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Postsowjetische UngerechtigkeitDas Chaos exportieren

Gastkommentar von Alexey Sakhnin

Korruption und wirtschaftliche Stagnation schüren den Unmut in Ex-UdSSR-Staaten. Der Krieg soll Russland vor einer inneren Explosion bewahren.

99,99-prozentige Goldbarren in Russland: Die reichsten 10 Prozent haben ihren Reichtum meist geerbt Foto: Ilya Naymushin/reuters

D er Krieg in der Ukraine wurde nicht durch die geopolitische Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, sondern durch die Struktur der postsowjetischen Gesellschaft selbst unvermeidlich. Die Herrschenden in Russland hatten keinen anderen Ausweg aus der Sackgasse, in die sie geraten waren. Im November 2021 veröffentlichte Wladislaw Surkow, einer der Hauptarchitekten des Putin-Regimes, einen Artikel, in dem er feststellte, dass die einzige Möglichkeit, Russland vor einer inneren Explosion zu bewahren, darin bestehe, das Chaos nach außen zu exportieren.

Das postsowjetische Russland hat sich in den 30 Jahren seines Bestehens zu einer Kastengesellschaft entwickelt. Dieser Wandel begann mit der Schocktherapie und der kriminellen Privatisierung in den 1990er Jahren, die den nationalen Reichtum in den Händen einer kleinen Oligarchie konzentrierte. Unter der Herrschaft Putins wurde die soziale Ungleichheit weiter befestigt. Die unantastbaren Spitzenbeamten geben ihre Macht de facto durch Vererbung weiter.

Der Sohn des Chefs des Sicherheitsrats Nikolai Patruschew, Dmitri, ist Landwirtschaftsminister. Der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten und Direktors des Auslandsgeheimdienstes, Michail Fradkow, ist stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung. Es gibt Hunderte solche Beispiele. Soziale Mobilität gibt es kaum noch. Untersuchungen zeigen, dass die reichsten 10 Prozent der russischen Stadtbewohner in 70 Prozent der Fälle ihren Reichtum von ihren Eltern geerbt haben.

Eine solche Sozialstruktur macht wirtschaftliches Wachstum unmöglich. Das durchschnittliche BIP-Wachstum betrug in den 2010er Jahren weniger als ein Prozent pro Jahr. Die Einkommen der Bevölkerung sind seit 2014 rückläufig. Dies führte zu wachsendem Unmut, vor allem unter den jungen Menschen, die keine Zukunft in einem Land sehen, das in feudale Archaik verfallen ist.

Bild: Vladimir Andreyev
Alexey Sakhnin

war von 2011 bis 2013 führender Aktivist der Anti-Putin-Protestbewegung. Er lebte 6 Jahre im schwedischen Exil, kehrte aber zurück, um seinen Kampf fortzusetzen. Sakhnin ist Mitglied des Progressive International Council und der Socialists Against War.

Alle Versuche, eine autoritäre Modernisierung nach chinesischem Vorbild voranzutreiben, scheiterten, weil sie die etablierte Verteilung von Macht und Reichtum, die Kontrolle über die wichtigsten Güter des Landes, untergruben. Der Staatsapparat hatte nur einen Zweck: die Erträge aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen der alternden Oligarchie zu halten.

Teure Bestechung

Um diese Aufgabe zu bewältigen, bestach der Kreml systematisch Eliten auf allen Ebenen. Die Korruption verschlang jährlich Summen, die vergleichbar mit dem gesamten russischen Haushalt sind. Das Ausmaß wurde deutlich, als Hunderte Millionen Rubel und zahlreiche Wertgegenstände aus dem Palast des ehemaligen Gouverneurs der Region Pensa, Iwan Belosertsew, entwendet wurden.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski beschrieb, dass Moskau in den Nachbarländern mit den gleichen Methoden um Einfluss ringt. Putins Entourage hat ukrainische Oligarchen, Regionalpolitiker und Vollzugsbeamte korrumpiert. Doch die wirtschaftliche Stagnation schränkte die Möglichkeiten des Kremls ein, sich Loyalität zu erkaufen. Konflikte zwischen Putins engsten Oligarchen und regionalen „Baronen“ traten an die Oberfläche.

Die Verhaftung des Gouverneurs von Chabarowsk, Sergei Furgal, löste die Massenproteste im Jahr 2020 aus. Infolge der Pandemie gerieten die regionalen und lokalen Haushalte endgültig aus dem Gleichgewicht. Der drohende Bankrott der Regionen untergrub die Loyalität der lokalen Eliten. Die belarussische Krise 2020 hat gezeigt, dass der Kreml den Wettbewerb um Einfluss in den postsowjetischen Ländern verliert.

Partei des Krieges

Viele belarussische Diplomaten und Beamte, darunter einer der Gouverneure, unterstützte daraufhin die Opposition. Um an der Macht zu bleiben, musste Alexander Lukaschenko mit blankem Terror gegen die Demonstranten vorgehen. Russland stationierte seine Truppen entlang der belarussischen Grenze, um seine Bereitschaft zu demonstrieren, mit Gewalt die Kontrolle über das Land zu behalten.

Um die Loyalität der „Vasallen“ im In- und Ausland aufrechtzuerhalten, bediente sich Russland nicht nur der üblichen Korruption, sondern zunehmend auch der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Es bildete sich eine „Partei des Krieges“, die den Ausweg aus der Sackgasse darin sah, den Westen dazu zwingen, den „politischen Markt“ der postsowjetischen Länder zu verlassen. Die nach außen gerichtete Gewalt erschien als das perfekte Mittel, um Unruhen innerhalb Russlands zu verhindern.

Das wahre Fleisch und Blut des Putinismus sind jene 100.000 reichen Russen mit Vermögen von mehr als 2 Millionen Euro

„Die soziale Entropie ist sehr giftig“, so schrieb Wladislaw Surkow. „Sie muss exportiert und im Ausland entsorgt werden.“ Wenn der Blitzkrieg gelungen wäre, hätte die Putin-Oligarchie ein paar Jahre Friedhofsruhe genießen können. Doch der „Entropieexport“ ist gescheitert. Aber für die „Partei des Krieges“ gibt es keinen Weg zurück. Diese Leute in der Armee, im Geheimdienst und im Propagandaapparat werden alles durch den Frieden verlieren. Und jeder Tag des Gemetzels stärkt ihre Position innerhalb des Machtapparats.

Die „Partei des Krieges“ ist keine zufällige Koalition von verrückten Nationalisten. Sie ist das zwangsläufige Produkt einer Gesellschaft der unbeweglichen Ungleichheit. Das wahre Fleisch und Blut des Putinismus sind jene 100.000 reichen Russen mit Vermögen von mehr als 2 Millionen Euro, das sie sicher in Residenzen in Westeuropa verwahren. Sie sind es, die – mit der vollen Unterstützung der westlichen Regierungen – das Putin-Regime geschaffen haben und nun weiterhin das tägliche Funktionieren der Diktatur sicherstellen.

Solange Russland zu diesem gesellschaftlichen Monster gehört, wird der Krieg niemals enden. Die herrschende Kaste wird in der Gewalt einen Ausweg aus der Sackgasse suchen. Um diese Bestie ihrer Macht und ihres Reichtums zu berauben, ist auch der Westen gefragt.

Aus dem Englischen von Jan Schroeder

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9 Kommentare

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  • @MACHIAVELLI, @INGO BERNABLE

    Ja, klar. Dennoch: IWF und ihresgleichen setzen, aus ihrem Tunnelblick heraus, genau die falschen Prioritäten. Nicht "zuviel oder zu wenig" ist die Frage,

    Sondern gekoppelt an Policies, die verhindern, dass 40% der Bevölkerung innerhalb von Jahren unter die Armutsschwelle fällt.

    Dass IWF ein Wiederholungstäter aus Überzeugung ist können wir ganz aktuell in Argentinien sehen. Ich brauche wohl nicht die ganze entsetzliche Geschichte der Versagen neu aufrollen.

    Aber ich will auch nicht auf dem IWF herumhauen: es ist nur der sichtbare Auswuchs aus einer kranken Ideologie, aus deren Verwesung diese Monster wiederum herauswachsen.

  • eine aufschlußreiche ...

    analyse und aufklärung.

    gewiefte kleptokraten können sich gewalt kaufen. und genau das tun sie auch. sie mögen sie nach innen richten oder nach aussen. je danach, was das eigene ziel am besten schützt.

    doch es gilt auch das wort von heinrich von kleist:



    der krug geht so lang zu wasser, bis er bricht.



    oder johann wolfgang von goethe: allzu stark gespannt zerbricht der bogen.



    oder: mit den schicksalsmächten ist kein e'wger bund zu flechten. denn das unglück schreitet schnell.

    die alten wußten es.

    und auch wallenstein erlebte kein rühmliches ende.

  • Den Drang nach mehr Freiheit, wie er von den Frauen aus Belarus auf die Strasse getragen wurde, zu verhindern. ist die wahre Ursache für Putins Krieg. Es geht ihm um Machterhaltung im Innern und Abschottung von allen Demokratisierungstendenzen, wie sie im Maidan zum Ausdruck kamen. Das Hauptmotiv für die Unterstüzung aus dem Westen in der Ukraine, in Polen oder Ungarn ist eher auch dem Globalisierungsdrang zum Beispiel von US-Interessenten geschuldet. Auch bei Schröders Gas-Deal ging es ja auch nicht unbedingt um die Durchsetzung der Menschenrechte zwischen Minsk und Wladiwostok, sondern eher um gute 'geschäftliche' Beziehungen, Rohstoffe von dort und freier Marktzugang nach Osten. Erst im Krieg wird deutlich, dass sich ein Regime nicht halten kann, wenn es nicht minimale Zugeständnisse zum Beispiel in der Koalitionsfreiheit und der Meinungsfreiheit, um diese durchzusetzen, erlauben kann. (Anmerkung: Und auch das wird ja am Beispiel der Rohstoffkrise jetzt deutlich: 'Freiheit' hat auch etwas mit einer funktionierenden Wirtschaft und (minimalem?) 'Wohlstand' und der zu großen Abhängigkeit von Globalisten und ihren Lieferketten zu tun, wenn es auch in den westlichen Systemen Widerspruch a' la Trump oder Le Pen gibt.

  • Ich finde die Argumente auch überzeugend.

  • Danke für die klarsichtige Analyse.

    Sie kann und will nicht den Anteil des Westens berücksichtigen.

    Ohne den Anteil der postsowjetischen Kleptokratie oder die kriminelle Energie Putins Blase im geringsten kleinreden zu wollen denke ich aber, dass es für "uns Westler" wichtig wäre, den Anteil des arroganten Wirtschaftsliberalismus mitzudenken. Vielleicht, damit das nicht noch einmal passiert. Hier zwei [1] [2] Einstiege.

    Ich wiederhole: das ändert nichts daran, dass Russlands Angriffskrieg widerlich und brutal ist. Auch nichts daran, dass es wahrscheinlich richtig ist, der Ukraine auch militärischen Beistand zu leisten (vielleicht sind wir zu feige?).

    Aber wir hätten es kommen sehen sollen. Wir lassen es immer wieder kommen. Die menschenverachtenden Policies des IWF et al spülen geradezu diese dreckigen Populisten an die Macht.

    [1] en.wikipedia.org/w...omics)#Post-Soviet



    [2] en.wikipedia.org/w..._(1991%E2%80%9398)

    • @tomás zerolo:

      Wobei man schon fragen muss wie in einem so korrupten und dysfunktionales System überhaupt Reformen hätten funktionieren können? Klar die neoliberale Verkaufsstrategie hat es den korrupten Eliten einfach gemacht, aber ein Zusammenbruch als Nachwirkung des Sovietsystems war glaube ich unvermeidlich man sollte sich vielleicht eher fragen warum es die baltischen Staaten so gut geschafft haben sich weiterzuentwickeln.

    • @tomás zerolo:

      Nun ist aber für die ökonomischen Probleme der post-sowjetischen Staaten in den 90ern nicht der IWF verantwortlich. Ebenfalls würde ich auch schon noch berücksichtigen, dass diese Probleme in anderen post-sowjetischen Staaten eben keine "dreckigen Populisten" an die Macht brachten. Zumal die Vorwürfe die ihre Quellen dem IWF machen, meiner Lesart nach auch eher widersprüchlich sind:



      [1] "Sachs has also criticized the U.S. and the IMF for not providing large-scale financial aid to Russia"



      [2] "In the 1990s Russia was "the largest borrower" from the International Monetary Fund, with loans totaling $20 billion. The IMF was criticised for lending so much, as Russia introduced little of the reforms promised for the money"



      Bestanden die ihrer Meinung nach "menschenverachtenden Policies" des IWF nun also darin zuviel oder zu wenig Kredite an Russland vergeben zu haben?

  • Im Artikel bzw. in der Argumentation des Autors gibt es Ungereimtheiten. Dass der Brachialkapitalismus, der mit Jelzin kam damals und auch danach verheerend für den größten Teil der Bevölkerung war, ist eine Binsenweisheit. Trotzdem ist in Russland die soziale Mobilität größer, als in manchem EU Land. Die USA liegen im Ranking nicht weit entfernt und das im Artikel als Vorbild dargestellte China liegt sogar hinter Russland. Leider habe ich nirgends eine halbwegs vollständige Rankingliste gefunden (Ukraine hätte mich interessiert) aber „der Standard“ bietet immerhin einen groben Überblick.



    www.derstandard.de...-sozialen-aufstieg

  • Ich hatte hier vor einer Weile mal nach einer schlüssigen Analyse gefragt, die versucht die eigentlichen Kriegsursachen zu benennen.



    Danke für diesen Artikel.