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Postkoloniale Theorie und AntisemitismusDie dunkle Kehrseite

Jens Kastner
Essay von Jens Kastner

Die Postcolonial Studies stehen seit dem 7. Oktober wieder verstärkt in der Kritik. Die Frage ist, wie antisemitisch sie sind. Eine Analyse.

Dekolonialisieren mit Palituch auf der „Decolonize Universities“-Demo, 20. 12. 2023, UdK, Berlin Foto: Piotr Pietrus

D ie Postcolonial Studies in Gänze des Antisemitismus zu bezichtigen, ist ziemlich absurd. Viel zu heterogen und divers sind die Ansätze, die sich seit den letzten dreißig bis vierzig Jahren unter diesem Label tummeln. Die unter dem Sammelbegriff subsumierten Bücher, Aufsätze und Polemiken umfassen literatur- und sozialgeschichtliche, gesellschaftstheoretische und aktivistische Ansätze, die aus verschiedenen Weltregionen stammen.

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Ihre Perspektiven sind so transnational wie transdisziplinär, umfassen Literatur- und Sozialwissenschaften, Geschichte und politische Ökonomie und fußen auf unterschiedlichen Mischungen von marxistischen und poststrukturalistischen Grundannahmen.

Gemeinsam ist ihnen sicher nicht der Antisemitismus, was sie eint, ist vielmehr der Versuch, die koloniale Beschaffenheit von Geopolitik und Sprache, Gesellschaft und Wissensproduktion zu erforschen. Das Präfix „post-“ bezeichnet dabei nicht einfach die Zeit „nach dem Kolonialismus“, sondern es stellt die Frage nach Kontinuitäten kolonialer Herrschaft: in der ökonomischen Ausbeutung, wie die Dependenztheorien der 1960er und 70er Jahre sie analysiert haben, in der kulturellen Unterordnung, wie die South Asian Subaltern Studies um den Historiker Ranajit Guha sie beschrieben haben, in der Wissensproduktion, wie Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak sie herausgearbeitet haben.

Massiv in der Kritik

Die Postcolonial Studies haben wichtige Beiträge zum Verständnis der Moderne und ihrer dunklen Kehrseite, des Kolonialismus, geliefert. Angesichts des globalen Ausmaßes der europäischen Kolonialgeschichte erscheint ein solcher Fokus mehr als angebracht. Umso bitterer, dass die Postcolonial Studies ausgerechnet in dem Moment über das wissenschaftliche Feld hinaus Bekanntheit erlangen, als sie massiv in der Kritik stehen.

Die Vorwürfe des Antisemitismus wurden schon während der Debatte um einen Auftritt des Kameruner postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe diskutiert und während der documenta fifteen erneuert. Sie sind nicht gänzlich unbegründet.

Denn es gibt sie, die antisemitischen Aspekte in den Schriften der post- und dekolonialistischen Theorie, und sie gehen erstens oft mit einer Ausblendung der Shoah einher, sowohl für die Idee der Moderne als auch für die Entstehung des Staates Israel. Zweitens wird nicht selten der Terror des Islamismus unterschätzt oder gar bagatellisiert.

Politisch motivierte Übertragung

Gayatri C. Spivaks langer Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ (1988) gehört zu den kanonisierten Texten der Postcolonial Studies. Darin führt sie die von Antonio Gramsci aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten der Ausgegrenzten fort, sich Gehör zu verschaffen. Sie diskutiert das Beispiel der jungen Frau Bhuvaeswari Bhaduri, die sich 1926 sechzehn- oder siebzehnjährig das Leben nahm.

Attentäterinnen eröffnen Spivak eine Perspektive antikolonialen Widerstands

Die junge Inderin brachte sich um, stellte aber sicher, dass ihr Suizid nicht als Folge „einer verbotenen Leidenschaft“ interpretiert werden konnte. So erlangte sie im Tod noch Handlungsmacht. Spivak will die Tat politisch gelesen wissen, als Statement zum Widerstand.

In einer Relektüre ihres Textes überträgt sie 2014 ihr Beispiel dann auf eine Situation, die sie für die gegenwärtig frappierendste kolonialer Herrschaft hält: die Situation in Israel und Palästina. Sie schreibt über palästinensische Selbstmordattentäterinnen und plädiert für ein Verständnis im doppelten Sinne: Sie möchte verstehen, aber auch Verständnis im Sinne von Empathie schaffen. Denn in beiden Fällen ginge es um „das Bedürfnis, die Normalität kollektiv zu verändern“.

Dass die Attentäterinnen nicht nur Suizid, sondern auch Morde begehen, erscheint Spivak nicht nur nachvollziehbar. Sie eröffnen ihr eine Perspektive des antikolonialen Widerstands, die sie für nicht weniger interessant hält als das Beispiel von Bhaduri. Morde an Menschen wohlgemerkt, die vor allem deshalb umgebracht werden, weil sie Jüdinnen und Juden sind. Eine solche Bagatellisierung islamistischen und antisemitischen Terrors ist kein Einzelfall.

Dekolonisieren mit Chomeini?

Der argentinische Literaturwissenschaftler und dekolonialistische Theoretiker Walter D. Mignolo spricht sich in seinem Buch „Epistemischer Ungehorsam“ (2006, Dt. 2012) für eine Loslösung vom „westlichen Denken“ aus. Die europäischen Theorien der Befreiung seien dafür nicht ausreichend, sie hätten den Kolonialismus nicht wirklich mitgedacht.

Ist das in vielen Fällen wohl zutreffend, muss die Auswahl der Denker:innen, die Mignolo dann als Gewährsleute für seine dekoloniale Option heranzitiert, doch irritieren. Dazu gehören nämlich nicht nur linke Antikolonialisten wie Aimé Césaire und Frantz Fanon. Zu den Denkern, die die „Dekolonialität klar formuliert“ hätten, zählt Mignolo in einer Nebenbemerkung auch den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini.

Chomeini ist bekanntlich für die Inhaftierung Zehntausender und die Exekution von Tausenden Geg­ne­r:in­nen der Islamischen Revolution verantwortlich. Mehrfach hatte er Israel als „Krebsgeschwür“ bezeichnet und zu dessen Vernichtung aufgerufen.

Wüste Verschwörungstheorien

Ein weiterer dieser „islamischen Denker“, auf die Mignolo sich en passant beruft, ist Sayyid Qutb (1906–1966). Der islamistische Theoretiker hatte die ägyptische Muslimbrüderschaft stark beeinflusst und in seinem Pamphlet „Unser Kampf mit den Juden“ (1950) wüste Verschwörungstheorien verbreitet.

Diese gipfeln in der Behauptung, „Allah hat Hitler gebracht, um sie [die Juden] zu beherrschen“. Chomeini und Qutb spielen im Werk Mignolos, das muss zu seiner Verteidigung betont werden, ansonsten keine Rolle. Umso mehr muss es daher verwundern, dass er deren Schriften neben anderen dekolonialen Perspektiven als entscheidend „für die Entwürfe einer globalen Zukunft“ einstuft.

Mit Spivak und vielen anderen antiimperialistischen Linken teilt Mignolo die Einschätzung vom kolonialen Charakter Israels. Die Entstehung des Staates Israel beschreibt er als Effekt der Anbindung säkularer Jüdinnen und Juden an euro-amerikanische, politische und ökonomische Praktiken, kurz den „imperialen Kapitalismus“. Die Shoah taucht in dieser Erzählung nicht auf.

Deutlich weiter geht der puertorikanische Soziologe Ramón Grosfoguel, der wie Mignolo ebenfalls der dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika zuzurechnen ist. Für ihn sind die Jüdinnen und Juden nicht einfach nur weiße Imperialist:innen. Vielmehr stünden die jüdischen Israelis für die Kontinuität einer „kolonial rassistischen Ideologie“. Der „Hitlerismus“ sei zurück, und zwar dieses Mal, um Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen zu jagen.

Relativierung von Terror

Anders als bei Spivak und Mignolo muss man bei Grosfoguel nicht lange heruminterpretieren: Er unterstützt die „Boycott, Divestment, Sanctions“-Bewegung, hält Israel für einen „rassistischen/kolonialen Staat“ und behauptet, dieser betreibe seit 1948 eine „ethnische Säuberung“. In einem Text vom 1. Februar dieses Jahres, veröffentlicht auf der Seite der „Islamic Human Rights Commission“, nennt er Gaza das „Warschauer Ghetto des 21. Jahrhunderts“ und behauptet, die Hamas habe am 7. Oktober vor allem das israelische Militär und nicht Zi­vi­lis­t:in­nen attackiert.

Selbst Edward Said übrigens, der palästinensische Intellektuelle, der mit seiner Studie „Orientalism“ (1978) die Postcolonial Studies mitbegründet hatte, hat sich zu solch einer Relativierung islamistischen Terrors nie hinreißen lassen. Er bedauerte die Interpretationen seines Werkes, die dieses als „eine Art Bekenntnis zu nationalistischem Eifer“ missverstanden hätten.

Er wandte sich auch gegen die „vermeintlich antiwestliche Stoßrichtung“, die „Orientalism“ in der Rezeption nachgesagt wurde. Allerdings hatte auch er in „The Question of Palestine“ (1979) die fragliche Gleichsetzung von Jüdinnen und Weißen nahegelegt. Die zionistischen Siedler in Palästina hätten sich zu einer Analogie der „weißen Siedler in Afrika“ verwandelt.

Doch Jüdinnen und Juden als Weiße zu klassifizieren, leugnet nicht nur die Kontinuität des Antisemitismus. Es wird auch einem ureigenen Anspruch der Postcolonial Studies nicht gerecht, der diese über die Jahrzehnte geprägt hat: die niemals statische Heterogenität und Hybridität kollektiver Identifizierungen herauszuarbeiten.

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Jens Kastner
Soziologe & Kunsthistoriker
Jens Kastner, Jg. 1970, schreibt zu Kultur- und Sozialtheorien, Kunstkritik und Latin American Studies. Zuletzt erschien von ihm "Die Linke und die Kunst. Ein Überblick" (Münster 2019, Unrast Verlag).
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13 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Tatsache ist, daß es so etwas wie Kolonialismus in der Menschheitsgeschichte immer gegeben hat, bis heute.

    Spanien war zum Beispiel im neunten Jahrhundert von arabischen Eroberern besetzt.

  • Die 'postkolonialen Ergebnisse' sind so verheerend.

    Nicht nur J. Butlers Einschätzung, bei Hamas und Hisbollah handle es sich um wichtige Teile der globalen Linken, steht weiter im Raum, sondern auch die feministische Revolution im Iran (gegen ein Regime, das die Auslöschung Israels unverhohlen propagiert) erfährt zu wenig Unterstützung, wenn die Debatte um das Kopftuch - Symbol der Bewegung, dessentwegen Frauen dort ins Koma, in den Tod geprügelt werden - postkolonial als "a constructed discourse used as a pretext to impose a hegemonic secular or imperial Western agenda" verstanden wird is.gd/Yqtgw2

    Es wird eine Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Unterstützung autoritärer Strukturen sichtbar - wie soll denn ein 'Free Palestine' unter der Herrschaft der vom Iran gestützten Hamas aussehen, was für ein Begriff von Freiheit dem zugrundeliegen? -, sie zeigt sich auch etwa in der Restitution der Benin-Bronzen:

    Obwohl afroamerikanische Ak­ti­vis­t:in­nen in den USA, Nachfahren der Opfer des transatlantischen Sklavenhandels, forderten, dass die Restitution der Benin-Kunst gestoppt werde is.gd/hGgTmg , wurde die Sache ungerührt durchgezogen - die Bronzen sind nun wieder in den Händen der Herrscherfamilie, deren Reichtum aus iher Beteiligung am Sklavenhandel stammt: 》Am 23. März 2023 wurden die Eigentumsrechte an den Benin-Bronzen per Erlass des nigerianischen Staatspräsidenten Muhammadu Buhari an den Oba von Benin in Privatbesitz übertragen.《 (Wikipedia)

    Insgesamt wird eine Doppelbödigkeit sichtbar, bei der zwar vordergründig Statuen von Sklavenhändlern in Hafenbecken landen, über den Vorwurf der sozusagen geistigen Kontamination (e.g. I. Kant) aber eigentlich längst als universal anerkannte Werte und Menschenrechte über Bord geworfen werden, Antisemitismus (Hamas), Hass auf Frauen (Iran), Sklaverei (Benin bzw. Nigeria) nichts mehr, jedenfalls nicht prinzipiell, entgegengesetzt wird.

    • @ke1ner:

      Nachtrag

      Der Spiegel berichtet heute: 》Philosophin Judith Butler sieht 7. Oktober als »Akt des bewaffneten Widerstands«

      Judith Butler begründete die Gender Studies. Angegriffen wird die jüdische Philosophin für ihre Kritik an Israel. Nun nannte sie das Massaker vom 7. Oktober einen »Akt des politischen Widerstands«. [...] Judith Butler sagte dem Videoausschnitt zufolge, man könne unterschiedlicher Ansicht über dieHamasund über bewaffneten Widerstand sein. Aber es sei ehrlicher und historisch korrekter zu sagen: »Der Aufstand vom 7. Oktober war ein Akt des bewaffneten Widerstands. Es ist kein terroristischer Angriff, und es ist keine antisemitische Attacke.«

      Sie habe diesen Angriff auf Israelis »nicht gemocht«, habe dies öffentlich geäußert und sich damit Schwierigkeiten eingehandelt, so Butler: »Es war quälend für mich, es war schrecklich.« Doch es habe nicht nur Gewalt gegen Israel gegeben, seit Jahrzehnten geschehe den Palästinensern Gewalt. Insofern habe es sich am 7. Oktober um einen Aufstand aus einer Position der Unterdrückung heraus gegen einen gewalttätigen Staatsapparat gehandelt.《

      is.gd/1UcZFq

      Düzen Tekkal ordnet dies auf Instagram so ein: kein Wort verliert sie verliert sie zur Vergewaltigung als Kriegswaffe oder den Geiseln, die Hamas genommen hat. Der Philosophin habe der Angriff nur nicht gefallen und sie habe Beklemmungen gespürt - sprich: sich irgendwie nicht so ganz wohl dabei gefühlt, das ganze Familien innerhalb weniger Stunden auf bestialische Art und Weise ausgelöscht wurden und Frauen buchstäblich zu Tode vergewaltigt wurden.

      www.instagram.com/...h=MzRlODBiNWFlZA==

      (vgl.a. die Beiträge von Erica Zingher zum Thema hier in der taz: taz.de/!5993867/ ; taz.de/Sexualisier...er-Hamas/!5987483/ ; taz.de/Gewalt-an-Frauen/!5972451/ )

  • Ein toller Artikel, danke!



    man sollte sich ja fortbilden und es freut mich, dies hier zu erfahren und ein paar weiße Flecken auf meiner Gesellschaftslandkarte mit Leben füllen zu können.

  • Wirklicher Antikolonialismus muss nicht nur in der nationalen Befreiung, sondern vor allem in der Unterstützung der fortschrittlichsten Teile der Bevölkerung innerhalb der unterdrückten bzw. kolonisierten Länder bestehen.

    Dass Netanjahu selber indirekt die Hamas gefördert hat, macht es heute so schwierig, einen fortschrittichen Weg aus der Unterdrückung der Palästinenser zu finden.

    Auch in anderen Ländern in Nahost sind islamistische Gruppen durch die USA und westliche Staaten gestärkt worden, seien es Taliban, Al Qaida, der IS oder die Mullahs im Iran.

    Auch die westliche Kooperation mit Rassisten und Faschisten (z.B. Südafrika) hat den antikolonialen Bewegungen geschadet.

    Man muss schon gucken, wen man da unterstützt anstatt vorwiegend geopolitische Interessen zu verfolgen.

    • @Uns Uwe:

      So wie Sie das beschreiben, klingt es ein bisschen paternalistisch.

      Die handelnden Terrorbanden oder Staaten wie der Iran, erscheinen wie Frankensteins Monster.

      Als wäre in dieser Weltregion alles in bester Ordnung, hätte nur der Westen seine Finger bei sich behalten.

      Die Muslimbrüder etwa, die Vorbilder von Hamas und Schlimmeren, wurden 1928 in Ägypten gegründet.

      Da hat der Westen wohl kaum dran gedreht.

      Was ich meine ist, wer sich entschieden hat, ein menschenfeindlicher Islamist zu werden, hat das eben gemacht.

      So wie ein Nazi sich für sein Nazisein entschieden hat.

      Die Welt ist keine Kita.

      • @Jim Hawkins:

        "Paternalismus" ist noch sehr freundlich formuliert.

        Sie sprechen vielmehr den rassistischen Kern vieler sich als "links" verstehender Idologien an.

        Ganz abstrakt wird von dort die Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit der Ethnien negiert. Zu völkisch-rechtem Denken seien "PoC" angeblich garnicht fähig.

        Und konkret geht man genau wie die Rechten von der Überlegenheit der Weißen aus - nur diese hätten angeblich die Mittel und Fähigkeiten zum böswilligen Handeln und daher hat man auch höhere Ansprüchen an die "weißen Staaten" als an deren ehemaligen Kolonien. Das ist chauvinistische Arroganz (wenn es aus dem Westen selbst kommt).

        Auch auf der empirischen Ebene kommt durch diese essentialistische Theorie zu albernen Wirklichkeitsbeschreibungen.



        Iran und Türkei waren zum Beispiel gar keine Kolonien und sind heute (wieder) mächtiger als die meisten europäischen Staaten.

  • Die Postkoloniale Theorie stammt aus dem kalten Krieg und ist daher auch nur ein Instrument das Kampfes gegen westlich-kapitalistische Staaten.

    Aus diesem Grund fordert zum Beispiel kein Postkolonialer von Russland (größtes noch existierendes europäisches Kolonialreich btw!) die Rückgabe Sibiriens an die Indigenen, oder zumindest deren Beteiligung an den Gewinnen aus der Förderung von Bodenschätzen.

    Es kommt auch niemand auf die Idee Türken, Araber und Perser trotz ihrer eindeutigen Vergangenheit als Träger gewaltiger Imperien und sklavenhaltende Kolonialreiche, als "Weiße" zu bezeichnen, obwohl es die Theorie, wenn sie denn unvoreingenommen angewandt werden würde, es eigentlich nahelegen würde.

    Wissenschaftlich und interlektuell ist das alles nicht beeindruckend.

    • @Chris McZott:

      „Die Postkoloniale Theorie stammt aus dem kaltem Krieg und ist daher auch nur ein Instrument das Kampfes gegen westlich-kapitalistische Staaten.“



      Aber DIE postkoloniale Theorie gibt es doch garnicht. Haben Sie den Essay von Jens Kastner denn nicht gelesen?



      Ja, Sie liegen insofern richtig, als dass der russische Imperialismus und seine Folgen eigentlich ebenso in die postkoloniale Kritik einbezogen werden müssten. (Und das passier jetzt möglicherweise, z.B. durch die Neubewertung der ukrainischen Geschichte und Kultur als von Russland eigenständiges Subjekte.) Oder der Expansionsdrang des Osmanischen Reiches oder des Perserreiches. Schon insofern, als dass Putin und Erdogan bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die einstige Größe ihrer Vorgängerimperien abheben.



      Und natürlich: ohne Marxismus und Kapitalismus-Kritik gäbe es wahrscheinlich keine Kritik an (neo)kolonialer Ausbeutung und imperialistischen Expansionismus - möglicherweise auch nicht an dem Russlands. Ist das jetzt so schlecht?

      • @Abdurchdiemitte:

        Wenn das in der postkolonialen Praxis vorurteilsfrei angewandt werden würde, wäre das kein Problem. Ich wäre noch immer kein Freund davon, aber es wäre zumindest kein offensichtlicher Blödsinn.

        Aber leider hängt die praktische Bewertung davon ab, WER agiert selbst wenn das Handeln identisch ist- sind es Staaten wie Frankreich: neokolonial, ist es die Türkei und Co.: antikolonial.

        Die von Ihnen genannte Neubewetung der ukrainischen Geschichte passiert ja gerade NICHT, weil das nicht im Sinne die großen Player das globalen Südens ist.

        Es geht ja sogar soweit, dass man Russland und dessen Verbündeten einfach das kapitalistisch/imperialistisch Sein abspricht.

        Ich meine, eine Theorie mit Definitionen nur nach politischen Großwetterlage kann sich nicht wissenschaftlich nennen:



        "Kolonialismus/Kapitalismus/Imperialismus ist wenn weiße Europäer (Ausnahme: Russland und eventuelle (zukünftige) Verbündete) Dinge tun, die uns nicht gefallen...

        • @Chris McZott:

          Also, erstens beharre ich darauf - dem Essay von Kastner folgend - , dass es sich bei den Postcolonial Studies keineswegs um ein geschlossenes wissenschaftliches Theoriegebäude handelt (sie sind in ihrem Charakter vielmehr interdisziplinär), nicht einmal um einen Ansatz mit einer einheitlich (linken) ideologischen Ausrichtung. Insofern sind die mit den Postcolonial Studies verbundenen Ansätze auch gar nicht so „griffig“ zu kritisieren, wie Sie es tun. Stände ich Ihrem Ansinnen nicht wohlgesonnen gegenüber, würde ich sogar von Strohmann-Argumentation sprechen.



          Und natürlich erleben wir gerade eine Neubewertung der ukrainischen Geschichte - wohinter sich in der vorgetragenen Absolutheit/Rigidität sich sogar einige seriöse geschichtswissenschaftliche Fragezeichen setzen ließen -, was denn sonst? Der gott-gleiche Timothy Snyder z.B. ist doch gegenwärtig in aller Munde, wenn es um das Thema geht. Aber meinetwegen zählen Sie den auch zu den neuen Postkolonialen, damit kann ich gut leben.



          Doktrinär ist das jedenfalls genau so wie die antiimperialistischen Vertreter des Postkolonialismus von links.

  • Danke für diesen kurzen und trotzdem inhalts- und verweisreichen Text. Die Differenzierung, der genaue Blick, der Perspektivwechsel, die Bereitschaft, den Konsens anzustreben und zugleich den Dissens, mit allem Respekt für den Menschen gegenüber, zu akzeptieren, wissenschaftlich sorgfältig und intellektuell redlich zu arbeiten - das vermisse ich bei manchen der Aktivist_innen, die sich, obschon immatrikuliert und sich Studierende nennend, diesem Diskurs verweigern und einem Hass und einer emotionalen wie geistigen Einseitigkeit hingeben, dass es Angst macht, dass es bedrohlich und gefährlich wird bzw. ist. Schade ist das, gelinde gesagt.



    Dass man für Menschenrechte eintreten will und zugleich antisemitisch agiert - das kann so nicht funktionieren, liebe Leute. Die Welt ist komplexer und Israel-Palästina noch viel mehr.



    Der Rest ist nur noch mehr Binsenweisheit...

    Und dass man die rechtsextreme Regierung Israels und ihr Handeln kritisieren muss, steht außer Frage - dass man es differenziert tun kann ohne antisemitische und antozionistische* Sprüche zu brüllen, auch.

    *Dass man die Existenz eines Staates anerkennt, gehört für mich dazu - funktioniert in vielen islamisch-arabischen Staaten leider nicht, da sucht man (die Bezeichnung) "Israel" auf mancher Karte vergebens.

  • Man muss sicher nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, es sind wohl die Schreihälse unter den Postkolonialen, die man am stärksten wahrnimmt. Dabei handelt es sich eher um die schlichteren Gemüter, die diese Theorie dazu nutzen, den Holocaust zu relativieren, Juden als "Weiße" und damit als Unterdrücker beschreiben.

    Mit ihrem dichotomischen Weltbild, das nur Unterdrücker und Unterdrückte kennt, somit Phänomene wie den arabischen Sklavenhandel oder den Terror der Hamas logisch ausblenden muss, basteln sie sich eine kleine Schrebergartenwelt, die spießiger kaum sein könnte.

    Sie sind unfähig zum Diskurs, was eben auch daran liegt, dass sie keine vernünftigen Argumente haben, brüllen ihre Gegner, besser Feinde, nieder und ich hoffe inständig, dass diese bizarre Weltsicht nicht von noch weiteren Teilen der Linken Besitz ergreift.

    Im Friedrichshainer Infoladen Zielona Gora gab es Ende letzten Jahres eine Veranstaltung mit dem Titel: "Leftists and Islamists working together?!" Der eingeladene Referent plädierte für eine derartige, wenn auch temporäre, Zusammenarbeit.

    Die wohl dann ihr Ende findet, wenn die Islamisten die Linken umbringen.