich mir das besonders in Berlin viel gescholtene Tübinger Modell (vereinfacht gesagt: Öffnen, was geht, und testen wie der Teufel) einmal selbst angeschaut. Doch kurz nach unserer Ankunft wurden die Tagestickets für Auswärtige wieder kassiert – es kamen zu viele Genusstouristen eigens angefahren, um nur mal wieder in einem echten Café Platz zu nehmen.
Das Ergebnis: rapider Anstieg der Infektionszahlen und Zugang jetzt nur noch für Ortsansässige. Vielleicht bin ich ja schon verschwäbelt in der kurzen Zeit, aber ich finde Palmers Vorstoß richtig – und ebenso den Versuch, das Saarland zur Modellregion für vorsichtige Öffnungen zu machen. Es braucht jetzt Perspektiven, Ideen und Möglichkeiten für mehr Normalität – nicht den fünfhundertsten Eiertanz um Brücken- oder sonstige Lockdowns.
Ich habe aufgehört, die täglichen Wasserstandsmeldungen der Pandemiepolitik zu verfolgen, denn dieses aktionistische und planlose Gehampel macht mich zunehmend aggressiv. Vor allem, seit ich auf zeit online den Erfahrungsbericht der ehemaligen Kollegin Rieke Havertz gelesen habe, die sich in einem Drogeriemarkt in Washington mal eben zwischen den Putzmitteln hat impfen lassen. Während man sich hier fragt, warum zum Teufel das so lange dauert.
Auswärtige müssen draußen bleiben
Und warum ich mich jetzt ernsthaft für „die K-Frage“ in der CDU interessieren soll, solange die I-Frage noch nicht befriedigend geklärt ist. Meine innere Wutbürgerin wurde vom neuen Video des Youtube-Polit-Rumpelstilzchens Rezo ganz gut bedient. Umgeben von Einfamilienhäusern und von durch verstopfte Verkehrsadern zerschnittenen Weinbergen, zog ich mir seinen Rant über „den Haufen inkompetenter Dullis“ von der CDU und deren dreiste Arbeitsverweigerung rein.
Und äffte mit ihm zusammen Laschet nach, der betrübt darüber sinnierte, dass die Inzidenzen im Frühling doch einfach mal hätten runtergehen können – und es doch überraschenderweise anders kam. „Voll lost, Alter!“, sekundierte ich und biss in meine Butterbrezel. Bis mich mein Handykalender daran erinnerte, dass der Kurzurlaub im Wutbürgerland bald vorbei ist. Und das ist vielleicht ganz gut so.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt