Oberbürgermeister zur Flüchtlingspolitik: „Wir können nicht mehr helfen“
Das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ ist mit der solidarischen Aufnahme von Geflüchteten an der Belastungsgrenze, sagt Potsdams Oberbürgermeister.
taz: Herr Schubert, vor dem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt ist keine Einigung in Sicht: Länder und Kommunen wollen mehr Geld, der Bund will nicht mehr zahlen. Wie diskutieren Sie im Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ die aktuelle Lage?
Mike Schubert: Unser Bündnis mit seinen aktuell 121 Mitgliedern versteht sich als Wertegemeinschaft mit der grundsätzlichen Bereitschaft, Menschen aufzunehmen, die aus Seenot gerettet wurden oder in überfüllten Lagern an den EU-Außengrenzen stranden. Und zwar auch zusätzlich zu den regulären Verteilungsschlüsseln. Zu dieser Haltung stehen wir: Wer Platz hat, soll mehr aufnehmen dürfen. Allerdings gibt es selbst in unserem Bündnis so gut wie keine Stadt mehr, die sagt: Ich könnte.
Ist die Lage tatsächlich so prekär?
Die solidarische Aufnahme ist die Gründungs-DNA unseres Bündnisses. Die aktuelle Situation ist deshalb äußerst schwierig für uns. Wir haben gesagt, dass wir helfen wollen, und müssen jetzt feststellen: Wir können es nicht mehr. Leider kommt das nicht ganz überraschend.
50 Jahre, ist seit 2018 Oberbürgermeister der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam. Der SPD-Politiker koordiniert das 2019 gegründete Bündnis „Städte Sicherer Häfen“.
Die Überlastung hat sich angekündigt?
Bund und Länder haben seit den großen Fluchtbewegungen der Jahre 2015/16 keine Lösungen gefunden. Die Kommunen und auch unser Bündnis rufen seit Jahren nach gerechten Verteilungsschlüsseln und nach Unterstützung für echte Integrationsarbeit. Aber wir müssen das vom Katzentisch aus tun. Im Kanzleramt treffen sich der Bundeskanzler und die Länderchefs. Die kommunalen Spitzenverbände sitzen wieder nicht direkt am Tisch. Dabei kommen doch hier in den Kommunen die Menschen an, hier bauen sie sich eine neue Heimat auf.
Was erwarten Sie von dem Treffen?
Ich bin ehrlich gesagt ernüchtert, wie beide Seiten sich seit Tagen um die Ohren hauen, wer schon wie viel bezahlt hat. Wir brauchen pragmatische Lösungen. Ich fürchte, dass es wieder keine Einigung geben wird. Die Sache wird vertagt, und wir verlieren wieder Wochen. Auf Bund-Länder-Ebene wirkt das Thema noch ziemlich abstrakt. Bei uns vor Ort ist es schon seit Monaten sehr konkret und ernst.
Können Sie das erläutern?
Nehmen wir Potsdam: Von 2013 bis 2021 haben wir insgesamt 3.250 Geflüchtete aufgenommen. Allein im Jahr 2022 waren es 2.700. Das ist eine Verzehnfachung im Vergleich zum Vorjahr. Im April dieses Jahres hatten wir noch 500 freie Plätze – rechnen aber gleichzeitig mit 1.500 Menschen, die uns noch zugewiesen werden. Gerade stellen wir Container auf. Wir wollen keine Turnhallen fremd nutzen.
Wie reagieren die Menschen?
Allein in den vergangenen Wochen haben wir auf sechs Bürgerversammlungen über Standorte für neue Unterkünfte informiert. Die Menschen haben natürlich Fragen: Wie soll das funktionieren mit Kita, Schule und so weiter. Ich kann für Potsdam sagen: Die Diskussion ist ganz überwiegend geprägt vom Wunsch, gemeinsam Lösungen zu finden. Aber wir kommen mit unseren kommunalen Haushalten an Grenzen. Umso problematischer ist, dass die Debatte sich gerade ausschließlich um Unterkünfte dreht.
Wieso?
Weil damit noch lange keine Integration gelingt. Was ist mit den Kosten, wenn eine halbe Schulklasse mehr gebraucht wird, oder eine neue Gruppe in der Kita? Das hängt alles an den Kommunen.
Die Organisation Seebrücke kritisiert, unionsgeführte Bundesländer würden das Engagement vieler Kommunen „strategisch“ ausblenden, „um ihre eigene Abschottungsagenda voranzutreiben“. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe durchaus viel Einigkeit quer durch die Parteienlandschaft der Länderchefs. Wir stehen nachdrücklich zum zivilgesellschaftlichen Engagement der Seebrücke: Niemand soll gezwungen sein, auf der Flucht über das Mittelmeer sein Leben zu riskieren. Allein in diesem Jahr sind schon 600 Menschen zu Tode gekommen. Als Oberbürgermeister in Potsdam stelle ich mich entschieden gegen die Legenden von irgendwelchen Pull-Faktoren. Aber im Bündnis lassen wir parteipolitische Differenzen außen vor. Wir haben eine große Aufgabe zu bewältigen, das schaffen wir nicht in der Konfrontation. Deswegen wirken wir zusammen, egal, wer welches Parteibuch hat.
Deutschland will sich auf EU-Ebene für Ankunftszentren an den Außengrenzen und eine freiwillige Verteilung einsetzen. Richtig so?
Als Bündnis werben wir seit unserer Gründung für eine solidarische Verteilung und gemeinsame Standards in Europa. Ich persönlich sehe aber nicht, warum wir gerade jetzt weiterkommen sollten. Wir erleben die gleiche Diskussion zum zwanzigsten Mal. Deswegen befasse ich mich mit diesen Plänen nur beschränkt. Ich bin da durchaus desillusioniert – wäre aber froh, wenn man mich an der Stelle positiv überrascht.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören