Buch über postmoderne Theorie: Von Paris nach Algier
Der Ideengeschichtler Onur Erdur untersucht in Porträts von Pierre Bourdieu bis Jacques Rancière die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie.
Philosophie, sagt Hegel, ist „ihre Zeit in Gedanken gefasst“. In Gedanken gefasst ist in ihr aber auch das subjektive Erfahrungswissen der Philosophen, und zwar in verallgemeinert Form, ohne dass man die Spuren ihrer Genese noch erkennen könnte. Ein Glück ist es, wenn Ideenhistoriker in der Lage sind, solche profane Entstehungskontexte zu rekonstruieren. Dann kann man „das Werk“ mit anderen Augen lesen.
Onur Erdur: „Schule des Südens“. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 335 Seiten, 28 Euro
Solches ist Onur Erdur, Historiker am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt Universität zu Berlin, gelungen. Er legt in Schule des Südens die kolonialen Wurzeln der sogenannten französischen Theorie frei.
Die philosophischen Strömungen des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus faszinierten in den 1980er und 1990er Jahren in Deutschland zwei Generationen von Studierenden. Dann ebbte die Faszination für Derridada und Lacan ab. Heute aber berufen sich postkoloniale Theorien wieder oft auf Foucaults Diskursanalyse, und zwar ausgehend von Edward Saids „Orientalismus“-These, nach der der Westen den Orient erst konstruiert habe, um ihn zu beherrschen.
Oder die Kritik am Postkolonialismus macht die „französische Theorie“ gleich mitverantwortlich für manichäische Gegenüberstellungen zwischen „dem Westen“ und dem „globalen Süden“ und die Denunzierung der Aufklärung als westliches Herrschaftsmittel.
Biografisch verbunden
Diese Identifizierung – das zeigt Schule des Südens in beeindruckender Weise durch historische Genauigkeit – ist nicht nur vereinfachend, sondern zum Teil grotesk falsch. Allerdings ist es tatsächlich frappierend, wie viele der französischen Philosophen mit den kolonisierten maghrebinischen Ländern biografisch verbunden waren. Der Poststrukturalismus hat nicht nur eine postkoloniale Gegenwart, sondern eine koloniale Vergangenheit.
Pierre Bourdieu zum Beispiel leistete in Algerien während des Dekolonisationskrieges seinen Militärdienst, und zwar in stiller Opposition. Dort wurde er zu einem Linken und betrieb private soziologische Studien, aus denen später seine Sozialtheorie des Habitus entstand.
Lyotards Erfahrungen der „hoffnungslosen Widersprüchlichkeit“, in die er zu Beginn der 1950er Jahre als privilegierter französischer Lehrer im ostalgerischen Constantine geriet, wo er sich für die antikoloniale FLN (Front National Libération) engagierte, steht in Korrespondenz zu seiner Idee der Postmoderne, die von der Skepsis gegen universale Erzählungen geleitet ist, sei es die mission civilisatrice des französischen Kolonialismus, sei es der Marxismus, auf den sich die antikolonialen Bewegungen oft beriefen.
Roland Barthes und Michel Foucault ließen sich vom homoerotischen Orientalismus treiben und hatten während ihrer Zeit in Marokko und Tunesien doch Erleuchtungen, die koloniale Mythen dekonstruierten oder „Heterotopien“, also Gegenräume zur westlichen Zivilisation, entdeckten.
Zwischen den Fronten
Die kolonialen Wurzeln der französischen „Theorie-Generation“ der zwischen 1930 (Pierre Bourdieu) und 1942 (Étienne Balibar) geborenen Intellektuellen werden entlang von Einzelessays erschlossen, in denen jeweils eine Person, ein Ort und ein theoretisches Kristallisationsmoment der kolonialen Situation im Mittelpunkt stehen.
Besonders aufschlussreich sind die Fälle von Jacques Derrida und Hélène Cixous. Beide wuchsen als jüdische Franzosen in Algerien auf, deren Familien während des Weltkriegs von Vichy ausgebürgert wurden und die als Juden immer wieder zwischen die Fronten der kolonialen Situation gerieten. Während des Algerienkrieges übersiedelten sie schließlich in das Land ihrer Muttersprache.
Hier traten die beiden Anfang der 1960er miteinander in Kontakt, ohne dass die geteilten Erfahrungen zunächst eine Rolle spielten. Doch Derridas historisch-politische Allergie gegen „Herden-Identifizierung“ ist zweifelsohne Grundmotiv seiner philosophischen Beschäftigung mit „Identität“.
Cixous avancierte zu einer führenden Figur des Differenzfeminismus. Ihre „Algèriance“ spiegelte sich in der Idee vom „weiblichen Schreiben gegen das phallozentrische System“ wider. Die eine Erfahrung von Anderssein und Exklusion half der anderen, sich zu artikulieren.
Die Theorien der französischen Philosophen entstanden weniger in Pariser Bibliotheken und Denkstuben als in den Straßen von Algier, Oran und Tunis. In Onur Erdurs Buch führt kein Biografismus die Feder, wir lesen keine Genealogie in dem Sinne: Der Philosoph hat sein Konzept schon vorher erlebt, aber doch wird klar, wie biografisch-historisch-politisch auch große Philosophie ist. Diese Reise in die Kolonien der philosophischen Avantgarde ist in seiner Argumentation umsichtig und stilistisch sehr elegant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Bezahlkarte
Hundegulasch und Auslandsüberweisungen
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Nach Recherchen zum Klaasohm-Fest
Ab jetzt Party ohne Prügel
Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Wirbel um Schwangerschaftsabbruch
Abtreiben ist Menschenrecht
Ausstieg aus fossiler Stromerzeugung
Ins Stromnetz müssen 650 Milliarden Euro fließen