Propalästinensisches Camp an der FU: Ringen um Antworten
An der Freien Universität Berlin ist das Camp des Palästinakomitees bis in den Juli verlängert. Der Musiker Michael Barenboim kommt zu Besuch.
„Etwas, das uns ja oft blockiert, ist die Frage, was antisemitisch ist. Und wo Äußerungen eine Schmerzgrenze überschreiten, oder was – vielleicht auch je nach Sozialisation – noch aushaltbar ist“, sagt eine Anwesende. „Wir ziehen ja bei Rassismus oder Sexismus auch Grenzen.“ Barenboim berichtet in seiner Antwort von eigenen Erfahrungen als Jude, und dass es oft darum gehe, wer was sagt. „Wem wird Antisemitismus vorgeworfen? Da spielt oft auch Rassismus, besonders antipalästinensischer Rassismus hinein“, sagt er.
„Die falschen Leute definieren, was Antisemitismus ist“, wirft jemand aus der Runde ein, und meint damit, wie sich derzeit Politiker*innen der CDU oder auch AfD mit teils autoritären Forderungen als Vorreiter*innen im Kampf gegen Antisemitismus inszenieren. Auch bei anderen Diskriminierungsformen gäbe es Grauzonen, die „wir alle täglich erleben und aushalten“, wirft eine weitere Teilnehmerin ein.
Barenboim sagt mit Blick auf die Diskussion um verschiedene Antisemitismusdefinitionen, dass weder die IHRA-Definition noch die Jerusalem Deklaration dafür gedacht seien, sie in politische Aktionen zu überführen.
Auf der Wiese gegenüber der Pavillons stehen neun Zelte, davor hängen Banner, auf einem Whiteboard ist das Programm für den Tag aufgeschrieben. Das Camp steht seit vergangenem Donnerstag. Im Schnitt hätten etwa 15 Leute hier auch übernachtet, bei Veranstaltungen seien meist 20 bis 50 Personen anwesend, sagt Caro Vargas, FU-Studentin und Sprecherin vom Palästinakomitee FU, die das Camp organisieren.
Gegen Waffenlieferungen und für Umbenennungen
Die Student*innen, die sich in dem Camp zusammengefunden haben, fordern damit in erster Linie ein „Ende des Genozids, der Apartheid und Besatzung in Palästina“. Sie setzen sich für einen Stopp der Waffenlieferungen ein, wollen eine Zivilklausel an der FU verankern, die Forschung für militärische Zwecke verbietet. Sie sind gegen die IHRA-Definition von Antisemitismus. Sie wollen, dass die FU Stipendien für palästinensische Student*innen einrichtet und protestieren gegen Polizei auf dem Uni-Gelände und gegen den neu gefassten Paragrafen des Hochschulgesetze. Hintergrund war der Angriff eines FU-Studenten auf einen jüdischen Kommilitonen im Februar. Nun dürfen die Unis Student*innen wohl bald auch wegen Gewalt oder Androhung von Gewalt exmatrikulieren.
Auch der Henry-Ford-Bau soll umbenannt werden, neue Namensgeberin soll die Holocaust-Überlebende Esther Bejerano sein. Ihre Forderungen hätten sie in den ersten Tagen gemeinsam entwickelt, sagt Sprecherin Vargas. „Wir können nicht ruhig weiterstudieren, während ein Genozid stattfindet“, sagt sie. Stattdessen wollen sie eine Art Universität für alle. Das sei „ein Raum, wo Wissen produziert wird, auch über Palästina“, sagt sie.
Im Camp hat in der vergangenen Woche der Politikwissenschaftler Hajo Funke über Protestkultur gesprochen, die Gruppe Tesla stoppen kam für ein Panel zu Klimagerechtigkeit und Antikolonialismus. Auch Klasse gegen Klasse und Waffen der Kritik sind als Gruppen im Camp präsent. Platz hatten im Programm auch Gruppen wie Young Struggle und Zora, die nach dem 7. Oktober den Pogrom der Hamas als Befreiungsschlag feierten.
Camp-Sprecherin Vargas erklärt, dass sie weder die Forderungen noch Positionierungen kommentieren wollen. „Wir sind solidarisch mit allen vorherigen Uni-Besetzungen. Differenzen in den Forderungen und im Fokus sind das Ergebnis eigener Diskussionsprozesse“, sagt sie. Wichtig sei: „Am Ende kämpfen wir alle für die gleiche Sache: Ein Ende des Genozids.“
Instrumentalisierter Antisemitismus
Vargas betont auch: „Für uns gilt, dass wir gegen jede Form von Unterdrückung kämpfen und Antisemitismus auch sehr ernst nehmen.“ Es gäbe aber Kontexte, in denen Antisemitismus instrumentalisiert werde. „Es ist doch auffällig, wenn uns Antisemitismus vorgeworfen wird, er bei bestimmten Politikern als Jugendsünde gilt“, sagt Vargas.
In der Diskussion ermutigt Barenboim die Teilnehmer*innen, sich mehr Kenntnisse zu „zentralen Wissenslücken“ zum Israel-Palästina-Konflikt anzueignen. „Wir sollten uns nicht einreden lassen, es sei kompliziert“, sagt er – und empfiehlt, gezielt Abgeordnete anzuschreiben. Es sei wichtig, mehr über den Konflikt zu sprechen anstatt darüber, „wer wo steht“. „Die Fronten verhärten sich, niemand will der vermeintlich anderen Seite zuhören“, sagt eine Teilnehmerin. Doch genau dazu sollten die Universitäten eigentlich Raum geben.
Das Camp war zunächst für eine Woche geplant und genehmigt. Von der FU hieß es, das Camp sei bisher friedlich verlaufen und habe auch keine Auswirkungen auf den Lehrbetrieb gehabt. Wie das Palästinakomitee FU bestätigte, wollen sie bis mindestens zum 12. Juli im Camp weitermachen, bis dahin ist das Camp weiterhin als Versammlung angemeldet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Experten warnen vor Trump-Zöllen
Höhere Inflation und abhängiger von den USA
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?
Klimagipfel in Baku
Nachhaltige Tierhaltung ist eine Illusion