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Parlamentspräsident hört auf„Schon ein paar schlaflose Nächte“

Ralf Wieland (SPD) war zehn Jahre lang Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Nun hört er auf. Ein Rückblick im Interview.

Ist bald nur noch als Büste im Parlament vertreten: Ralf Wieland (SPD) Foto: Ksenia Les
Interview von Stefan Alberti

taz: Herr Wieland, das Ende Ihrer Zeit als Parlamentspräsident fällt ausgerechnet mit dem bislang weitreichendsten Volksentscheid Berlins zusammen. Hat da die direkte gegen die parlamentarische Demokratie gewonnen?

Ralf Wieland: Ich glaube nicht, dass man in dem Zusammenhang von Gewinnern und Verlierern reden kann. Wir haben jetzt einerseits ein Ergebnis, dass der Senat ein Enteignungsgesetz vorlegen soll. Auf der anderen Seite haben wir ein frisch gewähltes Parlament, wo vier von sechs Parteien vorher erklärt haben, dass sie gegen diese Enteignung sind. Bei einer Partei, den Grünen, haben wir ein fast sozialdemokratisches Sowohl-als-auch und bei der Linkspartei klare Unterstützung für den Volksentscheid. Wie man das umsetzen will, weiß ich nicht.

Ralf Wieland

1956 in Wilhelmshaven geboren, gelernter Speditionskaufmann und seit 1973 Mitglied der SPD, war zehn Jahre lang Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Von 1999 bis 2004 war er Landesgeschäftsführer der Berliner SPD, von 2004 bis 2011 auch Vorsitzender des AGH-Hauptausschusses.

Ist das eine Schwäche des Verfahrens der Volksgesetzgebung, dass nicht zwingend ein Gesetzentwurf zur Abstimmung vorzulegen ist?

Ja, das ist eben der große Nachteil. Beim Volksentscheid 2014, das Tempelhofer Feld nicht zu bebauen, gab es dafür keine parlamentarische Mehrheit – aber weil das Volk dem Gesetzentwurf direkt zugestimmt hat, brauchte sich das Parlament damit gar nicht zu beschäftigen. Ich als Präsident musste das Gesetz nur formal ausfertigen, der Regierende Bürgermeister musste es veröffentlichen, dann galt es. Jetzt aber ist es wie beim Volksentscheid zur Offenhaltung von Tegel 2016: Es ist bloß eine Aufforderung beschlossen worden.

Und, wird etwas passieren?

Ich sehe das Hauptproblem in der Frage, ob das Land Berlin einen Grundgesetzartikel, den es ja so in unserer Landesverfassung gar nicht gibt, auf Landesebene herunterziehen kann.

Sie meinen, wie beim Mietendeckel: Ist Berlin überhaupt zuständig?

So ist es. Und dann auch noch mit diesen Eckdaten, vor allem der Grenze von 3.000 Wohnungen. Da muss man genau schauen: Haben diese Unternehmen ihren Sitz in Berlin? Hätten wir darauf überhaupt Zugriff? Womit ist die Grenzziehung begründet – warum enteignen ab 3.000 Wohnungen und nicht ab 1.500 oder 4.168? Das muss ich doch vor Gericht begründen können. Mit einem fertigen Gesetzentwurf wäre das ziemlich schnell gegangen: Da hätten die Betroffenen sofort geklagt, und das wäre gleich bei Gericht gewesen.

Und nun?

Jetzt wird das ja viel, viel länger dauern, weil es erst mal einen verfassungskonformen Entwurf geben muss.

Für wann erwarten Sie den?

Da werden bestimmt anderthalb bis zwei Jahre ins Land gehen. Und nochmal: Das Ergebnis des Volksentscheid kann zwar den Senat zwingen, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Aber es kann frei gewählte Abgeordnete nicht zwingen, diesem Entwurf zuzustimmen. Auch wenn manche so argumentieren: Rechtlich ist ein Volksentscheid nicht gewichtiger als ein vom Parlament beschlossenes Gesetz. Das Berliner Verfassungsgericht hat eindeutig erklärt, dass beide auf Augenhöhe nebeneinander stehen.

In Ihnen steckt ja trotz 10 Jahren als Präsident auch der langjährige Chef des Hauptausschusses, wichtigster Finanzpolitiker im Abgeordnetenhaus. Was sagt der zu der Sache?

Der sagt, dass bei diesen Riesensummen, die da im Gespräch sind, 30 Milliarden und mehr, oft die Schuldenbremse vergessen wird.

Laut Initiative soll es ja ganz ohne Geld aus dem Haushalt gehen.

Das wird sich zeigen. Aber der Haushalt ist das eine, das andere ist das Grundsätzliche, ob eine Enteignung überhaupt rechtmäßig wäre und wann denn ein Eigentümerwechsel vollzogen würde. 2028? 2030? Oder vielleicht doch erst 2035?

Sie könnten jetzt mit der Forderung, aus dem Amt gehen, dass ein Gesetzentwurf zwingend Teil eines Volksbegehrens sein muss.

Es wäre besser. Aber andererseits gibt es ja auch Fragen, die nicht ein Gesetz voraussetzen.

Wie bei der Abstimmung über die Offenlegung der Teilverkaufsverträge bei den Wasserbetrieben im Jahr 2010.

„Das Abgeordnetenhaus kann jeden Volksentscheid mit einfacher Mehrheit wieder kippen“

Was dabei ja auch einige vergessen: Das Abgeordnetenhaus kann jeden Volksentscheid mit einfacher Mehrheit wieder kippen…

ungeschriebenes Gesetz aber war, dass das nicht in der derselben Wahlperiode passieren darf.

Das ist ja auch sinnvoll. Jetzt ging das ja im Wahlkampf noch einen Schritt weiter: Da haben viele gesagt, dass eine Bebauung am Tempelhofer Feld nur nach einem neuen Volksentscheid möglich sein soll.

Die CDU hat in ihrem Wahlprogramm etwas von einer Volksbefragung geschrieben..

… die es in unserer Berliner Verfassung gar nicht gibt.

Wären Sie für so etwas? Der frühere Regierungschef Klaus Wowereit hatte das mal gefordert, um Dinge – etwa eine Olympia-Bewerbung – vorab klären zu können, bevor sich Fronten verhärten. Grüne und Linkspartei lehnen das als Demokratie von oben ab.

Da gibt es auch bei mir Bedenken. Denn das ist auch nicht ganz ungefährlich: So etwas könnte von einem Senat genutzt werden, um sozusagen am Parlament vorbei zu regieren. Aber da schlagen zwei Herzen meiner Brust, denn es gibt ja gute Argumente dafür, etwas vorab klären zu können. Etwa eine Bewerbung für die Olympischen Spiele können Sie nicht angehen, ohne dass Sie sich vorher bei der Bevölkerung dafür grünes Licht geholt haben. Sonst fangen die Gegner sofort an, Unterschriften dagegen zu sammeln für einen Volksentscheid – der aber möglicherweise erst zwei Jahre später kommt, wenn die Sache weit fortgeschritten ist. Wenn eine Volksbefragung durchgeführt werden soll, dann nur mit 2/3-Mehrheit im Parlament.

Nach zehn Jahren zurückschauend: Was war das prägendste Erlebnis Ihrer Präsidentschaft?

Das waren ganz klar die vergangenen anderthalb Jahre der Coronapandemie. Die große Aufgabe war, die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses mit dem Gesundheitsschutz zusammenzubringen. Anfangs waren die Parlamente nicht so im Fokus. Aber aus der viel zitierten Stunde der Exekutive wurden ja Wochen und Monate – und irgendwann war nicht nur in Berlin, sondern auch im Bundestag und in anderen Ländern klar: Wenn man eine Akzeptanz in der Bevölkerung für die ganzen Coronamaßnahmen sicherstellen will, dann muss man jetzt auch das Parlament wieder mit ins Spiel bringen.

Von einem verkleinerten Notparlament war mal die Rede, es gab hybride Ausschusssitzungen mit Abgeordneten im Saal und zu Hause am Computer und immer neue Einschätzungen zur Ansteckungsgefahr.

Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mich mit über 60 Jahren noch mal mit dem Thema beschäftigen muss, was eigentlich Aerosole sind.

„Wir hatten sowohl bei den Abgeordneten als auch in der Verwaltung und bei den Mitarbeitern der Fraktion Infektionen, auch schwere Erkrankungen“

Wie sind Sie da durchgekommen?

Wir hatten sowohl bei den Abgeordneten als auch in der Verwaltung und bei den Mitarbeitern der Fraktion Infektionen, auch schwere Erkrankungen. Wir haben aber niemanden verloren. Das hätte mich auch sehr belastet, denn ich hatte ja eine Verantwortung für diese Menschen, die mir anvertraut waren. Und ich gebe zu, ich hatte schon ein paar schlaflose Nächte.

Ihre zweite Amtszeit ab 2016 war auch vom Einzug der AfD geprägt, die einen raueren Ton ins Parlament brachte. Aber manche aus anderen Fraktionen scheinen sich da anzugleichen: In Ihrer letzten Plenarsitzung belegte ein SPDler einen Rechtsaußen-Abgeordneten mit dem Begriff „Arsch“.

Die AfD hat tatsächlich dazu beigetragen, dass der Ton rauer wurde, und nicht immer hat die andere Seite adäquat darauf reagiert.

Die zentrale Frage ist ja: Ab wann schreitet man ein?

Ich vergleiche das immer mit Fußball-Schiedsrichtern. Die müssen irgendwann spüren, dass sie eingreifen müssen, weil ihnen sonst das Spiel entgleitet. Im Hinterkopf hat man bei Ermahnungen und Ordnungsrufen auch, dass Betroffene dagegen klagen können und sagen: Das ist Meinungsfreiheit. Noch heikler wäre es, Abgeordnete wegen einer Äußerung auszuschließen. Das muss gerichtsfest sein.

Wird sich dieses Niveau noch mal zurückdrehen lassen? In der fast halbierten AfD-Fraktion sind einige der schlimmsten Zwischenrufer nicht mehr drin.

Das bleibt abzuwarten.

Dass Sie 1973 schon mit 16 in die SPD eingetreten sind, dürfte viel mit einer bestimmten Person zu tun haben – wir sitzen hier in Ihrem Büro ja vor einer Willy-Brandt-Statue.

Eindrucksvoll, oder? Das war ja die Zeit mit der Debatte um die Ostverträge, mit dem „Willy wählen“-Wahlkampf von 1972. Da gab es ein zum Teil vergiftetes Klima und eine wahnsinnige Polarisierung der Gesellschaft. Das hat man sogar auf dem Dorf in der Nähe von Trier mitgekriegt, in dem ich damals lebte. Außerdem, und das wird heute oft vergessen, war die sozialliberale Koalition eine Koalition der Modernisierung: von der Absenkung der Volljährigkeit über den Abtreibungsparagrafen 218 bis zur betrieblichen Mitbestimmung. Das alles waren Gründe für mich, mich politisch zu engagieren und in die SPD einzutreten.

Mit 16 wegen Willy Brandt in die SPD – was würde Sie heute mit 64 in Ihre Partei ziehen?

Das sind nach wie vor unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und das Ziel, einen Ausgleich in der Gesellschaft zu finden und Chancengleichheit herzustellen. Das sehe ich auch heute so in keiner anderen Partei.

Zu Ihrer Bilanz gehört ja auch, dass aus dem Teilzeit- ein Vollzeitparlament geworden ist, was Ihr Vorgänger, Walter Momper, abgelehnt hatte.

Ja, er gehörte zu denen, die befürchteten, dass die Verbindung zur Wirtschaft und zum Arbeitsleben abbrechen würde. Diese Verbindung ist nicht unwichtig. Aber sie war schon immer eine Fiktion: Wer sein Mandat richtig wahrnahm, der konnte meist nur dann nebenher noch berufstätig sein, wenn er selbstständig war und seine Zeit frei einteilen konnte, beispielsweise als Anwalt. Eine Verkäuferin im Einzelhandel konnte das nicht. Im Ergebnis waren viele Vollzeit-Parlamentarier, wurden aber nach Teilzeit bezahlt. Und was noch gravierender war: Es gab auch nur eine Teilzeit-Ausstattung, was Mitarbeiter und Büros angeht.

In einem Punkt haben Sie sich nicht durchsetzen können: Sie wollten damit einhergehend auch eine Verkleinerung des Parlaments.

Ich wäre dafür gewesen, in die Verfassung als Grundgröße 100 oder 110 Mandate statt 130 aufzunehmen. Dafür habe ich immer geworben, bin aber auch bei sehr fortschrittlichen Leuten auf Widerstand gestoßen.

Was ist das eigentlich für ein Gefühl, dieses Gebäude zu verlassen und zu wissen: Da steht jetzt bald eine Büste und erinnert noch zu meinen Lebzeiten an mich als Präsident?

Ich gebe zu, dass mich dieser Gedanke schon mehrmals beschäftigt hat und ich immer zugesehen habe, ihn schnell wieder zu verdrängen. So richtig kann ich mir das noch nicht vorstellen, weil so eine Büste ja normalerweise etwas ist, was historisch ganz weit nach hinten weist. Also, es fühlt sich ein bisschen komisch an.

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