Priorisierung bei der Corona-Impfung: Eltern kommen ganz zum Schluss

Obwohl Po­li­ti­ke­r:in­nen viel von Kindern sprechen, tragen Familien die Hauptlast der Pandemie. Könnte es helfen, Eltern bevorzugt zu impfen?

Eine Mutter sitzt Zuhause neben ihren Kindern, während diese malen und ein Buch ansehen.

Eltern mit Kind leisten im Privaten systemrelevante Arbeit Foto: picture alliance/dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Mein sechsjähriges Kind hat bald einen Impftermin. Der Hausarzt hat sich gemeldet, jetzt soll es schnell gehen. Am Frühstückstisch rutscht es aufgeregt auf der Bank hin und her wie sonst nur, wenn es um den Besuch auf dem Reiterhof geht. „Wann denn, wann werde ich geimpft?“

Es geht um eine Tetanus-Auffrischung. Bis zu einer Corona-Impfung für Vor­schü­le­r:in­nen müssen wir wahrscheinlich bis zum kommenden Jahr warten. Aber die zappelnde Vorfreude auf eine Spritze macht mir klar, dass mein Kind verstanden hat: Eine Impfung, das ist so etwas Ähnliches wie ein Schokokuss. Etwas, das man unbedingt haben möchte.

Weil das zum Glück die Mehrheit der Menschen so sieht, diskutieren wir zu Recht darüber, wer zuerst geimpft wird. Personen, die besonders gefährdet sind. Personen, die besonders wichtig dafür sind, dass der Laden läuft. Als letztes dann: Der Rest.

Dieser Tage ist in der Frankfurter Rundschau ein sehr kluger Gastbeitrag der Soziologin Michaela Mahler erschienen, die erklärt, warum es unfair ist, Eltern, die keiner Risikogruppe angehören, einfach in die Schublade „Rest“ zu stecken. Schließlich leisten sie, wenn sie Kinder haben, die betreut werden müssen, im Privaten systemrelevante Arbeit.

Eltern, eine Sicherheitshülle für Kinder

Die Grünen-Bundestagskandidatin Laura Sophie Dornheim argumentiert, Eltern können – ähnlich wie geimpfte Kontaktpersonen von Schwangeren – mit ihrem Schutz einen Kokon bilden. Eine Sicherheitshülle für Kinder, die nicht selbst geimpft werden können. Mit der Zunahme der Mutation B.1.1.7 stecken sich Minderjährige stärker an und dabei treten zwar sehr seltene, aber zum Teil gravierende Spätfolgen auf.

Ich habe drei Kinder, sie sind drei, sechs und acht Jahre alt, und ich teile fast alle Gefühle und politischen Positionen, die hinter dem Hashtag #Elternimpfen stehen. Die Enttäuschung über die vielen Male, in denen Po­li­ti­ke­r:in­nen wie Scholz/Söder/Merkel/Kretschmann/Spahn/Laschet/Giffey darüber gesprochen haben, Kinder hätten oberste Priorität, ohne dass sich politische Taten daran messen ließen. Die Wut darüber, dass fehlende Wertschätzung für Care-Arbeit nur eine von vielen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten ist, die uns durch die Pandemie wie durch ein Brennglas vor Augen geführt werden.

Auch ich habe keine Kraft mehr. Dabei bin ich wahnsinnig privilegiert. Mit einem Job, der Homeoffice zulässt und zwei Erziehungsberechtigten im Haushalt. Aber ich will nie wieder zwei Arbeitstage zwischen 6.30 und 22 Uhr in einen viel zu langen Tag quetschen müssen. Ich will keine Kinder mehr trösten, die auf dem Teppich liegen und weinen, weil sie ihre Freun­d:in­nen vermissen.

Viele Kontakte heißt viel Quarantäne

Wenn wir Menschen, die besonders viele Kontakte haben, frühzeitig impfen, kann das Übertragungen verringern. Besonders Haushalte mit mehreren Kindern haben dementsprechend besonders viele Kontakte. Kita, Schule, Hort. Bei uns hieß das in der zweiten Welle: Erzieherin positiv, Hortkind positiv, wieder Erzieherin positiv, Nachbar positiv. Mit anderen Worten: Quarantäne, Quarantäne, Quarantäne.

Die Eltern als Über­trä­ge­r:in­nen zwischen Betrieben und Betreuungs-Orten aus den Infektionsketten zu nehmen, klingt nach einer guten Idee. Und es wäre in meinen Augen ein guter Schritt, wenn wir noch auf längere Sicht zu wenig Impfstoff hätten.

Aber so verlockend sich das anhört, so gerne man eine klare Forderung daraus ableiten möchte, so sind Diskussionen um Impfpriorisierungen kühl betrachtet momentan nicht der richtige Ansatzpunkt für einen politischen Kampf.

Alle dürfen sich anstellen

Am 7. April wurden 656.357 Impfdosen gespritzt, das sind fast doppelt so viele wie am Tag davor und an jedem anderen Tag bisher. Die Liefermenge nimmt zu und die Hausärzte helfen, sie auch zu nutzen. Deswegen hoffe ich, dass die Berechnungen kluger Menschen wahr werden und bald alles ganz schnell gehen kann. Das Wichtigste ist also: Tempo machen.

Es gibt in Deutschland 11,6 Millionen Familien mit Kindern. Zum Vergleich: Es gibt etwa 200.000 Grund­schul­leh­re­r:in­nen, die nachträglich priorisiert wurden. Wenn man Eltern vorziehen möchte ohne andere nach hinten zu schieben, müsste man sie innerhalb der letzten Gruppe besser stellen. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir diese Gruppe erreichen, wird es aber voraussichtlich bereits genügend Impfstoff geben, um allen Erwachsenen ein Impfangebot machen zu können. Wenn alles gut geht, erhalten im Frühsommer alle, die wollen und können, ihre erste Impfung.

Natürlich: Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen früher oder später kann für Eltern mit Kleinkindern den Unterschied zwischen Überforderung und Nervenzusammenbruch machen. Aber es könnte das Prozedere für alle verzögern, wenn zu einer Zeit, zu der man vielleicht schon ohne Termin und Berechtigungsbescheinigungen ins Impfzentrum gehen könnte, noch millionenfach Bedarf dokumentiert und geprüft werden muss. US-Präsident Joe Biden hat gerade verkündet, dass sich in den USA schon ab dem 19. April alle Erwachsenen in die Schlangen stellen können.

Keine Politik für AfD-Wähler:innen

Das Bedenken, jemand könnte vor der Zeit geimpft werden, hat schon in den letzten Wochen einige Prozesse undurchsichtig und kompliziert gemacht. Statt in mehr Detailregelungen, wer geimpft und nicht geimpft werden darf und wie das am sichersten kontrolliert wird, sollten wir Kraft in aufsuchende Arbeit stecken.

Damit kann am besten vermieden werden, dass nur die Informiertesten und Mobilsten drankommen. Gezielte Anrufe von Risikopersonen durch ihre Ärzt:innen. Impfaktionen an besonderen Orten (und damit meine ich nicht bayerische Unternehmenszentralen und auch nicht die Wohnungen unter 60-jähriger Abgeordneter, Herr Söder).

Der beste Schutz von Familien wäre gewesen, die Inzidenzen zu senken. Wenn die Ent­schei­de­r:in­nen nicht gegen den Rat fast aller Wis­sen­schaft­le­r:in­nen in die dritte Welle hinein geöffnet hätten. Eine viel zu späte aber nötige Erkenntnis wäre es jetzt, nicht weiter Politik für AfD-Wähler:innen zu machen. Laut ARD-Deutschlandtrend sind sie die einzige Gruppe, die einen härteren Lockdown für falsch halten.

Der tote Mensch auf dem Kinderbild

Mein 6-jähriges Kind hat ein Bild gemalt. Eine Liste von Themen, mit denen es sich auskennt. Jahreszeiten, Pflanzen, Tiere. Und Corona. Zu jedem Thema reihen sich Kästchen mit kleinen Bildern aneinander. Pferd, Wolf, Giraffe. Baum, Blume, Moos. Frühling, Sommer, Herbst. Bei Corona gibt es sieben Kästchen, mein Kind erklärt sie so beiläufig wir die Schneeflocke und die fallenden Blätter. „Eine Maske. Dann Menschen, die keinen Abstand halten – deswegen ist da ein Kreuz. Ein Coronavirus. Ein kranker Mensch. Ein toter Mensch. Und eine Fledermaus, weil Corona von den Fledermäusen kommt.“

Der kranke Mensch liegt auf einem Bett. Der tote Mensch liegt auf dem Boden.

In einer Nacht tapste das Kind auf die Toilette. Durch die halboffene Badezimmertür könnte ich hören, wie es lange die Hände wusch und dabei im Halbschlaf zweimal Happy Birthday summte. Es klang nicht traurig, es klang nicht fröhlich – es klang einfach herzzerreißend selbstverständlich.

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