Politikerinnen über Diversität: „Das neue deutsche Wir“
Die Politik soll vielfältiger werden, fordern Serpil Midyatli (SPD) und Pegah Edalatian (Grüne). Sie setzen sich dafür über Strategiedebatten hinweg.
taz: Frau Edalatian, Frau Midyatli, Ihre Parteien gelten als sehr weiß. Fühlen Sie sich als Politikerinnen mit Migrationsbiografien bei Grünen und SPD manchmal fremd?
Pegah Edalatian: Als Kind habe ich meinen Vater gefragt, warum ich keinen deutschen Pass habe. Er hat mir erklärt, da ist eine Partei, die neu im hessischen Landtag ist und ein anderes Staatsbürgerschaftsrecht fordert. Das hat mich überzeugt, daher bin ich später bei den Grünen eingetreten und habe mich nie fremd gefühlt. Aber ja, auch bei uns sind Mitglieder mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert. In der Gesellschaft liegt ihr Anteil bei 27 Prozent, unter unseren Mandatsträger*innen nur bei 14,5 und im Bundestag insgesamt bei 11 Prozent. Im Vergleich zu anderen Parteien sind wir schon diverser, aber es gibt Handlungsbedarf.
43, ist Mitglied des Bundesvorstands der Grünen. Ihre Familie stammt aus dem Iran.
Woran liegt das?
48, ist Oppositionsführerin in Schleswig-Holstein und Mitglied des SPD-Bundesvorstands. Ihre Familie stammt aus der Türkei.
Edalatian: Meinem Eindruck nach sind Menschen der zweiten Generation, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben, politisch aktiver als Menschen ohne Migrationshintergrund. Aber sie engagieren sich vor allem zivilgesellschaftlich und fühlen sich von Parteien wenig angesprochen. Das wollen wir ändern.
Wie ist das bei Ihnen, Frau Midyatli?
Serpil Midyatli: Ich bin seit 2000 Sozialdemokratin. Auch bei mir war der Grund das Staatsbürgerschaftsrecht – das war die Zeit, als Roland Koch und die CDU Unterschriften gegen die Türken gesammelt haben. Am Anfang war die SPD schon eine sehr weiße Runde. Wenn man auf Kreisparteitagen in den Raum gekommen ist, haben sich alle umgedreht. Das ist heute definitiv anders. Vielleicht hat das mit meinem Wirken als Landesvorsitzende zu tun: Die Vorbildfunktion führt dazu, dass sich Menschen angesprochen fühlen und mitmachen.
Hat die SPD auch erhoben, wie viele Mitglieder eine Zuwanderungsgeschichte haben?
Midyatli: Nein. Aber ich habe mir einen Überblick über die Landesverbände und Fraktionen verschafft und wir sind ebenfalls deutlich unterrepräsentiert.
Das wollen Sie gemeinsam ändern. Wie?
Midyatli: Auf unterschiedlichen Ebenen. Wenn über die Migrationsgesellschaft gesprochen wird, ist das immer negativ behaftet. Viele Menschen leben aber schon sehr lange hier und sind Teil dieses Landes. Wir sind uns einig: Wir brauchen eine moderne, vielfältigere und der Realität angemessene Erzählung. Deshalb haben wir in einem ersten Schritt all unsere Mandatsträger, Ministerinnen und Minister aus Bund und Ländern zu einem Vernetzungstreffen eingeladen. Wir wollen gemeinsam überlegen, wie wir dieses positive Bild, dieses neue deutsche Wir, gemeinsam vorantreiben können.
Edalatian: Genau. Wenn man über Menschen mit Migrationshintergrund immer so redet, als wären sie ein Problem, dann entfremden sie sich. Dabei müssen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam Herausforderungen meistern, etwa bei Rente, Bildung und Gesundheit.
Sie wollen eine Art umgekehrte Leitkulturdebatte führen?
Diverser wollen sowohl SPD als auch Grüne werden. Beide Parteien haben interne Maßnahmen angestoßen, um unter anderem bei der Herkunft ihrer Mitglieder vielfältiger zu werden.
Vernetzen wollen sich jetzt Politiker*innen mit Migrationsbiografie aus beiden Parteien. Zum Auftakt einer Veranstaltungsreihe treffen sie sich am Donnerstag Abend im Willy-Brandt-Haus.
Ziel der Veranstaltung ist es, in Reaktion auf den Rechtsruck dem Diskurs über Migration einen positiveren Dreh zu verleihen und in der Ampel Projekte gegen Diskriminierung durchzusetzen.
Midyatli: Wir haben bereits eine Leitkultur in Deutschland, das Grundgesetz. Ich halte nichts von einer neuen Debatte in dieser Richtung. Aber wir müssen auch über Rassismus und Ausgrenzung sprechen, die größten Integrationshemmnisse überhaupt. Da kann Ihnen jede Person mit Migrationshintergrund, egal ob Professor oder Reinigungskraft, mehrere Geschichten erzählen. Über diese gemeinsame Erfahrung sind Pegah und ich auch zusammengekommen. Bei unserem Treffen geht es auch um die Projekte, die wir dazu im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Die Ampel muss sie endlich umsetzen.
Edalatian: Wir müssen sicherstellen, dass Menschen mit Migrationshintergrund auch rechtlich besser vor Diskriminierung geschützt werden, zum Beispiel durch die Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Denn Diskriminierung steht gesellschaftlicher Teilhabe im Weg. Wir wollen ein Partizipationsgesetz für mehr Teilhabe und endlich das Demokratiefördergesetz – also eine Verstetigung von Fördergeldern für Vielfaltsprojekte oder Extremismusbekämpfung – verabschieden.
Gibt es auch eine Bringschuld von Menschen, die nach Deutschland einwandern?
Edalatian: Sie sind nicht in der Bringschuld. Aber es ist selbstermächtigend, wenn man für sich selbst einsteht, indem man wählen geht oder sich zur Wahl stellt. Das war für mich ein Grund, Politikerin zu werden: Nicht jemand zu sein, mit dem etwas passiert, sondern mitzugestalten. Das können die Mehrheitsgesellschaft und die Parteien unterstützen.
Wie denn?
Edalatian: Wir haben bei den Grünen seit mehr als drei Jahren ein Vielfaltsstatut mit dem Ziel, die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund und anderen Minderheiten zu verbessern und Wissen über Diskriminierung auf allen Ebenen der Partei zu verankern. Wir ermächtigen Menschen mit Rassismuserfahrung in unserer Partei mit Weiterbildungen und Vernetzungstreffen gezielt dazu, sich einzubringen. Die Förderung von Selbstvertretungen und Netzwerken ist dabei enorm wichtig.
Midyatli: Bei uns geht es zunächst einmal darum, wie wir Menschen ansprechen und wie wir zum Beispiel Wahlkämpfe organisieren. Wir dürfen nicht in Wir und Ihr denken, sondern müssen die ganze Gesellschaft von Anfang an mitdenken.
Welche Barrieren halten Menschen mit Migrationshintergrund von politischem Engagement ab?
Edalatian: Sprache ist ein Thema bei Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben. Und dann ist es auch eine Frage von Ressourcen. Menschen mit Migrationshintergrund müssen in ihrem Leben mehr Barrieren überwinden – das gilt übrigens auch für Alleinerziehende oder Menschen mit chronischen Krankheiten. Das kostet Kraft. Ich selbst hatte das Gefühl, erstmal eigene Baustellen bearbeiten zu müssen, wie zum Beispiel Studium und Job, bevor ich Parteimitglied wurde. Vielleicht einer der Gründe, warum ich auch nicht in der Grünen Jugend war.
Midyatli: Jetzt, wo du es sagst: Ich war auch nicht bei den Jusos.
Sind in solchen Fragen nicht Faktoren wie Einkommen und Bildungsstand ein größeres Hemmnis als der Migrationshintergrund?
Midyatli: Die soziale Herkunft ist natürlich eines der größten Hindernisse und der gesellschaftliche Aufstieg ist generell schwierig. Meine Eltern waren beide lange Zeit Analphabeten und allein dadurch hatte ich weniger Chancen als andere. Der Migrationshintergrund macht es dann aber noch mal schwieriger, nach oben zu kommen. Der Rucksack, den man mit sich rumschleppt, ist mit noch mehr Ziegelsteinen gefüllt.
Edalatian: Die deutsche Politik hat ein Klassismusproblem. Die Mehrheit der Deutschen hat keinen akademischen Abschluss. Im Bundestag ist diese Gruppe aber nur sehr begrenzt vertreten. Da ist eine krasse Lücke. Menschen mit Migrationshintergrund, die aus der Arbeiterschicht kommen, sind damit doppelt diskriminiert. Umgekehrt heißt das: Wenn man die Klassenfrage angeht, adressiert man auch viele, die einen Migrationshintergrund haben.
Im Kampf um die Vorherrschaft in der linken Mitte beobachten wir zwischen SPD und Grünen oft Konkurrenzverhalten. Setzen Sie sich mit Ihrer Zusammenarbeit über die Strategien Ihrer Parteien hinweg?
Edalatian: Der Rechtsruck macht es notwendig, dass wir über Parteigrenzen hinaus zusammenarbeiten. Ein Zeichen zu setzen, ist wichtiger als die übliche Konkurrenz.
Warum machen Sie dann nicht gleich eine Ampel-Veranstaltung daraus?
Edalatian: Die FDP war herzlich eingeladen, sie konnte es aber nicht einrichten. Ich hoffe, dass sie beim nächsten Mal dazukommen.
Die wollten sich so kurz vor ihrem Parteitag wohl nicht mit Roten und Grünen sehen lassen.
Midyatli: Es liegt wahrscheinlich eher daran, dass vor einem Bundesparteitag immer viel zu tun ist.
Die Politik der Ampel verschafft Ihren Anliegen Gegenwind. Die Verschärfung des Asylrechts hat bei den Grünen zu Austritten von Menschen mit Fluchterfahrung geführt.
Edalatian: Als Sprecherin für Vielfaltspolitik bedauere ich solche Austritte. Ich bin aber froh, dass der Kontakt weiter besteht. Menschen mit Migrationshintergrund sind sehr heterogen, die Reaktionen auf die Verschärfung waren sehr unterschiedlich. Letztlich sind wir da aber wieder an einem entscheidenden Punkt: Wir wollen wieder eine gesellschaftliche Debatte, die sich positiv über die Einwanderungsgesellschaft unterhält und Migration nicht nur als Konfliktthema betrachtet.
Frau Midyatli, Sie nicken. Wie sehr hat es Sie geärgert, dass ausgerechnet ein sozialdemokratischer Kanzler letztes Jahr gesagt hat, man müsse endlich im großen Stil abschieben?
Midyatli: Das hat mich sehr geärgert und das habe ich Olaf Scholz deutlich gesagt. Die Menschen, die abgeschoben werden müssen, sind ja nur eine kleine Gruppe. Demgegenüber stehen die Millionen Menschen, die teils schon in dritter Generation sind, aber nicht gesehen werden. Das regt uns und viele aus den Communities so auf. Die haben das Gefühl, dass sich die Politik immer nur mit einer Gruppe beschäftigt und dabei auch noch ihren Ton immer weiter verschärft.
Haben Sie das Gefühl, ihre Kritik am Kanzler hat gewirkt?
Midyatli: Olaf Scholz hat es nicht noch mal wiederholt.
Welche Anliegen begegnen Ihnen sonst häufig, wenn Sie als Politikerinnen mit Menschen mit Migrationshintergrund sprechen?
Midyatli: Oft geht es gar nicht um Migrationspolitik im engeren Sinne, sondern um andere Themen, die diese Menschen aber auch stark betreffen. Viele Menschen mit Migrationshintergrund haben zum Beispiel vom Mindestlohn profitiert. Andere Anliegen sind bezahlbarer Wohnraum, gute Verkehrsverbindungen oder genügend Lehrkräfte für die Schulen.
In einigen migrantischen Communities gibt es aktuell Unverständnis über die deutsche Nahost-Politik und die Israel-Solidarität der Bundesregierung. Wie sehr schadet das Ihrem Anliegen, Menschen mit Migrationshintergrund stärker für Ihre Parteien zu mobilisieren?
Edalatian: Es schadet nicht meinen Anliegen. Es ist aber offensichtlich, dass wir einen Raum schaffen müssen, um als Demokrat*innen die unterschiedlichen Wahrnehmungen zu klären. Ich habe den Eindruck, dass oft in unserer Gesellschaft über die Menschen geredet wird, aber es wenig Platz gibt, um miteinander zu reden.
Midyatli: In den Dialog zu gehen, ist ja generell die Aufgabe der Politik. Ich sage aber auch ganz klar, dass bei uns in der SPD auch nicht jeder herzlich willkommen ist. Man muss schon unsere Werte teilen. Für mich kommt zuerst, Sozialdemokratin zu sein, und dann, den Migrationshintergrund zu haben. Wem unsere Positionen zu bestimmten Themen überhaupt nicht passen, der muss sich eben nach anderen Parteien umsehen. Vielleicht wäre es ohnehin am schönsten, wenn sich die Menschen mit Migrationshintergrund gleichmäßig auf alle demokratischen Parteien verteilen. Dann würde man sehen, wie vielfältig die Migrationsgesellschaft ist und wie absurd Schubladendenken ist.
Im nächsten Bundestagswahlkampf werden die Parteien voraussichtlich wieder keine Kanzlerkandidat*innen mit Migrationsgeschichte aufstellen. Ist die Zeit dafür noch nicht reif?
Edalatian: Die Zeit ist immer reif und irgendwann wird Deutschland auch eine Kanzlerin oder einen Kanzler mit Migrationshintergrund haben.
Und wann ist die SPD bereit dafür?
Midyatli: Für uns stellt sich die Frage für die nächste Bundestagswahl nicht, weil wir einen Kanzler haben.
Und für die übernächste?
Edalatian: Vielleicht ist Serpil dann ja die SPD-Kandidatin. Das wäre schön.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen