Preise für Strom und Gas: Wie im Wettbüro
Die Gas- und Strommärkte sind außer Rand und Band. Es wird Zeit, eine neue Ära einzuläuten und sich von der Profitlogik der Branche zu verabschieden.
D er Stromanbieter hatte extra nochmal Druck gemacht. Das Unternehmen müsse den Vertrag unbedingt an diesem Tag unterschreiben, sonst würde es viel teurer als nötig, drängte er. Das zuständige Vorstandsmitglied setzte alles in Bewegung, damit es gelang – und wünschte sich im Nachhinein, es hätte nicht geklappt. Denn mit der Unterschrift wurde der Anbieter beauftragt, am nächsten Tag den benötigten Strom an der Energiebörse zu kaufen – zu dem dann geltenden Preis. Und das war der Jahreshöchstpreis. Das Unternehmen soll nun statt 100.000 rund 700.000 Euro im Jahr für Strom zahlen. Zwei oder drei Tage später wäre es erheblich billiger gewesen.
Auf dem Energiemarkt geht es mitunter zu wie im Wettbüro. Ob Strom oder Gas – die drastisch gestiegenen Preise verunsichern die Verantwortlichen in Unternehmen genauso wie private Verbraucher:innen, deren Abschlagszahlungen für Strom und Heizwärme drastisch erhöht wurden. Sie fühlen sich einem Markt ausgeliefert, dessen Untiefen sie kaum erkennen können.
Gas und Strom sind keine Produkte wie Büromaterial, Milch oder Klopapier, sie sind nicht auf Vorrat lagerbar. Gleichzeitig ist Strom unverzichtbar, für jede:n einzelne:n und für die Gesellschaft als Ganzes. Wer mit Gas kocht oder heizt, ist darauf ebenso angewiesen wie Unternehmen, die es als Rohstoff oder Energieträger brauchen.
Der Staat ist dafür verantwortlich, dass die Versorgung gesichert ist. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht es als „Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges“ bezeichnet, das zu gewährleisten. Aber angesichts der Kapriolen auf den Energiemärkten stellt sich die Frage, ob der Staat dem noch gerecht wird. Wenn der Energieeinkauf zum Glücksspiel wird, läuft etwas gewaltig schief.
Der Energiemarkt ist extrem schwer zu durchschauen
Die Energiekosten sind schon vor dem Überfall auf die Ukraine stark gestiegen, weil die Wirtschaft auf der ganzen Welt nach der Corona-Krise viel schneller und stärker wieder angesprungen ist als erwartet. Nach Beginn des Krieges sind die Preise explodiert. Bislang haben sich die wenigsten Privatleute mit den Preisen im Detail beschäftigt. Der Energiemarkt ist auch außerhalb von Krisen extrem schwer zu durchschauen, Vertragsänderungen sind mit Bürokratie verbunden.
Nachdem die Bundesregierung auf die Krise reagiert hat und sogenannte Preisbremsen einführen will, gibt es immerhin eine Hausnummer, was künftig ein guter Preis ist: Beim Strom soll die Preisbremse bei 40 Cent pro Kilowattstunde liegen, beim Gas bei 12 Cent pro Kilowattstunde. Der Staat übernimmt bis April 2024 für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs von Privathaushalten und kleineren Firmen die Kosten der Differenz zwischen Preisbremse und Marktpreis. Wer mehr verbraucht, muss dafür den höheren Marktpreis zahlen. So sollen die Bürger:innen zum Energiesparen animiert werden.
Mit Einführung der Preisbremsen wird es drei Gruppen von Verbraucher:innen geben: Erstens die, die damit irgendwie klar kommen. Zweitens jene, die trotz dieser Hilfe aufgrund der hohen Energiepreise vor einem finanziellen Fiasko stehen. Und Drittens gibt es diejenigen, die einen Energieanbieter mit so günstigen Preisen haben, dass bei ihnen nicht gebremst werden muss. Für diesen Kreis ist das Glücksspiel gut ausgegangen. Von Ausnahmen abgesehen werden die meisten dieser Kund:innen nicht deshalb einen günstigen Anbieter haben, weil sie ihn unter dem Gesichtspunkt einer kommenden Energiekrise ausgesucht haben. In den häufigsten Fällen wird es schlicht Zufall sein.
Viele Menschen haben ihren Energieversorgungsvertrag seit vielen Jahren nicht angefasst, auch weil ihnen der Markt mit den unzähligen Anbietern viel zu kompliziert ist. Diese Intransparenz ist die Geschäftsgrundlage für Vergleichsportale im Internet. Noch vor kurzem sind Drückerkolonnen etwa in Technikmärkten auf Kund:innen losgegangen, um sie mit Prämien zu einem Wechsel zu einem Billiganbieter zu bewegen. Für Laien ist kaum zu durchschauen, welche Konsequenzen das haben kann.
Überrascht mussten Kund:innen etwa zur Kenntnis nehmen, dass ihr bisheriger Billiganbieter den Vertrag gekündigt hat und sie nur zu sehr hohen Tarifen einen neuen finden konnten. Billiganbieter zocken etwa an den Energiebörsen. Ihr Geschäftsmodell ist, auf günstige Preise zu warten und der Konkurrenz mit langfristigen Verträgen und höheren Kosten die Kund:innen abzujagen. Verspekulieren sie sich, müssen Verbraucher:innen das ausbaden.
Mit dem neoliberalen Zeitgeist kam die Privatisierung
Noch vor einem Vierteljahrhundert konnte das nicht passieren. Bis dahin gab es sogenannte Gebietsmonopole für die Energieversorgung. Strom konnten Verbraucher:innen nur über das örtliche Elektrizitätswerk beziehen, das für sie zuständig war. Diese Unternehmen, in der Regel die kommunalen Stadtwerke, hatten ein festgelegtes Versorgungsgebiet. Sie stellten Strom entweder selbst her oder bezogen ihn von Großkraftwerken, mit denen sie langfristige Lieferverträge hatten. Die schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl brachte 1997 die sogenannte Strommarktliberalisierung auf den Weg, mit der die Monopole durch Märkte ersetzt wurden.
Deregulierung und Privatisierung waren seinerzeit – dem neoliberalen Zeitgeist geschuldet – in vielen Branchen auf der Tagesordnung. Das war nicht nur ideologisch motiviert, die Industrie machte Druck. Der Chemiekonzern BASF etwa beschwerte sich bei der EU-Kommission, weil das Unternehmen gezwungen war, den vergleichsweise teuren Strom ihres Versorgers zu zahlen und es nicht den für den Abnehmer billigeren Atomstrom aus Frankreich kaufen konnte.
Die Liberalisierung des Gasmarktes erfolgte einige Jahre nach der des Strommarktes. Unzählige Firmen entstanden, die an verschiedensten Stellen der Versorgungskette Geld verdienen. Das Versprechen sinkender Strompreise erfüllte sich auch aufgrund diverser neuer Abgaben für Privathaushalte nicht. Die Gaspreise gaben zunächst leicht nach, weil die Beschaffungskosten sanken, seit 2021 steigen sie enorm.
Weil Strom und Gas nicht wie Kartoffeln oder Milch gehandelt werden können, war die Liberalisierung von Anfang an stark reglementiert. Energie kommt über Leitungen ins Haus, und die sind nicht beliebig verlegbar. Deshalb werden die vielen hundert Netzbetreiber gesetzlich dazu gezwungen, die Energie der Konkurrenz durchzulassen – gegen eine Gebühr. Ein komplexes Geflecht von Regeln soll den Wettbewerb und gleichzeitig die Versorgungssicherheit gewährleisten.
Energieerzeugung muss geplant werden
Diese Balance zu halten, ist teuer. Das mittlerweile wohl bekannteste Beispiel ist die sogenannte Merit-Order: Der Preis für alle Erzeuger hängt von dem teuersten Kraftwerk ab, das Strom produziert. Wegen des hohen Gaspreises sind das zurzeit Gaskraftwerke. Das Problem: Auf dem Energiemarkt können sich Angebot und Nachfrage nicht selbst ausbalancieren, denn dann wäre die Versorgungssicherheit in Gefahr.
Energieerzeugung muss geplant werden. Wird ein Kraftwerk erst hochgefahren, wenn der Bedarf gerade steigt, ist es zu spät. Stromerzeuger melden deshalb ihre voraussichtliche Produktion bei den Verantwortlichen für das jeweilige Stromnetz an. Ist zum Beispiel wegen starken Windes viel Windenergie zu erwarten, werden Kohle- oder Gaskraftwerke heruntergefahren. Oder es werden Windanlagen gestoppt, weil es viel Atomenergie gibt.
Die EU und auch die deutsche Regierung wollen eine Reform des sogenannten Energiemarktdesigns. Ihnen ist klar, dass die jetzigen Mechanismen nicht gut funktionieren. An einem wollen sie aber unbedingt festhalten: am Marktprinzip. Doch das ist absurd angesichts eines Pseudomarktes, der durch eine ganze Reihe staatlicher Interventionen erst künstlich geschaffen wird. Die Konstruktion begünstigt Spekulation. Die Energieversorgung ist aber viel zu wichtig, um sie Zockerbuden zu überlassen, die sich als Vertriebsgesellschaften bezeichnen. Niemand braucht Unternehmen, die gar keine Energie erzeugen, Strom und Gas aber mit hohen Gewinnmargen verkaufen.
Das sind die negativen Folgen der Liberalisierung Ende der 1990er Jahre. Die war allerdings nicht nur schlecht: Ohne sie wäre es kaum möglich gewesen, erneuerbare Energien im großen Stil voranzubringen. Die damaligen Manager der Branche waren völlig auf Kohle- und Atomenergie fixiert, sie brauchten Druck von außen. Heute ist die Lage anders, die einstige Blockadehaltung der Branche hat sich weitgehend aufgelöst. Die breite Mehrheit in Gesellschaft und Wirtschaft ist zu einer Abkehr von fossilen Energien bereit. Jetzt ist es an der Zeit, sich von der alten Liberalisierungsideologie zu lösen und eine neue Ära der Energieversorgung einzuleiten.
Staatliche Eingriffe als Chance
Dass die großen Player wie Uniper oder das Nachfolgeunternehmen der deutschen Gasprom-Tochter, SEFE, ins Schlingern geraten sind und vom Staat aufgefangen werden, ist eine große Chance. Der Gashandelskonzern VNG ist bereits in öffentlicher Hand. Der Staat sollte sich nicht nur finanziell engagieren, sondern in die Geschäftspolitik eingreifen. Er kann seine neuen Spielräume nutzen, um die Energiewende zu forcieren.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Der Staat muss nicht generell selbst zum Versorger werden. Aber er muss nicht-gewinnorientierte Unternehmensformen fördern, etwa Energiegenossenschaften. Vor allem muss er andere Prioritäten setzen: Statt um das Ausbalancieren von Wettbewerb und Versorgung muss es um den Dreiklang von Energiesicherheit, Klimaschutz und Bezahlbarkeit gehen. Deshalb ist nicht nur der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien wichtig, sondern auch eine neue Preispolitik, etwa die Einführung von Sozialtarifen für Strom und Wärmeenergie.
Denn es geht um viel mehr als das Abfedern der aktuellen Krise. Die Energiewende weg vom Fossilen ist angesichts der Klimakrise unausweichlich, und sie wird sehr teuer. Wer hier auf die unsichtbare Hand des Marktes setzt, wie es nicht nur die FDP tut, riskiert das Scheitern der Energiewende. Die vielen Milliarden Euro an Gewinnen, die in der Branche anfallen, fließen eben nicht vorwiegend in neue klimafreundliche Anlagen und sie werden erst recht nicht zur Dämpfung der Preise verwendet. Und die werden weiter klettern.
Der Strombedarf wird in Zukunft enorm steigen
Denn der Strombedarf wird trotz mehr Effizienz und Sparsamkeit in Zukunft enorm steigen, gerade durch die Abkehr von fossilen Energien. Nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey wird sich die Stromnachfrage global bis 2050 voraussichtlich verdreifachen. Das ist eine enorme Herausforderung.
Die dezentrale Stromproduktion und Selbstversorgung von Privathaushalten und Unternehmen ist eine der wichtigsten Stellschrauben, um das zumindest ansatzweise zu bewältigen. Technisch ist heute sehr viel mehr möglich als im Normalbetrieb und Alltag genutzt wird. Dass sich Privathaushalte komplett selbst mit Strom und Wärme versorgen und damit auch ihr E-Auto laden, ist keine Utopie.
Staat und Energiebranche machen es privaten Verbraucher:innen und Unternehmen aber mit einem Wirrwarr von Vorschriften und Gängeleien immer noch zu schwer. Damit sollten sie schleunigst aufhören. Gerade jetzt in der Krise sind so viele wie nie zuvor bereit, ihre Energieversorgung selbst in die Hand zu nehmen. Damit sie das können, muss dem Energiemarkt die Profitlogik entzogen werden. Wer anderen für viel Geld Energie verkaufen will, wird sie nicht dabei unterstützen, Strom selbst zu erzeugen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner