Neuwahlen in Frankreich: Erst Cohabitation, dann Abgrund?
Nach der Europawahl entschied der französische Präsident Parlamentsneuwahlen auszurufen. Damit kann Macron Türöffner für die extreme Rechte werden.
Am Abend der Europawahl sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: „Es ist besser Geschichte zu schreiben, als sie zu ertragen.“ Kurz zuvor hatte er die Nationalversammlung aufgelöst und Parlamentswahlen für den 30. Juni und 7. Juli angesetzt – eine Reaktion auf die Wahlergebnisse. Magere 14,6 Prozent seiner zentristischen Partei Renaissance stehen 31,3 Prozent des rechtsextremen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen gegenüber, Éric Zemmours ultrarechte Truppe Reconquête kam auf 5,4 Prozent. Das linke Lager verbucht 30 Prozent.
Vielleicht wird Macron, dessen Mandat 2027 ausläuft, Geschichte schreiben, aber anders, als er sich das vorstellt. Anstatt den Aufstieg extremistischer Kräfte zu stoppen, läuft er Gefahr, mit seiner Kamikaze-Aktion deren Türöffner zu werden. Jüngste Umfragen sehen den RN bei 33,3 Prozent. Das könnte reichen, um den nächsten Regierungschef zu stellen – die Besonderheiten des französischen Mehrheitswahlrechts, bisher noch ein Bollwerk gegen einen rechten Durchmarsch, machen es möglich. Erreicht kein*e Kandidat*in im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit, sehen sich alle Konkurrent*innen, die mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erreicht haben, in der zweiten Runde wieder.
Sollten die Prognosen zutreffen, käme es zu einer Kohabitation. Diese Zwangsehe spannt einen Präsidenten und eine Regierung unterschiedlicher politischer Couleur zusammen. Das gab es in der Geschichte der V. Republik bisher dreimal.
Von 1986 bis 1988 regierte der sozialistische Staatspräsident François Mitterrand mit einer Mitte-rechts-Mehrheit unter Jacques Chirac. In seinen letzten zwei Amtsjahren „kohabitierte“ Mitterand mit dem Gaullisten Édouard Balladur. Ab 1997 hatte Chirac, nun selbst Präsident, ein Déjà-vu: Ihm stand als Premier der Sozialist Lionel Jospin gegenüber. Über welche Machtfülle der Regierungschef verfügt, zeigt sich an der 35-Stunden-Woche, der allgemeinen Krankenversicherung oder der eingetragenen Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare, die unter Jospin eingeführt wurden – gegen den Willen von Chirac.
Neuwahlen sind nur alle zwölf Monate möglich
Der stieß im Jahr 2000 ob seines Erfahrungsschatzes mit der Kohabitation eine Verfassungsreform an: Die Amtszeit des Präsidenten wurde von sieben auf fünf Jahre verkürzt und so mit der Legislaturperiode der Nationalversammlung harmonisiert. In der Regel finden die Parlamentswahlen im Nachgang zur Präsidentschaftswahl statt. Aber keine Regel ohne Ausnahme, wie die jüngsten Ereignisse zeigen. Diese könnten jedoch in einer Art Ausnahmezustand münden, sollte der neue Premier Jordan Bardella, Shootingstar des RN, heißen und der RN vielleicht eine absolute Mehrheit einfahren.
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Macron wäre in dem Fall nicht aller Kompetenzen beraubt. Aber Neuwahlen kann er nur alle zwölf Monate ansetzen. Bliebe noch die Möglichkeit, Dekreten die Unterschrift zu verweigern. Hier käme der berühmt-berüchtigte Artikel 49.3 zur Anwendung. Mit dem kann die Regierung ein Gesetz ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung bringen, riskiert damit aber, über ein Misstrauensvotum zu stürzen – was aber noch nie vorkam. Dank dieses Artikels brachte die Regierung 2023 eine umstrittene Rentenreform durch.
Dieses „Schwert“ könnte sich gegen Macron selbst wenden. Bei der Präsidentenwahl 2002 stellte sich eine republikanische Front hinter Chirac, um Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Ob das nun wieder gelingt, ist fraglich. „Macrons Zockerei könnte das Chaos in Frankreich noch schlimmer machen, schreibt die Le-Monde-Kolumnistin Sylvie Kauffmann. „Das beraubt Europa einer führenden, kreativen Stimme, die doch gerade in Kriegszeiten so bitter nötig ist.“
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